Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

10.

Niemand wußte, wie es geschehen war. Niemand wußte, wer es tat. Niemand sah es. Aber es war doch geschehen . . . .

Im dritten Stock stieg plötzlich ein Mann auf das Fenstersims. Dieser Mann hielt beide Hände als Schalltrichter vor den Mund und gellte unaufhörlich mit voller Kraft der Lungen auf das immer noch ins Gebäude drängende Menschenheer hinab. »Feuer! Das Building brennt. Zurück!«

Der Mann war James Blackstone, ein Bankclerk, den die Menschenmasse in den dritten Stock emporgedrückt hatte. Im Anfang hörte ihn niemand, denn alles ringsum schrie. Aber als das Gellen sich automatisch wiederholte, wandten 326 sich mehr und mehr Gesichter in die Höhe und plötzlich verstand die Straße, was Blackstone im dritten Stock schrie. Sie verstand nicht alles, nur das einzige alarmierende Wort: »Feuer!« Die Straße sah auch plötzlich, daß das, was wie neblige Kälte aussah, dieser graue Dunst, in dem Blackstone stand, nicht Kälte war, sondern Rauch. Der Rauch verdichtete sich und zog in breiten, trägen Streifen zum Fenster hinaus, um über Blackstones Kopf rasch in die Höhe zu wirbeln. Dann aber begann der Rauch rasch dichter zu werden, zu rollen, zu puffen, und Blackstone verschwand fast gänzlich. Blackstone aber verließ seinen Posten nicht. Er war ein mechanisch gellendes Warnungssignal, das die mit enormer blinder Energie vorwärtsdrängende Masse langsam zum Stillstand und endlich zum Rückzug zwang.

Blackstones Besonnenheit ist es zu danken, daß eine ungeheure Katastrophe vermieden wurde. Sein gellender Schrei weckte die Überlegung der sinnlos gewordenen Masse. Im Building befanden sich zurzeit viele Tausende. Sie strömten den Ausgängen zu, stießen aber hier auf eine Mauer von Menschen. Es schien zunächst, als ob die Menschen auf der Straße neugierig zusehen wollten, was jetzt geschehen würde. Endlich aber, aufgepeitscht durch Blackstones Schreie – wandten sie sich um und stießen hundertfältig Blackstones Warnungssignal aus: »Zurück, das Building brennt!« Die Menge wurde in die Nebenstraßen gepreßt, sie flutete ab.

Über die breiten Granittreppen des Gebäudes stürzte ein wilder Wasserfall von Köpfen, Armen und Beinen und Strudeln von Menschen, die auf die Straße rollten, sich aufrafften und entsetzt flohen. Sie alle hatten sie gesehen, während sie die Treppen hinabhagelten – da drinnen – die schrecklichen: die brennenden Lifts! Lifts, drei, vier, angefüllt mit brennenden Papierbündeln, die in die Höhe schossen und aus denen das Feuer herabtropfte. 327

Blackstone wurde plötzlich wieder im Rauch sichtbar. Er wurde rasch größer und auf einmal kam er näher: er war gesprungen! Blackstone stürzte in eine Gruppe Fliehender, und es ist sonderbar, daß niemand verletzt wurde. Die Fliehenden spritzten auseinander wie Schmutz, in den ein Steinblock fällt. Sie erhoben sich alle blitzschnell wieder und nur Blackstone blieb liegen. Man trug ihn fort, aber er erholte sich rasch, er hatte sich nur einen Fuß ausgerenkt.

Von Blackstones erstem Ruf bis zu seinem Sprung waren keine fünf Minuten vergangen. Zehn Minuten später wimmelten Pinestreet, Wallstreet, Thomasstreet, Cedar-, Nassaustreet und Broadway von Löschzügen, qualmenden Dampfspritzen und Ambulanzen. Alle Depots New Yorks spien Löschzüge aus.

Kelly, der Kommandeur der Wehr, erkannte augenblicklich die große Gefahr, in der das Geschäftsviertel schwebte. Er rief sogar »Bezirk 66« zu Hilfe, das heißt Brooklyn, was seit dem großen Brand des Equitable Buildings nicht mehr geschehen war. Die Nordpassage der Brooklynbrücke wurde gesperrt, und acht Dampfspritzen mit den zugehörigen Zügen flogen über die gespenstisch im Winterdunst hängende Brooklyn-Bridge nach Manhattan. Das Tunnelgebäude qualmte aus allen Fugen wie ein 32stöckiger Riesenofen. Es war umtobt von Schlachtsignalen, warnenden, schauerlichen Hornrufen, gellenden Glockenschreien, trillernden Pfiffen.

Das Feuer war im dritten Stock und in den Lifts gelegt worden, die man in die Höhe sausen ließ. Niemand konnte später sagen, wer diese Teufelei verübt hatte.

Die brennenden Lifts stürzten ab, wie Bergsteiger, denen an einer steilen Wand die Kräfte ausgehen, einer nach dem andern. Aus dem Souterrain prasselte nach jedem Sturz eine Wolke glühenden Staubs empor. Im Vestibül, im Liftschacht dröhnten Kanonenschüsse und knatterte 328 Schnellfeuer: die Hitze zog unter Krachen die Dielen der Schachtverschalung aus den Schrauben. Der Liftschacht wurde zu einer heulenden Säule von glühender Luft, die die brennenden Briefballen mit nach oben riß. Sie durchschlug den Lichtdom, und eine Fontäne von Funken stieß aus dem Dach empor. Das Building verwandelte sich in einen Vulkan, der brennende Papierfetzen und glühende Briefballen ausspie, die wie Raketen in die Luft stiegen und wie Geschosse über Manhattan dahinsurrten.

Um den glühenden Krater da droben aber kreiste in tollkühner Nähe eine Flugmaschine, wie ein Raubvogel, dessen Horst verbrannte: Photographen der Edison-Bio, die das schneebedeckte Hochgebirge von Wolkenkratzern mit dem aktiven Vulkan in der Mitte aus der Vogelperspektive kinematographisch aufnahmen.

Von dem Liftschacht aus kroch das Feuer durch die Türen in die einzelnen Stockwerke.

Die Fensterscheiben flogen mit einem hellen Knall heraus und zerschellten an den gegenüberliegenden Gebäuden. Die eisernen Fensterstöcke wurden von der Hitze gebogen, herausgeschleudert und wirbelten mit dem hohlen surrenden Geräusch von Aeroplanpropellern durch die Luft. Das Zink, mit dem Fensterbleche und Dachrinnen gelötet waren, schmolz und prasselte als glühender Regen herab. (Für diese Zinkklumpen zahlte man später hohe Preise!)

Kelly schlug eine heroische Schlacht. Er legte fünfundzwanzig Kilometer Schlauchleitungen, aus hundertzwanzig Rohren schoß er Hunderttausende von Gallonen Wasser in das brennende Gebäude. Im ganzen verschlang dieser Brand fünfundzwanzig Millionen Gallonen Wasser und er kostete der Stadt New York hundertdreißigtausend Dollar – dreißigtausend mehr als der große Brand des Equitable-Buildings 1911. 329

Kelly kämpfte mit dem Feuer und mit der Kälte zu gleicher Zeit. Die Hydranten froren ein, die Schläuche barsten. Fußdick lag die Eiskruste auf der Straße. Das Eis schlug einen dicken Mantel um das brennende Gebäude. Pinestreet war fußhoch mit Eiskörnern bedeckt, denn der Wind verwehte das Wasser und verwandelte es in Eislapilli, die auf die Straße herabregneten.

Kelly hatte mit seinen Bataillonen den Feind umzingelt und schlug acht Stunden lang alle Ausfälle zurück. Auf den Dächern ringsum fochten Kellys Bataillone, halb erstickt vom Rauch, mit Eisklumpen bedeckt in einer Kälte von zehn Grad Celsius. Zwischen ihnen schossen Journalisten hin und her und die Kinematographen drehten mit erstarrten Händen die Kurbel. Auch sie arbeiteten bis zur Erschöpfung.

Das Gebäude war aus Beton und Eisen und konnte nicht abbrennen, obwohl es glühte, daß Legionen von Fensterscheiben in der Nachbarschaft platzten. Aber es brannte vollkommen aus.

 


 << zurück weiter >>