Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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6.

New York briet in diesen Tagen in einer Hitzwelle, so daß Allan sich entschloß, die Versammlung auf dem Dachgarten des Hotels abzuhalten.

Die Geladenen, die größtenteils auswärts wohnten, waren im Laufe des Tages und einige schon gestern eingetroffen.

Sie kamen in riesigen, staubbedeckten Tourencars mit Frauen, Töchtern und Söhnen angerollt aus ihren Sommerresidenzen in Vermont, Hamshire, Maine, Massachusetts und Pennsylvania. Die Einsamen und Schweiger flogen in Extrazügen, die glatt jede Station ignorierten, von St. Louis, Chikago und Cincinnati herbei. Ihre Luxusjachten dockten am Hudson-River. Drei Chikagoleute, Kilgallan, Müllenbach und C. Morris, waren mit dem Expreß-Luftliner, der die 700 Meilen von Chikago nach New York-Centralpark in acht Stunden durchschneidet, angekommen, und der Sportmann Vanderstyfft war im Laufe des Nachmittags auf dem Dachgarten des Atlantic mit seinem 48 Eindecker gelandet. Andere wieder trafen als ganz unscheinbare Reisende, zu Fuß, mit einer bescheidenen Tasche in der Hand, vor dem Hotel ein.

Aber sie kamen. Lloyd hatte sie in einer Angelegenheit von allererster Bedeutung gerufen, und jene Solidarität, die das Geld in weit höherem Maße als das Blut erzeugt, erlaubte ihnen nicht zurückzustehen. Sie kamen nicht allein, weil sie ein Geschäft witterten (es war sogar möglich, daß sie bluten mußten!), sie kamen in erster Linie, weil sie erwarteten, ein Projekt mit starten helfen zu können, dessen Bedeutung ihren Unternehmungsgeist befriedigte, der sie groß gemacht hatte. Lloyd hatte jenes mysteriöse Projekt in seinem Sendschreiben »das größte und kühnste aller Zeiten« genannt. Das genügte, um sie aus der Hölle heraufzuholen; denn das Schaffen neuer Werke war für sie soviel wie leben selbst.

Die Bewegung so vieler Häuptlinge des Kapitals war natürlich nicht unbemerkt geblieben, denn jeder einzelne war von einem ausgearbeiteten Alarmsystem umgeben. Am Morgen schon war die Börse von einem leichten Fieber geschüttelt worden. Ein zuverlässiger Tip jetzt bedeutete ein Vermögen! Die Presse verkündete die Namen all der Männer, die im Atlantic abgestiegen waren, und vergaß nicht hinzuzufügen, wieviel jeder einzelne wert war. Nachmittag um fünf Uhr ging es schon hoch in die Milliarden. Auf jeden Fall stand etwas Ungewöhnliches bevor, eine Riesenschlacht des Kapitals. Einzelne Zeitungen taten so, als kämen sie gerade vom Lunch bei Lloyd und seien bis zum Halse mit Informationen geladen, Lloyd aber habe ihnen einen Knebel zwischen die Zähne getrieben. Andere gingen weiter und veröffentlichten, was ihr Freund Lloyd ihnen beim Dessert anvertraut hatte: es handele sich um nichts Besonderes. Die elektrische Einschienen-Schnellbahn 49 sollte von Chikago weiter bis San Franzisko geführt werden. Das Netz des Luftverkehrs sollte über die ganzen Staaten erweitert werden, so daß man nach jeder beliebigen Stadt genau so fliegen könnte, wie heute nach Boston, Chikago, Buffalo und St. Louis. Hobbys Idee: New York, das Venedig Amerikas, stände dicht vor ihrer Realisierung.

Die Reporter umschnupperten das Hotel wie Polizeihunde, die auf der Spur liegen. Sie traten mit den Absätzen Löcher in das zerweichte Asphalt des Broadways und starrten an den sechsunddreißig Stockwerken des Atlantic empor, bis die gleißende Kalkwand ihnen Halluzinationen ins Gehirn spiegelte. Ein ganz Gerissener kam sogar auf den genialen Einfall, sich als Telephonarbeiter ins Hotel zu schmuggeln, und nicht nur ins Hotel – bis in die Zimmer der Milliarden, wo er an den Zimmertelephonen herumbastelte, um etwa ein Wort aufzuschnappen. Aber der Manager des Hotels entdeckte ihn und machte ihn höflich darauf aufmerksam, daß alle seine Apparate in Ordnung seien.

Umfiebert von glühender Hitze und Erregung stand das kalkweiße Turmhaus da und schwieg. Es wurde Abend und es schwieg noch immer. Der Gerissene von heute nachmittag kehrte in seiner Verzweiflung mit einem Schnurrbart im Gesicht als ein Monteur Vanderstyffts zurück, der an der Maschine oben auf dem Dach etwas nachzusehen habe. Aber der Manager erklärte ihm mit höflichem Lächeln, daß Herrn Vanderstyffts Marconi-Apparat ebenfalls in Ordnung sei.

Da trat der Gerissene auf die Straße und zerplatzte: er war plötzlich irgendwohin verschwunden, um etwas Neues zu ersinnen. Nach einer Stunde erschien er als Globetrotter in einem Automobil voll beklebter Koffer und forderte ein Zimmer im 36. Stock. Da das 36. Stockwerk 50 aber von Hotelbediensteten bewohnt wurde, so mußte er sich mit Zimmer Nummer 3512 begnügen, das ihm der Manager mit zuvorkommender Geschäftsmiene anbot. Hier machte er einem chinesischen Boy, der zur Dachgartenbedienung gehörte, ein bestechendes Angebot, wenn er einen unscheinbaren Apparat, nicht größer als ein Kodak, in irgendeines der Kübelgewächse da droben schmuggele. Allein er hatte nicht damit gerechnet, daß Allanit ein Hartstahl war, den kein Geschoß durchschlägt.

Allan hatte seine genauen Instruktionen gegeben, und der Manager verbürgte sich dafür, daß sie eingehalten wurden. Sobald alle Geladenen den Roofgarden betreten hatten, durfte der Lift nicht weiter als bis zum 35. Stock geführt werden. Die Boys der Bedienung durften den Dachgarten nicht eher verlassen, als bis der letzte Gast sich entfernt hatte. Nur sechs Vertretern der Presse und drei Photographen war der Zutritt erlaubt (Allan brauchte sie ebenso wie sie ihn) – allein gegen die ehrenwörtliche Versicherung, während der Konferenz nicht mit der Außenwelt in Verbindung zu treten.

Einige Minuten vor neun Uhr erschien Allan selbst auf dem Dachgarten, um sich zu überzeugen, ob man all seine Anordnungen genau befolgt habe. Er entdeckte augenblicklich den eingeschmuggelten drahtlosen Telephonapparat im Geäst eines Lorbeerbaumes, und eine Viertelstunde später hatte ihn der Gerissene wieder als ein hübsch verschnürtes und versiegeltes Expreßpaket auf Nummer 3512 – ohne überrascht zu sein, denn er hatte deutlich in seinem Empfangsapparat gehört, wie eine Stimme etwas unwillig sagte: »Schaffen Sie das Zeug weg!«

Von neun Uhr an begann der Lift zu spielen.

Die Geladenen tauchten schwitzend und pustend aus dem Hotelblock empor, der trotz den Kühlanlagen in allen 51 seinen Poren glühte. Sie kamen aus der Hölle ins Fegfeuer. Jeder einzelne, der aus dem Lift stieg, prallte vor dieser Mauer von Hitze zurück. Dann aber legte er augenblicklich den Rock ab, nicht ohne die anwesenden Damen vorher höflich um Erlaubnis gebeten zu haben. Diese Damen waren Maud – heiter, blühend, schneeweiß gekleidet – und Mrs. Brown, eine alte, kleine, ärmlich aussehende Frau mit gelbem Gesicht und dem argwöhnischen Blick schwerhöriger Geizhälse: die reichste Frau der Staaten und berüchtigte Wucherin.

Die Geladenen kannten einander ohne Ausnahme. Sie hatten sich auf verschiedenen Kriegsschauplätzen getroffen, sie hatten jahrelang Schlachten Schulter an Schulter oder gegeneinander geschlagen. Ihre gegenseitige Hochachtung war nicht allzu groß, aber sie schätzten sich immerhin. Sie waren fast alle schon grau oder weiß, ruhig, würdig, abgeklärt und besonnen wie der Herbst, und die meisten hatten gutmütige, freundliche, ja kindliche Augen. Sie standen in Gruppen beisammen und plauderten und scherzten oder gingen zu Paaren auf und ab und flüsterten. Die Einsamen und Schweiger saßen schon still in den Klubsesseln und blickten kühl, nachdenklich und mit etwas übelgelauntem Gesichtsausdruck auf den persischen Teppich, der über den Boden gebreitet war. Zuweilen zogen sie die Uhr und warfen einen Blick auf den Lift: immer noch kamen Nachzügler . . .

Drunten brodelte New York und das Brodeln schien die Hitze zu verdoppeln. New York schwitzte wie ein Ringkämpfer nach getaner Arbeit, es pustete wie eine Lokomotive, die ihre dreihundert Meilen hinter sich hat und in einer Bahnhofhalle verschnauft. Die Autos, die im zerweichten Asphalt der Straße klebten, surrten und brummten in der Broadway-Schlucht dahin, die einander drängenden 52 Züge der elektrischen Cars hämmerten ihre Glockensignale; irgendwo, ganz fern, gellte eine schrille Glocke: ein Feuerlöschzug, der durch die Straßen fegte. Es war ein Summen wie von riesigen Glocken in der Luft, untermischt mit fernen Schreien, als würden irgendwo in der Ferne Haufen von Menschen abgeschlachtet.

Ringsum standen und funkelten Lichter in der tiefblauen, heißen Nacht, von denen man auf den ersten Blick nicht sagen konnte, ob sie dem Himmel oder der Erde angehörten. Vom Dachgarten aus sah man einen Abschnitt der zwanzig Kilometer langen Broadway-Schlucht, die ganz New York in zwei Teile spaltet: einen weißglühenden, klaffenden Schmelzofen, in dem farbige Feuer schwangen und auf dessen Boden mikroskopische Aschenteilchen entlang trieben: Menschen. Eine Seitenstraße in nächster Nähe blendete wie ein Strom flüssigen Bleis. Aus ferner gelegenen Querstraßen dampften lichte Silbernebel. Einzelne Wolkenkratzer erhoben sich gespenstisch weiß im Lichtscheine eines Platzes. Wiederum aber standen Gruppen von eng aneinander gedrängten Turmhäusern dunkel, schweigsam, wie riesige Grabsteine, die über die eingesunkenen verschwindenden Zwerghütten von zwölf und fünfzehn Etagen emporragten. In der Ferne am Himmel ein Dutzend Stockwerke mattblinkender Fensterscheiben, ohne daß das geringste von einem Haus zu sehen gewesen wäre. Da und dort vierzigstöckige Türme, auf denen matte Feuer lohten: die Dachgärten von Regis, Metropolitain, Waldorf Astoria, Republic. Rings am Horizont glommen schwüle Feuersbrünste: Hoboken, Jersey City, Brooklyn, Ost-New York. In der Spalte zwischen zwei dunklen Wolkenkratzern zuckte jede Minute ein doppelter Lichtstrahl auf, wie elektrische Funkennähte, die zwischen den Mauern übersprangen: die Hochbahn der sechsten Avenue. 53

Rings um das Hotel flimmerte das Feuerwerk der Nacht. Unaufhörlich schossen Lichtfontänen und farbige Strahlengarben aus den Straßen empor zum Himmel. Ein Blitz zerriß ein Turmhaus von unten bis oben und setzte einen riesigen Schuh in Brand. Ein Haus ging in Flammen auf und in den Flammen erschien ein roter Stier: Bull Durham Rauchtabak. Raketen jagten zur Höhe, explodierten und bildeten beschwörende Worte. Eine violette Sonne kreiste wie irrsinnig hoch oben in der Luft und spie Feuer über Manhattan, die bleichen Lichtkegel von Scheinwerfern tasteten nach dem Horizont und beleuchteten kalkweiße Häuserwüsten. Hoch oben am Himmel über dem blitzenden New York aber standen blaß, unscheinbar, elend, geschlagen, die Sterne und der Mond.

Von der Battery herauf kam ein Reklameluftschiff mit weichem Surren der Propeller und zwei großen Augen, eulenhaft. Und auf dem Bauch der Eule erschienen abwechselnd die Worte: Gesundheit! – Erfolg! – Suggestion! – Reichtum! – Pinestreet 14!

Drunten aber, sechsunddreißig Stockwerke tief unten, wogte ein Heer von Hüten um den Hotelblock, Reporter, Agenten, Broker, Neugierige – in der blendenden Lichtflut alle ohne Schatten – schwirrend vor Spannung, die Augen auf die Lichtgirlanden des Dachgartens gerichtet. Durch das fiebernde Stimmengewirr, das das Hotel umbrandete, drangen deutlich die Rufe der Broadway-Ratten, der Zeitungsausrufer, herauf: »Extra! Extra!« Die »World« hatte im letzten Moment ihren letzten und besten Triumph ausgespielt, mit dem sie alle anderen Journale überstach. Sie war allwissend und kannte das Projekt genau, das die Milliarden, die da droben schwitzten, vom Stapel ließen: eine submarine Postbeförderung! A. E. L. M! America-Europe-Lightning-Mail! Genau wie 54 heute die Briefe durch Luftdruck in unterirdischen Röhren von New York nach San Franzisko gepreßt wurden, sollten sie durch gewaltige Röhren, die wie Kabel gelegt werden würden, nach Europa geschossen werden. Über die Bermudas und Azoren! In drei Stunden! (Man sieht, die »World« hatte Allans Reiseroute genau feststellen lassen.)

Selbst die ruhigsten Nerven hier oben konnten sich dem Eindruck der fiebernden Straße, des brodelnden und glitzernden New Yorks und der Hitze nicht entziehen. Alle wurden, je länger sie warteten, mehr oder weniger erregt und empfanden es wie eine Erlösung, als der blonde Hobby, der sich sehr wichtig gebärdete, die Versammlung eröffnete.

Hobby schwenkte ein Telegramm und sagte, daß C. H. Lloyd bedaure, durch sein Leiden abgehalten zu sein, die Herrschaften persönlich zu begrüßen. Er habe ihn beauftragt, ihnen Herrn Mac Allan, den langjährigen Mitarbeiter der Edison-Works-Limited und Erfinder des Diamantstahls Allanit, vorzustellen.

»Hier sitzt er!« Hobby deutete auf Allan, der neben Maud in einem Korbstuhl saß, in Hemdärmeln wie alle andern.

Herr Allan habe ihnen etwas zu sagen. Er wolle ihnen ein Projekt vorschlagen, das, wie sie wüßten, C. H. Lloyd selbst das größte und kühnste aller Zeiten genannt habe. Herr Allan besäße Genie genug, das Projekt zu bewältigen, für die Ausführung aber brauche er ihr Geld. (Zu Allan:) »Go on, Mac!«

Allan stand auf.

Aber Hobby machte ihm ein Zeichen, noch einen Moment zu warten, und schloß, indem er einen Blick in das Telegramm warf. Er habe vergessen . . . für den Fall, daß die 55 Versammlung auf Mac Allans Projekt eingehe, beteilige sich C. H. Lloyd mit fünfundzwanzig Millionen Dollar. (Zu Allan:) »Now, my boy!«

Allan trat an Hobbys Stelle. Die Stille wurde schwül und drückend. Die Straße drunten fieberte wirrer und lauter. Alle Augen richteten sich auf ihn: das war also er, der behauptete, etwas Ungewöhnliches zu sagen zu haben! (Mauds Lippen standen vor Spannung und Angst weit offen!) Allan drückte seinem Auditorium durch nichts seine Wertschätzung aus. Er ließ den Blick ruhig durch die Versammlung wandern, und niemand hätte ihm die große Erregung angemerkt, von der er im Innern geschüttelt wurde. Es war keine Kleinigkeit, diesen Leuten den Kopf in den Rachen zu stecken, und sodann: er war alles, nur kein Redner. Es war das erstemal, daß er vor einer größeren und distinguierten Versammlung sprach. Aber seine Stimme klang ruhig und klar, als er begann.

Allan sagte zunächst, daß er, nachdem C. H. Lloyd die Erwartungen so hoch gespannt habe, befürchte, die Versammlung zu enttäuschen. Sein Projekt verdiene kaum größer genannt zu werden als der Panamakanal oder Sir Rodgers Palk-Street-Bridge, die Ceylon mit Vorderindien verbindet. Es sei, recht besehen, sogar einfach.

Hierauf zog Allan ein Stück Kreide aus der weiten Hosentasche und warf zwei Linien auf die Tafel, die hinter ihm stand. Das sei Amerika und das sei Europa! Er verpflichte sich, im Zeitraum von fünfzehn Jahren einen submarinen Tunnel zu bauen, der die beiden Kontinente verbinde, und Züge in vierundzwanzig Stunden von Amerika nach Europa zu rennen! Das sei sein Projekt.

In diesem Augenblick flammte das Licht der Photographen auf, die ihr Schnellfeuer eröffneten, und Allan machte eine kurze Pause. Von der Straße herauf kam 56 wirres Geschrei: sie wußten, daß die Schlacht da droben begonnen hatte.

Es schien zunächst, als ob Allans Projekt, das eine Epoche in der Geschichte zweier Kontinente bedeutete und selbst für diese vorgeschrittene Zeit nicht alltäglich war, nicht den geringsten Eindruck auf die Zuhörerschaft gemacht habe. Manche waren sogar enttäuscht. Es schien ihnen, als hätten sie dann und wann schon gehört von diesem Projekt, es lag in der Luft wie viele Projekte. Und doch hätte es niemand noch vor fünfzig – wie sagst du? – vor zwanzig Jahren aussprechen können, ohne daß man darüber gelächelt hätte. Es gab hier Leute, die, während sie die Uhr aufzogen, mehr verdienten, als die Mehrzahl der Menschen in einem Monat, es gab hier Leute, die keine Miene verzogen, wenn die ganze Erde morgen wie eine Bombe explodierte, aber es gab hier keinen einzigen, der erlaubte, daß man ihn langweilte. Und davor hatten sie sich alle am meisten gefürchtet, denn, bei Gott, C. H. Lloyd konnte auch einmal versagen! Es wäre ja möglich gewesen, daß dieser Bursche irgendeine alte Sache auskramte, etwa, daß er die Wüste Sahara bewässern und fruchtbar machen wolle, oder sonst etwas. Sein Projekt war wenigstens nicht langweilig. Das war schon sehr viel. Besonders die Einsamen und Schweiger atmeten erleichtert auf.

Allan hatte keineswegs erwartet, sein Auditorium durch sein Projekt niederzustrecken, und war mit dem Eindruck, den seine Ankündigung machte, vollkommen zufrieden. Mehr konnte er vorläufig nicht verlangen. Er hätte ja seine Idee langsam abbrennen können, aber er hatte sie absichtlich wie eine Kartätsche gegen seine Zuhörerschaft abgeschossen, um diesen Panzer einer scheinbaren Indifferenz, die jeden Redner hätte entmutigen können, diesen Panzer aus Phlegma, Schulung, Ermattung, 57 Berechnung und Abwehr auf einen Schlag zu sprengen. Er mußte diese sieben Milliarden zwingen, ihm zuzuhören. Das war seine erste Aufgabe, das und nichts anderes. Und es schien, als ob ihm dies gelungen sei. Die ledernen Sessel knirschten, einige lehnten sich bequem zurecht, sie zündeten sich eine Zigarre an. Mrs. Brown nahm den Hörapparat zu Hilfe. Wittersteiner, von der New York-Central Bank raunte J. O. Morse, dem Kupfermann, etwas ins Ohr.

Und Allan fuhr ermutigt und sicherer fort.

Der Tunnel sollte hundert Kilometer südlich von New York von der Küste New Jerseys ausgehen, die Bermudas und Azoren und Nordspanien berühren und an der biskayischen Küste Frankreichs emporsteigen. Die beiden ozeanischen Stationen, die Bermudas und Azoren, waren vom technischen Standpunkt aus unentbehrlich. Denn mit ihnen, zusammen mit der amerikanischen und den zwei europäischen, waren fünf Angriffsstellen für die Tunnelstollen gegeben. Ferner waren die ozeanischen Stationen für die Rentabilität des Tunnels von größter Bedeutung. Die Bermudas würden den gesamten Personenverkehr und die Post des mexikanischen Beckens, Westindiens, Zentralamerikas und des Panamakanals aufsaugen. Die Azoren den gesamten Verkehr Südamerikas und Afrikas an sich reißen. Die ozeanischen Stationen würden Angelpunkte des Weltverkehrs werden von der Bedeutung New Yorks und Londons. Es war ohne jeden Kommentar einleuchtend, welche Rolle die amerikanische und die europäischen Stationen in Zukunft auf dem Erdball spielen würden! Die einzelnen Regierungen würden gezwungen sein, ihre Zustimmung zum Tunnelbau zu erteilen, ja, er, Mac Allan, würde sie zwingen, die Papiere des Tunnel-Syndikats an ihren Börsen zuzulassen – wenn anders sie nicht gesonnen waren, ihre Industrien um Tausende von Millionen zu schädigen. 58

»Der Tunnel der Behringstraße, der vor drei Jahren in Angriff genommen wurde,« sagte Allan, »der Dover-Calais-Tunnel, der in diesem Jahr seiner Vollendung entgegengeht, haben zur Genüge bewiesen, daß der Bau submariner Tunnel der modernen Technik keine Schwierigkeiten bereitet. Der Dover-Calais-Tunnel hat eine Länge von rund fünfzig Kilometern. Mein Tunnel hat eine Länge von rund fünftausend Kilometern. Meine Aufgabe besteht demnach lediglich darin, die Arbeit der Engländer und Franzosen zu verhundertfachen, wenn ich auch keineswegs die größeren Schwierigkeiten verkenne. Aber ich brauche es Ihnen nicht erst zu sagen: wo der Mensch von heute eine Maschine aufstellen kann, da ist er zu Hause! Finanziell hängt die Ausführung des Projektes von Ihrer Zustimmung ab. Ihr Geld brauche ich nicht – wie Hobby sagte – denn ich werde den Tunnel mit amerikanischem und europäischem Geld, mit dem Geld der ganzen Welt bauen. Das Projekt technisch in der Zeit von fünfzehn Jahren zu bewältigen, ist allein von meiner Erfindung bedingt, die Sie kennen, dem Allanit, einem Hartstahl, der der Härte des Diamanten nur um einen Grad nachsteht, die Bearbeitung des härtesten Gesteins ermöglicht und es erlaubt, eine unbeschränkte Anzahl von Bohrern in beliebiger Größe äußerst billig herzustellen.«

Das Auditorium folgte. Es schien zu schlafen, aber gerade das war ein Zeichen, daß es seine Arbeit aufgenommen hatte. Die meisten der grauen und weißen Scheitel hatten sich gesenkt, nur zwei, drei schweißglänzende Gesichter waren nach oben zum Himmel gerichtet, wo die Sterne wie Scherben glitzerten. Jemand drehte eine Zigarre zwischen den gespitzten Lippen und blinzelte zu Allan empor, ein anderer nickte, das Kinn in der Hand, nachdenklich vor sich hin. Fast aus allen Augen war der gutmütige und kindliche 59 Ausdruck gewichen und hatte einem nachdenklichen, verschleierten oder gespenstisch wachen Blick Platz gemacht. Mrs. Brown hing an Allans Lippen und ihr Mund zeigte einen scharfen, höhnischen, fast bösartigen Ausdruck. All die Gehirne der dreißig Sklavenhalter, in die Allan seine Ideen und Argumente hineinhämmerte, daß sie wie Keile festsaßen, waren in Schwung gekommen. Das Geld dachte, das Eisen, der Stahl, das Kupfer, das Holz, die Kohle. Diese Sache Allan war nicht gewöhnlich. Sie verdiente, daß man sie überlegte und erwog. Ein Projekt wie dieses fand man nicht täglich auf der Straße. Und diese Sache Allan war nicht leicht! Es handelte sich hier nicht um ein paar Millionen Bushel Weizen oder Ballen Baumwolle, nicht um tausend King-Edward-Mines-Aktien, Australien. Es handelte sich um weit mehr! Für die einen bedeutete die Sache Allan einen Berg von Geld ohne besonderes Risiko für das Eisen, den Stahl, die Kohle. Ihr Entschluß war kein Kunststück. Für die andern bedeutete sie Geld bei großem Risiko. Aber es hieß Stellung nehmen. Stellung! Denn es handelte sich hier um noch etwas, es handelte sich hier um Lloyd und um keinen andern als Lloyd den Allmächtigen, der wie ein goldenes Gespenst, schaffend und vernichtend, über den Erdball schritt! Lloyd wußte recht wohl, was er tat, und dieser Allan wurde geschoben und glaubte zu schieben. In den letzten Wochen waren in Wallstreet große Transaktionen in Montanwerten und Papieren der schweren Industrie vor sich gegangen. Nun wußten sie, daß es Lloyd war, der seine Armeen durch Strohmänner hatte vorschieben lassen! Es lag auf der Hand, Lloyd, der jetzt in seinem Tresor saß und seine Zigarre lutschte, hatte schon seit Wochen losgeschlagen, und dieser Mac Allan war seine Faust! Immer war Lloyd der erste, immer hatte er die besten Claims schon besetzt, 60 wenn der allgemeine Rush kam. Allein noch wäre es ja Zeit, den Vorsprung einigermaßen einzuholen. Man brauchte nur heute abend noch seine Depeschen über die Welt zu jagen, sofort nach dem Meeting. Morgen früh allerdings wäre es schon viel zu spät.

Es galt Stellung zu nehmen . . .

Einzelne, deren Gehirne sich heißgelaufen hatten, unternahmen den Versuch, dem Problem dadurch beizukommen, daß sie Allans Person unter die Lupe nahmen. Während sie genau hörten, was Allan über den Bau des Tunnels sagte – wie er die Stollen vortreiben, ausbauen, belüften wolle – studierten sie ihren Mann von den Patentlederschuhen an – seine schneeweißen Flanellhosen, seinen Gürtel, sein Hemd, seinen Kragen und seine Binde – bis hinauf zu den soliden Stirnknochen, über die sich sein glatter, kupferrot schimmernder Scheitel spannte. Das Gesicht dieses Mannes glänzte im Schweiß wie Bronze, aber es zeigte jetzt, nach einer Stunde, nicht die leiseste Abspannung. Im Gegenteil, es war markanter und wacher geworden. Die Augen dieses Mannes hatten kindlich und gutmütig ausgesehen, als er begann, nun aber, schwimmend in Schweiß, waren sie kühn und klar, stählern und blinkend wie jenes Allanit, das dem Diamanten nur um einen Grad an Härte nachstand. Und es war gewiß, daß dieser Mann sich nicht oft so in die Augen blicken ließ! Wenn dieser Mann Nüsse aß, so brauchte er auf keinen Fall einen Nußknacker. Die Stimme dieses Mannes hämmerte und rauschte im Brustkasten, bevor sie herauskam. Allan warf eine Skizze auf die Tafel, und sie studierten seinen gebräunten Unterarm mit den tätowierten gekreuzten Hämmern, es war der Arm eines trainierten Tennisspielers und Fechters. Sie studierten Allan wie einen Boxer, auf den man setzen will. Der Mann war gut, ohne Zweifel. Man konnte 61 auf ihn verlieren und brauchte sich nicht zu schämen. Es war Lloyds Blick! Sie wußten, daß er mit zwölf Jahren Pferdejunge in einer Kohlengrube war und daß er sich im Laufe von zwanzig Jahren aus einer Tiefe von achthundert Metern unter der Erde bis empor auf den Roofgarden des Atlantic gearbeitet hatte. Das war etwas. Es war auch etwas, dieses Projekt auszuarbeiten, aber das weitaus Schwerere und Bewunderungswürdigere war, daß er es fertiggebracht hatte, dreißig Menschen, für die ein Tag ein Kapital bedeutet, zu einer bestimmten Stunde hierher zu beschwören und sie zu zwingen, ihm bei einer Temperatur von neunzig Grad Fahrenheit zuzuhören. Vor ihren Augen schien sich das seltene Schauspiel abzuspielen: einer kam den Glasberg herauf zu ihnen, gesonnen, seinen Platz zu beanspruchen und zu verteidigen.

Allan sagte: »Zur Verwaltung der Stollen und für den Betrieb brauche ich eine Stromstärke, die etwa jener der gesamten Niagara-Power-Works gleichkommt. Der Niagara ist nicht mehr zu haben, so werde ich mir meinen eigenen Niagara bauen!«

Und sie erwachten aus ihren Gedanken und sahen Allan ins Gesicht.

Noch etwas fiel ihnen an diesem Burschen auf: er hatte während des ganzen Vortrages weder gelächelt noch einen Scherz gemacht. Humor schien nicht gerade seine Sache zu sein. Nur einmal hatte die Gesellschaft Gelegenheit gehabt zu lachen. Das war, als die Photographen ein wütendes Zwischengefecht eröffneten und Allan sie anherrschte: »Stop your nonsense!«

Allan las am Schluß die Gutachten der ersten Kapazitäten der Welt, Gutachten von Ingenieuren, Geologen, Ozeanographen, Statistikern, Finanzgrößen aus New York, Boston, Paris, London, Berlin. 62

Das größte Interesse erweckte Lloyds Resümee, der die Finanzierung und die Rentabilität des Projektes ausgearbeitet hatte. Allan las es zuletzt, und die dreißig Gehirne arbeiteten mit ihrer größten Geschwindigkeit und Präzision.

Die Hitze schien sich urplötzlich verdreifacht zu haben. In Schweiß gebadet lagen sie alle in den Sesseln und das Wasser rann ihnen über die Gesichter. Selbst die Kühlapparate, die hinter den Gebüschen und Sträuchern aufgestellt waren und ununterbrochen kalte, ozongesättigte Luft aushauchten, schufen keine Linderung mehr. Es war wie in den Tropen. Chinesische Boys, in kühles, schneeweißes Linnen gekleidet, glitten lautlos zwischen den Sesseln hindurch und reichten Limonade, horses-neck, gin-fizz und Eiswasser. All das half nichts. Die Hitze stieg in Schwaden von der Straße herauf und wälzte sich als glühender Brodem, den man mit den Händen greifen konnte, über den Dachgarten. New York, aus Eisenbeton und Asphalt, war wie ein vieltausendzelliger Akkumulator, der die Glut der letzten Wochen aufgespeichert hatte und sie jetzt ausspie. Und ununterbrochen gellte und schrie die fieberige Broadway-Schlucht tief unten. New York, von den Menschen zwischen 3000 Meilen Ozean und 3000 Meilen Kontinent aufgetürmt, dieses kochende, schlaflose New York selbst schien zu fordern, zu beschwören, anzupeitschen zu immer größeren, immer unerhörteren Anstrengungen. New York selbst, das Gehirn Amerikas, schien zu denken, einen Riesengedanken hin und her zu wälzen, zu gebären . . .

In diesem Augenblick hörte Allan auf zu sprechen. Fast mitten im Satze. Allans Rede hatte gar keinen Schluß. Es war eine umgekehrte Rede, deren Steigerung am Anfang lag. Der Schluß kam so unerwartet, daß alle in der gleichen Lage sitzen blieben und ihre Ohren noch 63 arbeiteten, als Allan schon gegangen war, um sein Projekt der Diskussion zu überlassen.

Das Reklameluftschiff kreuzte über dem Dachgarten und trug die Worte über Manhattan dahin: »25 Jahre Lebensverlängerung! – Garantie! – Dr. Josty, Brooklyn!«

 


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