Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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6.

Allan erfuhr bei seiner Ankunft in New York durch eine Depesche Harrimans, daß Maud und Edith vom Pöbel attackiert worden seien. Nicht mehr. Harriman besaß weder den Mut noch die Grausamkeit, Allan die ganze schreckliche Wahrheit zu sagen: daß Maud tot war und sein Kind im Sterben lag.

Als der Abend dieses entsetzlichen Tages dämmerte, kam Allan im Automobil von New York an. Er steuerte selbst, wie immer, wenn er eine außerordentliche Geschwindigkeit fuhr.

Sein Wagen flog in einem Höllentempo mitten durch die unabsehbare Menge von Weibern, Tunnelmännern, Journalisten und Neugierigen, die ihre Regenschirme aufgespannt hatten, zum Stationsgebäude. Jedermann kannte seinen schweren, staubgrauen Car und das Knarren seiner Hupe.

Im Augenblick war der Car von einer erregten Menge umringt. »Da ist Mac!« schrien sie. »Da ist er! Mac! Mac!«

Aber als Allan sich erhob, schwiegen sie plötzlich still. Der Nimbus, der seine Person umgab, dieser Nimbus aus Karriere, Genie, Kraft erblaßte auch jetzt nicht und flößte 226 der Menge Scheu und Achtung ein. Ja, nie erschien ihnen Allan achtunggebietender als in dieser Stunde, da ihn das Schicksal zerschmetterte. Und doch hatten sie, als sie da drinnen im Rauch um ihr Leben liefen, geschworen, ihn niederzuschlagen, wo sie ihn auch träfen.

»Macht Platz!« schrie Allan mit lauter Stimme. »Es ist ein Unglück geschehen, das bedauern wir alle! Wir werden retten, was zu retten ist!«

Nun aber schwirrten von allen Seiten Stimmen auf. Es waren die gleichen Ausrufe, die man schon seit heute morgen ausstieß. »Du bist schuld . . . Tausende sind tot . . . in einer Falle hast du sie gefangen . . .«

Allan blieb ruhig, den Fuß auf dem Trittbrett. Mit einem ungehaltenen, kühlen Blick begegnete er den erregten Stimmen, während sich sein breites Gesicht verfinsterte. Plötzlich aber – als er die Lippen öffnete zu einer Erwiderung – zuckte er zusammen. Ein Ruf hatte sein Ohr getroffen, der höhnische Wutschrei einer Frau, und dieser Schrei schnitt durch seinen ganzen Körper und er hörte die anderen Stimmen gar nicht mehr. Nur diesen einen gleichen Schrei, der wieder und wieder unerbittlich und furchtbar an sein Ohr hämmerte.

»Sie haben deine Frau und dein Kind erschlagen . . .«

Allan wuchs, streckte sich, als wolle er weiter sehen, sein Kopf machte eine hilflose Drehung auf den breiten Schultern, sein dunkles Gesicht wurde plötzlich fahl und sein gesammelter Blick zerrann in den Augen und flackerte entsetzt. In allen Augen ringsum las er, daß diese schreckliche Stimme die Wahrheit sagte. Alle Augen schrien ihm das Entsetzliche zu.

Da verlor Allan die Herrschaft über sich. Er war der Sohn eines Bergmanns, ein Arbeiter wie sie alle, und sein erstes Gefühl war nicht Schmerz, sondern Wut. 227

Er warf den Chauffeur zur Seite und ließ den Wagen anspringen, bevor er noch hinter dem Steuerrad saß. Der Car stürzte sich mitten in die Menge hinein, die sich schreiend und entsetzt zur Seite warf.

Dann sahen sie ihm nach, wie er in die regengraue Dämmerung hineinschoß.

»Da hat er es nun!« schrien höhnende Stimmen durcheinander. »Nun weiß er, wie es tut!«

Einzelne dagegen schüttelten den Kopf und sagten: »Es war nicht recht – eine Frau, ein kleines Kind . . .«

Die rasende Italienerin aber schrie höhnend und gellend. »Ich habe die ersten Steine geworfen. Ich! Ich habe sie an die Stirn getroffen! Ja, hin mußten sie werden.«

»Ihn hättet ihr erschlagen sollen! Mac! Mac ist schuld! Aber seine Frau? Sie war ja ein so gutes Mädchen!«

»Erschlagt Mac!« schrie die Italienerin, nach Luft ringend, im höchsten Diskant ihres schlechten Englisch. »Kill him! Schlagt ihn tot wie einen Hund!«

Das Haus lag verlassen in der elenden Dämmerung. Allan sah es an und wußte genug. Während er über den knirschenden Kiesweg des Vorgartens schritt, drängte sich ihm ein Erlebnis in den Sinn, das er vor Jahren, beim Bau der Bolivia-Anden-Bahn, gehabt hatte. Damals bewohnte er mit einem Freund eine Baracke zusammen und diesen Freund hatten Streikende erschossen. Er, Allan, kam ahnungslos von der Arbeit zurück, aber ganz rätselhafterweise machte die Baracke, in der der ermordete Freund lag, einen fremden, unerklärlich veränderten Eindruck auf ihn. Die gleiche Atmosphäre umlagerte sein Haus.

Im Vestibül roch es nach Karbol und Äther. Als er Ediths weißen kleinen Pelzmantel hängen sah, wurde es plötzlich dunkel vor seinen Augen und er wäre fast zusammengebrochen. Da hörte er eine Dienerin schluchzend 228 rufen: »Der Herr – der Herr –.« und bei dem Klang des Schmerzes und hilflosen Jammers dieser fremden Stimme faßte er sich wieder. Er trat in das halbfinstere Wohnzimmer, wo ihm ein Arzt entgegenkam.

»Herr Allan –!«

»Ich bin vorbereitet, Doktor,« sagte Allan halblaut, aber mit solch ruhiger, alltäglicher Stimme, daß ihm der Arzt mit einem raschen Blick verwundert in die Augen sah. »Auch das Kind, Doktor?«

»Ich befürchte, es ist nicht zu retten. Die Lunge ist verletzt.«

Allan nickte stumm und ging zur Treppe. Es war ihm, als wirbele das helle klingende Gelächter seines kleinen Mädchens durch das Stiegenhaus. Oben stand eine Schwester, an Mauds Schlafzimmer, und gab Allan ein Zeichen.

Er trat ein. Es brannte nur eine Kerze im Zimmer. Maud lag auf dem Bett, langgestreckt, sonderbar flach, wächsern, starr. Ihr Antlitz war schön und friedevoll, aber es schien, als ob eine kleine, demütige und bescheidene Frage in ihren blutleeren Zügen stehen geblieben sei, ein leises Erstaunen auf ihren halb geöffneten fahlen Lippen. Der Spalt ihrer geschlossenen Augen glänzte feucht, wie von einer letzten kleinen Träne, die zerflossen war. Nie in seinem Leben vergaß Allan dieses feuchte Glänzen unter Mauds fahlen Lidern. Er weinte nicht, er schluchzte nicht, er saß mit offenem Mund neben ihrem letzten Lager und sah Maud an. Das Unbegreifliche hatte seine Seele gelähmt. Er dachte nichts. Aber die Gedanken gingen blaß und wirr in seinem Kopfe hin und her, er achtete ihrer nicht. Das war sie, seine kleine Madonna. Er hatte sie geliebt, er hatte sie aus Liebe geheiratet. Er hatte ihr, die aus einfachen Verhältnissen herauskam, ein glänzendes Leben geschaffen. Er hatte sie behütet und ihr täglich gesagt, 229 auf die Automobile acht zu geben. Er hatte immer Angst um sie gehabt, ohne es ihr je zu sagen. Er hatte sie in den letzten Jahren vernachlässigt, weil ihn die Arbeit verschlang. Aber er hatte sie deshalb nicht weniger geliebt. Sein kleiner Narr, seine gute, süße Maud, das war sie nun. Verflucht sei Gott, wenn es einen gab, verflucht sei das hirnlose Schicksal.

Er nahm Mauds kleine, runde Hand und betrachtete sie mit hohlen, verbrannten Augen. Die Hand war kalt, aber sie mußte es ja sein, denn sie war tot, und die Kälte schreckte ihn nicht. Jede Linie dieser Hand kannte er, jeden Nagel, jedes Gelenk. Über die linke Schläfe hatte man den braunen seidigen Scheitel tiefer gestrichen. Aber er sah durch das Gespinst des Haares hindurch ein bläuliches, unscheinbares Mal. Hier hatte der Stein sie getroffen, dieser Stein, den er Tausende von Metern tief unter dem Meere hatte aus dem Berge sprengen lassen. Verflucht seien die Menschen und er selbst! Verflucht sei der Tunnel!

Ahnungslos war sie dem bösartigen Schicksal begegnet, als es blind und weitausschreitend vor Wut des Weges kam. Warum hatte sie seine Weisung nicht befolgt? Er hatte sie ja nur vor Schmähungen beschützen wollen.

Daran hatte er nicht gedacht! Warum war er nicht hier, gerade heute?

Allan dachte daran, daß er selbst zwei Menschen niedergeschossen hatte, als sie damals die Mine Juan Alvarez stürmten. Er hätte, ohne sich zu besinnen, Hunderte niedergeschossen, um Maud zu verteidigen. Er wäre ihr ins tiefe Meer gefolgt, keine Phrase, er hätte sie gegen hunderttausend wilde Tiere verteidigt, solange er noch einen Finger bewegen konnte. Aber er war nicht hier . . .

Die Gedanken irrten in seinem Kopf, Liebkosungen und Flüche, aber er dachte gar nichts. 230

Da pochte es zaghaft an der Tür. »Herr Allan?«

»Ja?«

»Herr Allan . . . Edith . . .«

Er stand auf und sah nach, ob die Kerze fest im Leuchter stecke, damit sie nicht etwa umfalle. Dann ging er zur Tür und von hier aus sah er Maud nochmals an. In seinem Geiste sah er, wie er sich selbst über die geliebte Frau warf, sie umschlang, schluchzte, schrie, betete, sie um Verzeihung bat für jeden Augenblick, da er sie nicht glücklich gemacht hatte – in Wirklichkeit aber stand er an der Tür und sah sie an.

Dann ging er.

Auf dem Wege zum Sterbezimmer seines kleinen Mädchens holte er seine letzten Kräfte aus der Tiefe seines Herzens herauf. Er wappnete sich, indem er sich alle schrecklichen Augenblicke seines Lebens ins Gedächtnis zurückrief, all jene Unglücklichen, die das Dynamit zerfetzt und Gesteinssplitter perforiert hatten; jenen einen, den das Schwungrad mitnahm und an der Wand zerquetschte . . . Und als er über die Schwelle trat, dachte er: »Denke daran, wie du einst Pattersons abgeschabten Stiefelschaft im verschütteten Flöz gespürt hast . . .«

Er kam gerade noch recht, um die letzten erlöschenden Atemzüge seines kleinen süßen Engels zu erleben. Ärzte, Pflegerinnen und Dienstboten standen im Zimmer umher, die Mädchen weinten und selbst die Ärzte hatten Tränen in den Augen.

Aber Allan stand stumm und trocknen Auges da. »Denke, im Namen der Hölle, an Pattersons abgeschabten Stiefel, denke und schlage nicht hin vor den Leuten.«

Nach einer Ewigkeit richtete sich der Arzt am Bett auf und man hörte ihn atmen. Allan dachte, die Leute würden das Zimmer verlassen, aber sie blieben alle. 231

Da trat er ans Bett und streichelte Ediths Haar. Wäre er allein gewesen, so hätte er gerne nochmals ihren kleinen Körper in den Händen gefühlt, so aber wagte er nicht mehr zu tun.

Er ging.

Als er die Treppe hinabstieg, brach plötzlich lautes, jammerndes Geschrei über seinem Kopf zusammen, aber es war in Wahrheit ganz still bis auf ein leises Schluchzen.

Unten stieß er auf eine Pflegerin. Sie blieb stehen, da sie sah, daß er ihr etwas zu sagen wünschte.

»Fräulein,« sagte er endlich mit großer Mühe, »wer sind Sie?«

»Ich bin Fräulein Evelin.«

»Fräulein Evelin,« fuhr Allan fort, fremd, flüsternd, weich klang seine Stimme, »ich möchte Sie um einen Dienst bitten. Ich selbst will es nicht, ich kann es nicht – ich möchte eine kleine Strähne Haar von meiner Frau und meinem Kind gern aufbewahren. Könnten Sie das besorgen für mich? Aber niemand darf es wissen. Wollen Sie mir das versprechen?«

»Ja, Herr Allan.« Sie sah, daß seine Augen voll Wasser standen.

»Ich werde Ihnen mein ganzes Leben lang dankbar sein, Fräulein Evelin.«

Im dunklen Wohnzimmer saß in einem Sessel eine Gestalt, eine schlanke Frau, die leise weinte und das Gesicht ins Taschentuch preßte. Als er vorbeikam, stand die Frau auf und streckte ihm die blassen Hände entgegen und flüsterte: »Allan –!«

Aber er ging vorüber und erst viele Tage später fiel ihm ein, daß die Frau Ethel Lloyd gewesen war.

Allan ging in den Garten hinunter. Es schien ihm schrecklich kalt geworden zu sein, tiefer Winter, und er wickelte 232 sich fest in den Mantel. Eine Weile ging er auf dem Tennisplatz hin und her, dann schritt er zwischen nassen Büschen hinab zum Meer. Das Meer leckte und rauschte und warf gleichmäßig atmend seine Gischtkrausen über den nassen, glatten Sand.

Allan blickte über die Büsche und sah auf den Giebel des Hauses. Dort lagen sie. Und er blickte nach Südosten über das Meer. Dort unten lagen die andern. Dort unten lag Hobby, mit verkrampften Fingern und dem zurückgebogenen Hals der Erstickten.

Es wurde immer kälter. Ja, ein schauerlicher Frost schien vom Meer herzukommen. Allan war ganz aus Eis. Er fror. Seine Hände erstarrten genau wie in größter Winterkälte und sein Gesicht wurde steif. Er sah aber ganz deutlich, daß nicht einmal der Sand gefroren war, obwohl es knisterte, als zertrete er seine Eiskristalle.

Allan ging eine Stunde im Sand auf und ab. Es wurde Nacht. Dann ging er durch den vereisten, gefrorenen Garten hindurch und trat auf die Straße.

Andy, der Chauffeur, hatte die Lampen eingeschaltet.

»Fahre mich zur Station, Andy, fahre langsam!« sagte Allan, tonlos und heiser, und stieg in den Wagen.

Andy wischte sich die Nase am Ärmel ab und sein Gesicht war naß von Tränen.

Allan vergrub sich in den Mantel und zog die Mütze tief über den Kopf. »Es ist merkwürdig,« dachte er, »als ich von der Katastrophe hörte, habe ich zuerst an den Tunnel gedacht und dann erst an die Menschen!« Und er gähnte. Er war so müde, daß er keine Hand rühren konnte.

Die Menschenmauer stand wie vorher, denn sie wartete auf die Rückkehr der Rettungszüge.

Niemand schrie mehr. Niemand schwang die Faust. Er war ihnen ja jetzt ähnlich geworden, er trug am gleichen 233 Schmerz. Die Leute machten von selbst Platz, als Allan hindurchfuhr und ausstieg. Nie hatten sie einen Menschen so bleich gesehen.

 


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