Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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6.

Eines Tages im Oktober hatte sich zu Allans großer Verwunderung Ethel Lloyd bei ihm anmelden lassen.

Sie trat ein und warf einen raschen Blick durchs Zimmer. »Sind Sie allein, Allan?« fragte sie lächelnd.

»Ja, Fräulein Lloyd, ganz allein.«

»Das ist gut!« Ethel lachte leise. »Haben Sie keine Angst, ich bin kein Erpresser. Pa schickt mich zu Ihnen. Ich soll einen Brief an Sie abgeben, aber nur, wenn Sie allein sind.«

Sie zog einen Brief aus dem Mantel.

»Danke,« sagte Allan und nahm den Brief in Empfang.

»Es ist gewiß etwas merkwürdig,« fuhr Ethel lebhaft fort, »aber Pa ist so sonderbar in manchen Dingen.« Und Ethel begann frisch und ungeniert, wie es ihre Art war, zu plaudern und hatte Allan, der mit den Worten sparsam umging, bald in ein Gespräch gezogen, dessen Kosten sie größtenteils bestritt. »Sie sind in Europa gewesen?« fragte sie. »Ja, wir haben eine wunderbare Sache diesen Sommer gemacht, zu fünft, zwei Herren, drei Damen. Wir fuhren in einem Zigeunerwagen bis nach Kanada hinauf. Immer in frischer Luft. Schliefen im Freien, kochten selbst, es war wunderbar! Wir hatten ein Zelt mit uns und ein kleines 290 Ruderboot auf dem Dach des Wagens. – Das sind wohl Pläne?«

Mit dem ihr eignen Freimut ließ Ethel den Blick durch den Raum gehen, ein nachdenkliches Lächeln auf den schöngeschwungenen, lebhaft rot gefärbten Lippen. (Das war momentan Mode.) Sie trug einen seidenen Mantel von der Farbe angereifter Pflaumen, einen kleinen runden Hut, der eine Nuance heller war und von dem eine graublaue Straußenfeder bis zur Schulter herabhing. Das matte, verwischte Graublau ihres Kostüms ließ ihre Augen viel blauer erscheinen, als sie wirklich waren. Wie dunkeln Stahl.

Allans Arbeitsraum war erschreckend nüchtern. Ein abgetretener Teppich, ein paar Ledersessel, ohne die es nicht geht, ein Tresor. Ein halbes Dutzend Arbeitstische mit Stößen von Schriftstücken, die mit Bruchproben von Stahl beschwert waren. Regale mit Rollen und Mappen. Ein Wust von Papieren, scheinbar willkürlich durch den Raum gefegt. Die Wände des großen Raumes waren vollkommen mit riesigen Plänen bedeckt, die die einzelnen Baustrecken darstellten. Mit den fein eingezeichneten Meerestiefenmaßen und der angetuschten Tunnelkurve sahen sie aus wie Zeichnungen von Hängebrücken.

Ethel lächelte. »Wie hübsch Sie Ordnung halten!« sagte sie.

Die Nüchternheit des Raumes enttäuschte sie nicht. Sie dachte an »Pa's« Bureau, dessen ganze Ausstattung aus einem Schreibtisch, einem Sessel, Telephon und Spucknapf bestand.

Dann sah sie Allan in die Augen. »Ich glaube, Allan, Ihre Arbeit ist die interessanteste, die je ein Mensch ausführte!« sagte sie mit einem Blick voll aufrichtiger Bewunderung. Plötzlich aber sprang sie entzückt auf und klatschte in die Hände. 291

»Ja, Gott, was ist das!« rief sie begeistert aus. Ihr Blick war durchs Fenster gefallen und sie sah New York liegen.

Aus tausend flachen Dächern stiegen dünne weiße Dampfsäulen empor in die Sonne, schnurgerade. New York arbeitete, New York stand unter Dampf wie eine Maschine, die aus allen Ventilen pfeift. Die Fensterfronten der zusammengerückten Turmhäuser blitzten. Tief unten im Schatten der Broadwayschlucht krochen Ameisen, Punkte und winzige Kärrchen. Von oben gesehen sahen Häuserblöcke, Straßen und Höfe wie Zellen aus, Waben eines Bienenstockes, und man wurde unwillkürlich zu dem Gedanken gedrängt, daß die Menschen diese Zellen aus einem ähnlichen animalischen Instinkt erbauten, wie die Bienen die Waben. Zwischen zwei Gruppen von weißen Wolkenkratzern sah man den Hudson und darauf zog ein winziger Dampfer, ein Spielzeug mit vier Kaminen, ein Ozeangigant von 50 000 Tonnen.

»Ist es nicht herrlich!« rief Ethel wieder und wieder aus.

»Haben Sie New York noch nie von der Höhe aus gesehen?«

Ethel nickte. »Doch,« sagte sie, »ich bin zuweilen mit Vanderstyfft darüber geflogen. Aber in der Maschine zieht es so, daß man immer den Schleier festhalten muß und nichts sieht.«

Ethel sprach natürlich und schlicht und ihr ganzes Wesen strömte Einfachheit und Herzlichkeit aus. Und Allan fragte sich, weshalb er sich in ihrer Nähe nie ganz behaglich fühlte. Er vermochte es nicht, ohne Rückhalt mit ihr zu plaudern. Vielleicht irretierte ihn nur ihre Stimme. Im großen und ganzen gibt es in Amerika zwei Arten weiblicher Stimmen: eine weiche, die ganz tief im Kehlkopf klingt (so sprach Maud), und eine scharfe, etwas nasale, die sich keck und aufdringlich anhört. So war Ethels Stimme. 292

Dann ging Ethel. Unter der Türe fragte sie Allan noch, ob er nicht gelegentlich auf ihrer Jacht einen kurzen Ausflug mitmachen wolle.

»Ich habe gegenwärtig viele Verhandlungen, die meine ganze Zeit beanspruchen,« lehnte Allan ab und riß Lloyds Brief auf.

»Nun, dann ein andermal! Good bye!« rief Ethel fröhlich und ging.

Der Brief Lloyds enthielt nur ein paar Worte. Er war ohne Unterschrift: »Haben Sie ein Auge auf S. W.«

S. W. war S. Woolf. Allan hörte plötzlich das Blut in den Ohren sieden.

Wenn Lloyd ihn warnte, so geschah es nicht ohne Grund! War es Lloyds Instinkt, der Verdacht schöpfte? Lloyds Spione? Schlimme Ahnungen erfüllten ihn. Geldgeschäfte waren nicht seine Sache und er hatte sich nie um S. Woolfs Ressort gekümmert. Das war Sache des Verwaltungsrates und es war all die Jahre ausgezeichnet gegangen.

Er rief sofort Rasmussen, den Vertreter S. Woolfs, zu sich. Ganz unauffällig bat er ihn, eine Kommission vorzuschlagen, die zusammen mit ihm, Rasmussen, den gegenwärtigen finanziellen Stand des Syndikats genau festsetzen sollte. Er wolle die Arbeit bald aufnehmen und wissen, welche Summen sich in nächster Zeit flüssig machen ließen.

Rasmussen war ein distinguierter Schwede, der seine europäischen Höflichkeitsformen während eines zwanzigjährigen Aufenthaltes in Amerika bewahrt hatte.

Er verbeugte sich und fragte: »Wünschen Sie die Kommission noch heute vorgeschlagen zu erhalten, Herr Allan?«

Allan schüttelte den Kopf. »So eilig ist es durchaus nicht, Rasmussen. Aber morgen vormittag. Werden Sie bis dahin Ihre Wahl treffen können?« 293

Rasmussen lächelte. »Gewiß!«

An diesem Abend sprach Allan mit Erfolg in der Versammlung der Gewerkschafts-Delegierten.

An diesem Abend erschoß sich Rasmussen.

Allan erbleichte, als er es erfuhr. Er rief augenblicklich S. Woolf zurück und ordnete sofort eine geheime Revision an. Der Telegraph spielte Tag und Nacht. Die Revision stieß auf ein unentwirrbares Chaos. Es zeigte sich, daß Veruntreuungen, deren Höhe sich im Moment nicht feststellen ließ, durch falsche Buchungen und raffinierte Manipulationen vertuscht worden waren. Ob Rasmussen oder S. Woolf oder andere dafür verantwortlich waren, ließ sich nicht sofort erkennen. Ferner fand es sich, daß S. Woolfs letztjährige Bilanz eine Verschleierung war und der Reservefonds ein Minus von sechs bis sieben Millionen Dollar aufwies.

 


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