Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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7.

Allan betrat das kalte Beratungszimmer der Station, für gewöhnlich ein Wartsaal.

Auf den Baustellen gab es weder Zeremoniell noch Formalitäten. Niemand fiel es ein, den Hut abzunehmen oder sich irgendwie stören zu lassen. Heute aber verstummten augenblicklich die erregten Gespräche, und jene, die die Müdigkeit in einen Stuhl geworfen hatte, erhoben sich.

Harriman ging Allan mit verstörtem, erschöpftem Gesicht entgegen.

»Allan –?« sagte er, lallend wie ein Betrunkener.

Aber Allan unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Später, Harriman.«

Er ließ sich aus der Kantine eine Tasse Kaffee bringen, und während er den Kaffee schlürfte, hörte er den Rapport der einzelnen Ingenieure an.

Er saß mit geducktem Kopf, sprungbereit, sah niemand an und schien kaum zuzuhören. Sein Gesicht war wie erstarrt vor Kälte, farblos, die Lippen bläulich angelaufen und weiß an den Rändern. Die bleigrauen Lider waren über die Augen gesunken, das rechte, das zuweilen nervös vibrierte, tiefer als das linke. Seine Augen aber hatten keinen menschlichen Blick mehr. Sie sahen aus wie Glasscherben, die böse glitzerten. Manchmal zitterten auch seine unrasierten Wangen und seine Lippen bewegten sich, als 234 zerbeiße er Körner zwischen den Zähnen. Bei jedem Atemzug zuckten seine Nasenflügel, obgleich er lautlos atmete.

»Es steht also fest, daß Bärmann erschossen wurde?«

»Ja.«

»Und von Hobby hat man nichts gehört?«

»Nein. Aber man sah, daß er zum Vortrieb fuhr.«

Allan nickte und öffnete den Mund, als müsse er gähnen. Go on!«

Der Tunnel war bis zum 340. Kilometer vollkommen in Ordnung und die von Ingenieuren bedienten Maschinen im Gang. Robinson, der die Rettungszüge führte, hatte telephoniert, daß der Rauch ein Vordringen über den 370. Kilometer hinaus unmöglich machte. Er kehre mit 152 Geretteten zurück.

»Wieviele sind demnach tot?«

»Nach den Kontrollmarken müssen es ungefähr 2900 sein.«

Lange, tiefe Pause.

Allans blaue Lippen zuckten, als kämpfe er gegen ein krampfhaftes Weinen. Er senkte den Kopf tiefer und schlürfte gierig den Kaffee.

»Allan!« schluchzte Harriman.

Aber Allan sah ihn erstaunt und kühl an »Go on!«

Robinson habe ferner telephoniert, daß Smith, der in der Station am 352. Kilometer arbeite, behaupte, es müsse tiefer drinnen eine Luftpumpe arbeiten, die telephonische Verbindung sei aber gestört.

Allan sah auf. »Hobby?« dachte er. Aber er wagte es nicht, diese Hoffnung auszusprechen.

Dann kam Allan auf die Ereignisse über Tag zu sprechen. Harriman spielte keine glänzende Rolle. Müde, den schmerzenden Kopf in die Hand gestützt, saß er da, ohne einen Blick in den verquollenen Augen.

Als aber die Ausschreitungen und Zerstörungen erörtert 235 wurden, wandte sich Allan mit einem plötzlichen Ruck an Harriman.

»Und wo waren Sie denn, Harriman?« fragte er schneidend und voller Verachtung.

Harriman zuckte zusammen und hob die schweren Lider.

»Glauben Sie mir, Allan,« schrie er erregt, »ich tat, was ich tun konnte! Ich versuchte alles. Ich konnte doch nicht etwa schießen!«

»Das sagen Sie!« rief Allan und seine Stimme wurde drohender. »Sie hätten sich den rabiaten Leuten entgegenwerfen müssen, wenn sie Ihnen auch ein paar Löcher in den Kopf geworfen hätten. Sie haben doch Fäuste – oder? Sie hätten auch schießen können – ja, zum Teufel, weshalb nicht? Ihre Ingenieure standen da, Sie hatten nur zu befehlen.«

Harriman wurde purpurrot. Sein dicker Nacken schwoll an. Der drohende Ton Allans ging ihm ins Blut. »Was reden Sie, Allan!« erwiderte er aufgebracht. »Sie haben die Leute nicht gesehen, Sie waren nicht hier.«

»Ich war nicht hier, leider! Ich habe geglaubt, mich auf Sie verlassen zu können. Ich habe mich getäuscht! Sie werden alt, Harriman! Alt! Ich brauche Sie nicht mehr. Gehen Sie in die Hölle!«

Harriman fuhr auf und stellte die roten Fäuste auf den Tisch.

»Ja, gehen Sie in die Hölle!« schrie Allan nochmals brutal.

Harriman wurde weiß bis in die Lippen und starrte konsterniert in Allans Augen. Diese Augen blendeten vor Verachtung, Unbarmherzigkeit und Brutalität. »Sir!« keuchte er und richtete sich tief beleidigt auf.

Da sprang auch Allan auf und pochte mit den Knöcheln auf den Tisch, daß es prasselte. »Verlangen Sie jetzt keine 236 Höflichkeiten von mir, Harriman!« schrie er laut. »Gehen Sie!« Und Allan deutete zur Türe.

Harriman schwankte und ging. Sein Gesicht war vor Schmach grau geworden. Es ging ihm durch den Sinn, Allan zu sagen, daß sein Sohn gestorben sei und er den ganzen Vormittag gegen eine doppelte Dosis Schlafmittel angekämpft habe. Aber er sagte nichts. Er ging.

Wie ein alter, gebrochener Mann ging er die Treppe hinunter, die Augen auf den Boden gerichtet. Ohne Hut.

»Harriman ist geflogen!« höhnten die Leute. »Der Bull ist geflogen!« Aber er hörte es nicht. Er weinte leise.

Nachdem Harriman das Zimmer verlassen hatte, ging Allan noch mit fünf Ingenieuren ins Gericht, die ihre Posten verlassen hatten und mit den fliehenden Mannschaften ausgefahren waren. Er entließ sie auf der Stelle.

Es blies ein verflucht scharfer Wind heute und die Ingenieure erwiderten kein Wort.

Hierauf verlangte Allan Robinson telephonisch zu sprechen. Ein Beamter rief die Stationen an und befahl ihnen, Robinsons Zug zu stoppen. Allan studierte unterdessen den Plan des zerstörten Stollens. Es war so still, daß man durch die zerschlagenen Scheiben den Regen hereintropfen hörte.

Zehn Minuten später stand Robinson am Apparat. Allan führte ein langes Gespräch mit ihm. Nichts von Hobby! Ob er, Robinson, es für möglich halte, daß noch Leute in den verqualmten Stollen lebten? Das sei nicht ausgeschlossen.

Allan gab seine Befehle. Nach ein paar Minuten flog ein Zug aus drei Waggons mit Ingenieuren und Ärzten die Trasse hinab und verschwand im Tunnel.

Allan führte selbst und der Zug raste in einem so tollen Tempo durch den dröhnenden leeren Tunnel, daß Allans 237 Begleiter, die an große Geschwindigkeiten gewöhnt waren, unruhig wurden. Nach einer knappen Stunde begegneten sie Robinson. Sein Zug war voller Menschen. Die Leute auf den Waggons, die Allan Rache geschworen hatten, murrten laut, mit finstern Mienen, als sie ihn in der Finsternis beim Schein der Lampen erkannten.

Allan fuhr weiter. Er bog bei der nächsten Weiche auf Robinsons Geleise über, weil er sicher war, wes frei zu finden, und verminderte sein rasendes Tempo erst, als sie mitten im Rauch waren.

Selbst hier in den verqualmten Stationen arbeiteten Ingenieure. Sie hatten die eisernen Schiebetüren zugezogen, an denen sich der Rauch wie ein Gebirge zusammengeballter Wolken vorüberwälzte. Aber die Stationen waren trotzdem so sehr mit Rauch angefüllt, daß ein längerer Aufenthalt nur möglich war, weil die Maschinen fortwährend neue Luft einpreßten und genügend Sauerstoffapparate vorhanden waren. Wie für Allan war der Tunnel für die Ingenieure ein Werk, für das sie Gesundheit und Leben einsetzten.

In der Station am 352.Kilometer trafen sie Smith, der hier mit zwei Maschinisten die Maschinen bediente. Er wiederholte, daß eine Luftpumpe tiefer im Tunnel in Gang sein müsse, und Allan dachte wieder an Hobby. Wenn ihm das Schicksal doch wenigstens den Freund erhalten hätte!

Er drang sofort tiefer in den Stollen ein. Aber der Zug kam nur langsam vorwärts, denn häufig versperrten Steinblöcke den Weg. Der Rauch war so dick, daß der Lichtkegel der Scheinwerfer wie von einer Mauer abprallte. Nach einer halben Stunde wurde der Train von einer großen Menge Leichen aufgehalten. Allan stieg ab und ging, die Rauchmaske vor dem Gesicht, in den Rauch hinein. Im Augenblick war seine Blendlampe verschwunden. 238

Es war vollkommen still um ihn. Kein Laut, nur das Ventil seines Sauerstoffapparates knackte leise. Allan stöhnte. Hier hörte ihn ja niemand. Seine Brust war eine einzige tobende Wunde. Stöhnend und knirschend wie ein verwundetes Tier wanderte er vorwärts und zuweilen wollte er zusammenbrechen unter der ungeheuren Last seines ungeheuren Schmerzes.

Alle paar Schritte stieß er auf Körper. Aber wenn er sie ableuchtete, so waren es stets unzweifelhaft tote Menschen, die ihn anstarrten aus gräßlich verzerrten Gesichtern. Hobby war nicht unter ihnen.

Plötzlich hörte er ein Keuchen und hob die Lampe. Gleichzeitig berührte eine Hand seinen Arm und eine keuchende Stimme flüsterte: »Sauvé!« Ein Mensch brach vor ihm zusammen. Es war ein junger Bursche, der nur eine Hose trug. Allan nahm ihn auf die Arme und trug ihn zurück zum Zuge und er erinnerte sich, daß ihn einst ein Mann in ähnlicher Situation durch einen dunklen Stollen getragen hatte. Die Ärzte brachten den Ohnmächtigen rasch ins Bewußtsein zurück. Er hieß Charles Renard, Kanadier, und erzählte, daß die Wetterführung drinnen funktioniere und er diesem Umstand sein Leben verdanke. Ob er noch Zeichen von Leben in den Stollen beobachtet habe?

Der Gerettete nickte. »Ja,« sagte er, »ich habe zuweilen Gelächter gehört.«

»Gelächter??« Sie sahen einander entsetzt an.

^Ja, Gelächter. Ganz deutlich.«

Allan verlangte telephonisch Züge und Ablösungen.

Augenblicklich drang er wieder vor. Die Glocke gellte. Es war eine mörderische Arbeit und der Rauch trieb sie häufig zurück. Gegen Mittag gelang es ihnen, bis in die Nähe des 380. Kilometers vorzudringen und hier vernahmen sie plötzlich ein schrilles, fernes Lachen. Dieser 239 Laut in dem schweigenden, rauchenden Stollen war das Entsetzlichste, was sie je gehört hatten. Sie erstarrten und niemand atmete. Dann eilten sie weiter. Das Lachen wurde immer deutlicher, es klang wild und irrsinnig, so wie es die Taucher zuweilen aus verunglückten Unterseebooten gehört haben, in denen die Besatzung erstickte.

Schließlich erreichten sie eine kleine Station und drangen ein. Da sahen sie im Dunst zwei, drei, vier Menschen, die sich am Boden wälzten, tanzten unter schauerlichen Verrenkungen und dabei fortwährend ein schrilles, delirierendes Gelächter ausstießen. Die Luft pfiff aus der Wetterführung in die Station, so daß die Unglücklichen am Leben geblieben waren. In ihrer nächsten Nähe befanden sich Sauerstoffapparate – unberührt.

Die Unglücklichen aber schrien vor Entsetzen auf und wichen zurück, als sie plötzlich Licht sahen und Menschen mit Masken vor dem Gesicht. Sie flohen alle in eine Ecke, wo ein toter Mann ausgestreckt und still lag, beteten und winselten vor Angst. Es waren Italiener.

»Ist hier jemand, der italienisch spricht?« fragte Allan. »Nehmen Sie die Masken ab.«

Ein Arzt trat vor und begann, vom Husten erstickt, mit den Wahnsinnigen zu sprechen.

»Was sagen sie?«

Der Arzt konnte vor Entsetzen kaum reden.

»Wenn ich sie richtig verstehe, so glauben sie, sie seien in der Hölle!« sagte er mit Anstrengung.

»So sagen Sie ihnen in Gottes Namen, wir seien gekommen, sie in den Himmel zu führen,« rief Allan.

Der Arzt sprach und sprach und endlich verstanden sie ihn.

Sie weinten, sie knieten, sie beteten und streckten flehend die Hände aus. Als man sich ihnen aber näherte, begannen sie zu rasen. Sie mußten einzeln überwältigt und 240 gebunden werden. Einer starb auf der Ausfahrt, zwei kamen in eine Anstalt, der vierte aber erholte sich rasch und war gesund.

Allan kehrte von dieser Expedition halb bewußtlos nach Smiths Station zurück. Wollte das Entsetzen kein Ende nehmen? Er saß da, rasch atmend, vollkommen erschöpft. Er war nun sechsunddreißig Stunden ohne Schlaf.

Aber die Ärzte drangen vergebens in ihn, auszufahren.

 


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