Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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2.

An diesem Abend war Ethel während des Diners in so vorzüglicher Laune, daß dem alten Lloyd das Herz aufging. Und nach Tisch schlang sie die Arme um seinen Nacken und sagte: »Hat mein kleiner, lieber Pa morgen vormittag Zeit, mit mir eine wichtige Sache zu besprechen?«

»Heute noch, wenn du willst, Ethel.«

»Nein, morgen. Und will mein lieber, kleiner Pa alles tun, worum seine Ethel ihn bitten wird?«

»Wenn es mir möglich ist, mein Kind?«

»Es ist dir möglich, Pa!«

Am nächsten Tage erhielt Allan eine eigenhändig geschriebene, äußerst freundschaftlich gehaltene Einladung von Lloyd, die deutlich Ethels Diktion verriet.

»Wir werden ganz unter uns sein,« schrieb Lloyd, »nur wir drei.«

Allan fand Lloyd in vorzüglicher Laune. Er war noch mehr eingeschrumpft und Allan gewann den Eindruck, als ob er 358 anfange, etwas kindisch zu werden. So hatte er Allans Besuch im vorigen Herbst vollkommen vergessen. Er erzählte ihm wiederum alle Einzelheiten von Ethels Prozessen und lachte Tränen, als er schilderte, wie Ethel der Behörde ein Schnippchen schlug und auf dem Meere herumsegelte. Er schwatzte über all die neuen Dinge, die im Laufe des Herbstes und Winters geschaffen worden waren, über Skandale und Wahlen. Trotzdem sein Gehirn zu verfallen begann, war er noch lebhaft, voller Interesse für alles Neue, listig und bauernschlau. Allan plauderte zerstreut, denn er war zu sehr mit den eigenen Gedanken beschäftigt. Indessen fand er keine Gelegenheit, die Sprache auf den Tunnel zu bringen. Lloyd legte ihm Pläne zu Sternwarten vor, die er verschiedenen Nationen schenken wollte, und als Allan gerade im Begriff stand, überzulenken auf das, was ihm am Herzen lag, meldete der Diener, daß Miß Lloyd die Herren zum Diner erwarte.

Ethel war gekleidet wie zu einem Hofball. Sie blendete. Alles an ihr war Glanz, Frische, Hoheit. Ohne die entstellende, wuchernde Flechte auf dem Kinn wäre sie die erste Schönheit New Yorks gewesen. Allan war merkwürdig überrascht, als er sie sah. Denn er hatte nie gesehen, wie schön sie war. Noch mehr aber verblüffte ihn das schauspielerische Talent, das sie bei der Begrüßung entfaltete.

»Da sind Sie ja, Allan!« rief sie aus und sah Allan mit strahlenden, aufrichtigen, blauen Augen an. »Wie lange haben wir uns nicht gesehen! Wo in aller Welt steckten Sie nur die ganze Zeit?«

Lloyd sagte rügend: »Ethel, sei nicht so neugierig!«

Und Ethel lachte! Bei Tisch war sie in prächtigster Laune.

Sie speisten an einem großen, runden Mahagonitisch, der zwei Meter im Durchmesser maß und den Ethel selbst täglich mit Blumen schmückte. Lloyds Kopf erschien grotesk, wie 359 ein brauner Mumienschädel, zwischen den Bergen von Blüten. Ethel war unausgesetzt um den Vater bemüht. Er durfte nur essen, was sie ihm erlaubte, und lachte kindisch, wenn sie ihm etwas verweigerte. Alles, was ihm schmeckte, hatten ihm die Ärzte verboten.

Sein Gesicht verzerrte sich vor Vergnügen, als ihm Ethel etwas Hummermayonnaise vorlegte.

»Heute wollen wir nicht so streng sein, Dad,« sagte sie, »weil Herr Allan zu Gast ist.«

»Kommen Sie recht oft, Allan,« gluckste Lloyd. »Sie behandelt mich besser, wenn Sie hier sind.«

Bei jeder Gelegenheit, die sich bot, gab Ethel Allan zu verstehen, wie erfreut sie über seinen Besuch sei.

Nach Tisch nahmen sie den Kaffee in einem hohen Saal, der einem Palmenhaus ähnlich sah. In einem kolossalen echten Renaissancekamin, einem wundervollen, kostbaren Werk, glühten täuschend nachgeahmte große Buchenscheite. Irgendwo plätscherte ein unsichtbarer Springbrunnen. Es war hier so dunkel, daß man einander nur in den Umrissen sah. Lloyd mußte seine entzündeten Augen schonen.

»Singe uns etwas, Kind,« sagte Lloyd und rauchte eine große, schwarze Zigarre an. Diese Zigarren wurden speziell für ihn in Havanna angefertigt und waren der einzige Luxus, den er sich erlaubte.

Ethel schüttelte den Kopf. »Nein, Dad, Allan liebt Musik nicht.«

Der braune Mumienschädel Lloyds wandte sich Allan zu. »Sie lieben Musik nicht?«

»Ich habe kein Gehör dafür,« erwiderte Allan.

Lloyd nickte. »Wie sollten Sie auch?« begann er mit der bedächtigen Wichtigkeit des Greises. »Sie haben zu denken und brauchen keine Musik. Bei mir war es früher genau so. Aber als ich älter wurde und sich bei mir das 360 Bedürfnis zu träumen einstellte, da liebte ich sie plötzlich. Musik ist nur für Kinder, Frauen und schwache Köpfe –«

»Pfui, Vater!« rief Ethel aus ihrem Schaukelstuhl.

»Ich genieße das Privilegium des Alters, Allan,« fuhr Lloyd schwatzhaft fort. »Übrigens hat mich Ethel für die Musik erzogen – meine kleine Ethel, die nun dasitzt und über ihren Vater lacht!«

»Ist Papa nicht lieb?« warf Ethel ein und sah Allan an.

Dann – nach einem kleinen, hitzigen Geplänkel zwischen Vater und Tochter, wobei Lloyd jämmerlich geschlagen wurde – begann Lloyd ganz von selbst vom Tunnel zu sprechen.

»Wie geht es mit dem Tunnel, Allan?«

Aus all seinen Fragen war deutlich zu erkennen, daß Ethel mit dem Vater vorher alles besprochen hatte und Lloyd es ihm leicht machen wollte, »an ihn heranzutreten«.

»Die Deutschen wollen nun eine regelmäßige Luftschiffverbindung einrichten,« sagte Lloyd. »Sie sollten sehen, daß es bald wieder vorwärts geht, Allan!«

Der Augenblick war gekommen. Und Allan sagte klar und laut: »Geben Sie mir Ihren Namen, Herr Lloyd, und ich beginne morgen!«

Darauf erwiderte Lloyd bedächtig: »Ich wollte Ihnen schon lange Vorschläge machen, Allan. Ich dachte sogar daran, Ihnen ein Wort in diesem Sinne zu schreiben, als Sie verreist waren. Ethel aber sagte: ›Warte, bis Allan selbst zu dir kommt‹. Sie erlaubte es nicht!«

Und Lloyd gluckste triumphierend, Ethel einen Hieb versetzt zu haben. Unvermittelt aber zeigte sich in seinem Gesicht ein Ausdruck der größten Bestürzung, denn Ethel schlug plötzlich empört mit der flachen Hand auf die Lehne des Sessels, stand auf, bleich bis in die Mundwinkel und rief mit blitzenden Augen: »Vater! Wie konntest du es wagen, so etwas zu sagen!« 361

Sie warf die Schleppe herum und ging und schlug die Türe so heftig zu, daß der Saal bebte.

Allan saß fahl und stumm: Lloyd hatte sie verraten.

Lloyd aber drehte bestürzt den Kopf hin und her.

»Was tat ich ihr denn?« stammelte er. »Es war ja nur ein Scherz! Es war gar nicht so gemeint. Was sagte ich denn Schlimmes? O, wie böse sie werden kann!« Er faßte sich und gab sich Mühe, wieder heiter und zuversichtlich zu erscheinen. »Nun, sie wird ja wiederkommen,« sagte er ruhiger. »Sie hat das beste Herz der Welt, Allan! Aber sie ist unberechenbar und launisch, ganz wie ihre Mutter es war. Aber, sehen Sie, nach einer Weile, da kommt sie dann zurück und kniet neben mir und streichelt mich und sagt: ›Verzeih, Pa, ich habe heute einen schlechten Tag!‹«

Ethels Stuhl schaukelte noch immer. Es war ganz still. Der unsichtbare Springbrunnen rieselte und gluckste. Auf der Straße tuteten die Automobile wie Dampfer im Nebel.

Lloyd blickte auf Allan, der schweigend dasaß, dann sah er nach der Türe und lauschte. Nach einer Weile klingelte er dem Diener.

»Wo ist Miß Lloyd?« fragte er.

»Miß Lloyd ist auf ihre Zimmer gegangen!«

Lloyd senkte den Kopf. »Dann sehen wir sie heute nicht mehr, Allan,« sagte er nach einer Weile leise und niedergeschlagen. »Dann sehe ich sie auch morgen nicht! Und ein Tag ohne Ethel ist verloren für mich. Ich habe nichts als Ethel!«

Lloyd schüttelte den kleinen, kahlen Kopf und konnte sich nicht beruhigen. »Versprechen Sie mir morgen wiederzukommen, Allan, damit wir Ethel besänftigen. Wer versteht so ein Mädchen? Wenn ich nur wüßte, was ich Schlimmes getan habe?«

Lloyd sprach in traurigem Ton. Er war aufs tiefste 362 niedergeschlagen. Dann schwieg er und sah mit geneigtem Kopf vor sich hin. Er machte den Eindruck eines unglücklichen, verzweifelten Menschen.

Nach einer Weile erhob sich Allan und bat Lloyd, ihn zu entschuldigen.

»Auch Ihnen ist die Laune verdorben durch meine Albernheit,« sagte Lloyd und nickte und gab Allan die kleine Hand, die weich war wie die eines Mädchens. »Sie hatte sich so gefreut, daß Sie kamen! Sie war in so prächtiger Laune! Den ganzen Tag nannte sie mich Dad!«

Und Lloyd blieb allein in dem halbdunkeln Palmensaal sitzen, ganz klein in dem großen Raum, und starrte vor sich hin. Er war ein alter, verlassener Mann.

Unterdessen aber zerriß Ethel vor Zorn und Scham in ihrem Zimmer ein halbes Dutzend Taschentücher und stieß unzusammenhängende Vorwürfe gegen ihren Vater heraus. »Wie konnte Vater das sagen . . . wie konnte er nur . . . was soll Allan jetzt von mir denken . . .«

Allan hüllte sich in den Mantel und verließ das Haus. Auf der Straße wartete Lloyds Automobil, aber er lehnte es ab. Er ging langsam die Avenue hinab. Es schneite, der Schnee fiel in lautlosen, weichen Flocken und Allans Schritt war unhörbar auf dem Schneeteppich.

Allan hatte ein bitteres, erstarrtes Lächeln auf den Lippen. Er hatte verstanden! Sein Wesen war schlicht und offen und er dachte selten über die Motive seiner Mitmenschen nach. Er hatte keine Leidenschaften und so verstand er die Leidenschaften anderer nicht. Er war ohne Raffinement und so vermutete er nicht Intrigen und Raffinement bei den andern.

Er hatte nichts Besonderes darin gefunden, daß Ethel ihn in der Tunnelstadt aufgesucht hatte. Sie hatte ja vor Jahren viel in seinem Hause verkehrt und war mit ihm befreundet. 363 Einen Freundschaftsdienst hatte er darin erblickt, daß sie zu ihm kam und ihm verriet, daß Lloyd zur Hilfe bereit sei. Nun aber durchschaute er Ethel plötzlich! Ihr persönlich sollte er zu Dank verpflichtet sein! Er sollte den Eindruck gewinnen, als ob sie, Ethel, ihren Vater zu großen finanziellen Wagnissen überredet hätte. Mit einem Wort, von Ethel Lloyd sollte es abhängen, ob er weiterbauen könne oder nicht – aber Ethel Lloyd stellte ihre Bedingungen! Er selbst war der Preis! Ethel wollte ihn! Aber, bei Gott, Ethel kannte ihn nicht!

Allans Schritt wurde immer langsamer. Es war ihm, als versinke er in Schnee, Nacht, Bitterkeit und Enttäuschung. Seine letzte Hoffnung war Lloyd gewesen. Unter diesen Umständen aber war nicht daran zu denken! Elend war seine letzte Hoffnung heute abend zugrunde gegangen . . .

Am nächsten Morgen erhielt er ein Telegramm von Lloyd, worin ihn der alte Mann dringend bat, zum Abendessen zu kommen. »Ich werde Ethel bitten, mit uns zu speisen und ich bin sicher, sie wird nicht nein sagen. Ich habe sie heute noch nicht gesehen,« telegraphierte Lloyd.

Allan depeschierte zurück, daß er diesen Abend unmöglich kommen könne, da große Mengen Wassers im Nordstollen eingebrochen seien. Das war die Wahrheit, aber seine Anwesenheit wäre keineswegs notwendig gewesen.

Tag um Tag war er in den toten Stollen und sein Herz hing an der Finsternis da drinnen. Die Untätigkeit, zu der er gezwungen war, fraß wie ein Gram in ihm.

Etwa acht Tage später, an einem klaren Wintertag, kam Ethel Lloyd nach Mac City.

Sie kam in Allans Büro, gerade als er mit Strom konferierte. Sie war ganz in schneeweißen Pelz gehüllt und sah frisch und strahlend aus. »Hallo, Allan!« begann sie ohne 364 Umschweife, als sei gar nichts vorgefallen. »Wie reizend, daß ich Sie antreffe! Papa schickt mich, ich soll Sie abholen!« Sie ignorierte Strom vollständig.

»Herr Strom!« sagte Allan, von Ethels Sicherheit und Ungeniertheit verblüfft.

»Ich hatte schon die Ehre!« murmelte Strom, verbeugte sich und ging.

Ethel nahm nicht die geringste Notiz davon.

»Ja,« fuhr sie heiter fort, »ich komme um Sie mitzunehmen, Allan. Heute abend konzertieren die Philharmoniker und Papa bittet Sie, mit uns ins Konzert zu kommen. Mein Auto steht unten.«

Allan blickte ruhig in ihre Augen.

»Ich habe noch zu arbeiten, Fräulein Lloyd,« sagte er.

Ethel prüfte seinen Blick und tat betrübt.

»Mein Gott, Allan,« rief sie aus, »ich sehe, Sie zürnen mir noch wegen neulich! Ich war gewiß unartig, aber hören Sie, war es denn nett von Pa, so etwas zu sagen? Ganz als ob ich gegen Sie intrigierte? – Nun, Pa sagte, ich solle Sie unbedingt heute mitbringen. Wenn Sie noch zu tun haben, kann ich ja warten. Das Wetter ist herrlich und ich fahre unterdessen spazieren. Aber ich darf doch auf Sie rechnen? Ich werde Pa sofort telephonieren . . .«

Allan wollte absagen. Aber als er in Ethels Augen blickte, wußte er, daß diese Absage ihren Stolz tödlich verletzen würde und damit seine Hoffnungen für immer begraben wären. Aber auch zu einer Zusage konnte er sich nicht entschließen und so antwortete er ausweichend: »Vielleicht, ich kann das jetzt noch nicht sagen.«

»Bis sechs Uhr aber können Sie sich wohl entscheiden?« fragte Ethel freundlich und bescheiden.

»Ich denke. Aber ich glaube nicht, daß es mir möglich sein wird.« 365

»Adieu, Allan!« rief Ethel heiter. »Ich werde um sechs anfragen und ich hoffe, Glück zu haben.«

Punkt sechs stand Ethel wieder vor dem Hause.

Allan bedauerte und Ethel fuhr ab.

 


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