Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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Zweiter Teil

1.

Wie in der Tunnelstadt auf amerikanischem Boden, so fraßen sich Armeen schweißtriefender Menschen in Frankreich, Finisterre und auf den ozeanischen Stationen in die Erde hinein. Tag und Nacht stiegen an diesen fünf Punkten des Erdballs ungeheure Rauch- und Staubsäulen empor. Das hunderttausendköpfige Arbeiterheer rekrutierte sich aus Amerikanern, Franzosen, Engländern, Deutschen, Italienern, Spaniern, Portugiesen, Mulatten, Negern, Chinesen. Alle lebenden Idiome schwirrten durcheinander. Die Bataillone der Ingenieure bestanden zum größten Teil aus Amerikanern, Engländern, Franzosen und Deutschen. Bald aber strömten Scharen von Volontären aller technischen Hochschulen der Welt herbei, Japaner, Chinesen, Skandinavier, Russen, Polen, Spanier, Italiener.

An verschiedenen Punkten der französischen, spanischen und amerikanischen Küste, der Bermudas und der Azoren erschienen Allans Ingenieure und Arbeiterhorden und begannen wie an den Hauptbaustellen zu wühlen. Ihre Aufgabe war es, die Kraftwerke zu bauen, Allans »Niagara«, dessen Gewalt er brauchte, um seine Züge von Amerika nach Europa zu jagen, die ungeheueren Stollen zu beleuchten und zu belüften. Nach dem verbesserten System der Deutschen Schlick und Lippmann ließ Allan ungeheure Reservoire anlegen, in die das Meer zur Zeit der Flut 82 strömte, um von da in niedriger gelegene Bassins zu donnern, niederschießend die Turbinen zu drehen, die aus den Dynamos den Strom schlugen, und bei Ebbe ins Meer zurückzukehren.

Die Eisenhütten und Walzwerke von Pennsylvania, Ohio, Oklahoma, Kentucky, Colorado, von Northumberland, Durham, Südwales, Schweden, Westfalen, Lothringen, Belgien, Frankreich buchten Allans ungeheure Bestellungen. Die Kohlenzechen beschleunigten die Förderung, um den erhöhten Kohlenbedarf für Transport und Hochöfen zu decken. Kupfer, Stahl, Zement erlebten eine unerhörte Hausse. Die großen Maschinenfabriken Amerikas und Europas arbeiteten mit Überschichten. In Schweden, Rußland, Ungarn und Kanada wurden Wälder niedergemäht.

Eine Flotte von Frachtdampfern und Segelschiffen war ständig zwischen Frankreich, England, Deutschland, Portugal, Italien und den Azoren, zwischen Amerika und den Bermudas unterwegs, um Material und Arbeitskräfte nach den Baustellen zu transportieren.

Vier Dampfer des Syndikats, mit den ersten Kapazitäten (zumeist Deutschen und Franzosen) an Bord, schwammen auf dem Ozean, um die Maße und Lotungen der nach den bekannten ozeanographischen Messungen projektierten Tunnelkurve auf einer Breite von dreißig Seemeilen zu kontrollieren und nachzuprüfen.

Von all den Stationen, Arbeitsstellen, Dampfern, Industriezentren aus liefen Tag und Nacht Fäden nach dem Tunnel-Syndikat-Building, Ecke Broadway-Wallstreet, und von hier aus in eine einzige Hand – Allans Hand.

In wenigen Wochen angestrengtester Arbeit hatte Allan die große Maschine in Schwung gebracht. Sein Werk fing an, die Welt zu umspannen. Sein Name, dieser vor kurzem 83 noch gänzlich unbekannte Name, leuchtete wie ein Meteor über den Menschen.

Tausende von Journalen beschäftigten sich mit seiner Person und nach geraumer Zeit gab es keinen Zeitungsleser in der Welt mehr, der nicht ganz genau Allans Lebensgeschichte kannte.

Diese Geschichte aber war keineswegs alltäglich: Von seinem zehnten bis dreizehnten Jahr gehörte Allan zur Armee der unbekannten Millionen, die ihr Leben unter der Erde verbringen und an die niemand denkt.

Er war in den westlichen Kohlenbezirken geboren, und der erste Eindruck, der in seinem Gedächtnis haften geblieben war, war Feuer. Dieses Feuer stand nachts an verschiedenen Stellen am Himmel, wie feurige Köpfe auf dicken Leibern, die ihn schrecken wollten. Es kam aus Öfen gegenüber heraus in der Gestalt glühender Gebirge, auf die glühende Männer von allen Seiten Wasserstrahlen richteten, bis alles in einer großen weißen Dampfwolke verschwand.

Die Luft war voll von Rauch und Qualm, dem Geschrei von Fabrikpfeifen, es regnete Ruß, und zuweilen brannte nachts der ganze Himmel lichterloh.

Die Menschen erschienen immer in Haufen in den Straßen geschwärzter Backsteinhäuser, sie kamen in Haufen, sie gingen in Haufen, sie waren immer schwarz und selbst am Sonntag hatten sie Kohle in den Augen. In allen ihren Gesprächen kehrte stets das eine Wort wieder: Uncle Tom.

Vater und Fred, der Bruder, arbeiteten in Uncle Tom, wie alle Welt ringsum. Die Straße, in der Mac aufwuchs, war fast immer mit glänzendschwarzem Morast bedeckt. Danebenher floß ein seichter Bach. Die wenigen Gräser, die an seinen Ufern wuchsen, waren nicht grün, sondern schwarz. Der Bach selbst war schmutzig und meist schwammen buntschillernde Ölflecken darauf. Hinter dem Bach standen 84 schon die langen Reihen der Koksöfen, und hinter ihnen erhoben sich schwarze Eisen- und Holzgerüste, auf denen unaufhörlich kleine Karren liefen. Am stärksten aber fesselte den kleinen Mac ein großes, richtiges Rad, das in der Luft hing. Dieses Rad stand zuweilen auf Augenblicke still, dann begann es wieder zu »schnurren«, es wirbelte so rasch, daß man die Speichen nicht mehr sah. Plötzlich aber sah man die Speichen wieder, das Rad in der Luft drehte sich langsamer, das Rad stand still! Und darauf begann es wieder zu »schnurren.«

In seinem fünften Lebensjahre wurde Mac von Fred und den übrigen Pferdejungen in das Geheimnis eingeweiht, wie man ohne jegliches Anlagekapital Geld machen könne. Man konnte Blumen verkaufen, Wagenschläge öffnen, umgefallene Stöcke aufheben, Autos herbeiholen, Zeitungen aus den Trams sammeln und wieder in den Handel bringen. Voller Eifer nahm Mac seine Arbeit in der »City« auf. Jeden einzelnen Cent lieferte er an Fred ab und dafür durfte er die Sonntage mit den Pferdejungen in den »saloons« verbringen. Mac kam nun in das Alter, wo ein witziger Junge den ganzen Tag fährt, ohne einen Cent zu bezahlen. Wie ein Parasit lebte er auf allem, was rollte und ihn vorwärtsbrachte. Später vergrößerte Mac sein Geschäft und arbeitete auf eigene Rechnung. Er sammelte leere Bierflaschen in den Neubauten und verkaufte sie, indem er sagte: »Vater schickt mich.«

Aber er wurde abgefaßt, jämmerlich verprügelt und damit war das blühende Geschäft zu Ende.

In seinem achten Lebensjahr bekam Mac von seinem Vater eine graue Kappe und große Stiefel, die Fred getragen hatte. Diese Stiefel waren so weit, daß Mac sie mit einem einzigen Schlenkern des Fußes in die nächste Stubenecke befördern konnte. 85

Der Vater nahm ihn an der Hand und führte ihn nach Uncle Tom. Dieser Tag machte auf Mac einen unauslöschlichen Eindruck. Noch heute erinnerte er sich deutlich, wie er, erschreckt und aufgeregt, an der Hand des Vaters durch den lärmenden Zechenhof schritt. Uncle Tom war mitten im Betrieb. Die Luft bebte von Geschrei, Pfeifen, Kärrchen sausten durch die Luft, Eisenbahnwaggons rollten, alles bewegte sich. Hoch oben aber schwirrte die Förderscheibe, die Mac schon jahrelang aus der Ferne gesehen hatte. Hinter den Koksöfen stiegen Feuersbrünste und weiße Rauchwolken empor, Ruß und Kohlenstaub sank vom Himmel herab, es surrte und zischte in mannsdicken Röhren, aus den Kühlanlagen stürzten Wasserfälle, und aus dem dicken, hohen Fabrikschlot quoll unaufhörlich pechschwarzer Qualm in den Himmel empor.

Je näher sie aber den rußigen Backsteingebäuden mit den geplatzten Fensterscheiben kamen, desto lauter und wilder wurde das Getöse. Es schrie in der Luft wie tausend gemarterte kleine Kinder; die Erde zitterte.

»Was schreit so, Vater?« fragte Mac.

»Die Kohle schreit.«

Nie hatte Mac gedacht, daß die Kohle schreien könne!

Der Vater stieg die Treppe eines großen bebenden Hauses empor, dessen Wände Risse zeigten, und öffnete die hohe Tür ein wenig.

»Tag, Josiah! Ich will dem Jungen deine Maschine zeigen,« rief er hinein, und dann wandte er sich um und spuckte auf die Treppe. »Komm, Mac!«

Mac lugte in den großen reinlichen, mit Fliesen belegten Saal. Der Mann namens Josiah wandte ihnen den Rücken zu. Er saß in einem bequemen Stuhl, hatte die Hände an blanken Hebeln und starrte regungslos auf eine Riesentrommel im Hintergrunde des Saales. Ein Glockensignal 86 ertönte. Da bewegte Josiah einen Hebel und die großen Maschinen links und rechts begannen ihre Schenkel zu schwingen. Die Trommel, die Mac haushoch vorkam, lief immer rasender, und um sie herum sauste ein schwarzes armdickes Drahtseil.

»Der Korb geht nach Sohle sechs,« erklärte der Vater. »Er fällt rascher als ein Stein. Er wird gerissen. Josiah arbeitet mit achtzehnhundert Pferden.«

Mac war ganz wirr im Kopfe.

An einer weißen Stange vor der Trommel stiegen Pfeile auf und ab, und als die Pfeile in nächster Nähe waren, bewegte Josiah wieder einen Hebel und die sausende Trommel wurde langsamer und stand still.

Mac hatte nie etwas so Gewaltiges gesehen wie diese Fördermaschine.

»Thanks, Josiah!« sagte der Vater, aber Josiah wandte sich nicht um.

Sie gingen um das Maschinenhaus herum und stiegen eine schmale eiserne Treppe empor, auf der Mac in seinen großen Stiefeln nur mühsam vorwärtskommen konnte. Sie stiegen dem schrillen, winselnden Kindergeschrei entgegen, und hier war der Lärm so groß, daß man kein Wort mehr verstehen konnte. Die Halle war riesig, dunkel, voller Kohlenstaub und rasselnder eiserner Karren.

Macs Herz war beklommen.

Gerade da, wo die Kohlen winselten und schrien, übergab ihn der Vater den geschwärzten Männern und ging davon. Da sah Mac zu seinem Erstaunen einen Bach von Kohlen! Auf einem meterbreiten langen Band liefen unaufhörlich Kohlenstücke dahin, um endlich durch ein Loch im Boden wie ein endloser schwarzer Wasserfall in Eisenbahnwaggons hinabzustürzen. Zu beiden Seiten dieses langen Bandes aber standen geschwärzte Knaben, Knirpse wie Mac, und 87 griffen hastig in den Kohlenstrom hinein und suchten bestimmte Brocken heraus, die sie in eiserne Karren warfen.

Ein Junge schrie ihm ins Ohr, er solle zusehen. Dieser Knirps hatte ein geschwärztes Gesicht und erst nach einer Weile erkannte ihn Mac an einer Hasenscharte. Es war ein Junge aus der nächsten Nachbarschaft, mit dem er erst gestern noch eine Schlägerei gehabt hatte, weil er ihm seinen Spottnamen »Hase« nachrief.

»Wir suchen die Berge heraus, Mac,« schrie der »Hase« mit gellender Stimme in Macs Ohr, »wir dürfen die Steine nicht mit verkaufen.«

Am nächsten Tage schon sah Mac so gut wie die andern, was Kohle war und was Stein war, am Bruch, am Glanz, an der Gestalt. Und acht Tage später war es ihm, als sei er seit Jahren in dieser schwarzen Halle voller Lärm und Kohle gewesen.

Über den ewig gleitenden Kohlenbach gebeugt, mit den schwarzen Händen nach den »Bergen« fahrend – so stand Mac zwei volle Jahre, jeden Tag, an seinem bestimmten Platz, der fünfte von oben. Tausende von Tonnen Kohlen glitten durch seine kleinen raschen Hände.

Jeden Sonnabend holte er seinen Lohn, den er an den Vater (bis auf ein kleines Taschengeld) abgeben mußte. Mac war neun Jahre alt und ein Mann geworden. Wenn er am freien Sonntag in den »Saloon« ging, so trug er einen steifen Hut und einen Kragen. Eine Pfeife hing zwischen den Haifischzähnen; er kaute Gummi und hatte allezeit ein reichliches Reservoir von Speichel zwischen Zunge und Gaumen. Er war ein Mann, sprach wie ein Mann und hatte nur die helle, gellende Stimme eines Knaben, der die Woche in einem lärmenden Arbeitsraum verbringt.

Das war die Kohle über der Erde, und er, Mac, kannte sie und wußte in allen Dingen Bescheid – besser als der 88 Vater und Fred! Es gab hier Dutzende von Knaben, die nach einem Jahr keine Ahnung hatten, woher die Kohle alle kam, dieser endlose Strom von Kohlenblöcken, die in die Waggons polterten. Tag und Nacht klirrten die eisernen Türen des Schachtes und der triefende Förderkorb spie Tag und Nacht, ohne Pause, vier eiserne Hunde voll Kohlen aus, fünfzig Zentner auf einmal. Tag und Nacht rasselten die Hunde über die Eisenplatten der Halle, Tag und Nacht drehten sie sich an einer bestimmten Stelle über einer Öffnung am Boden (wie Hühner am Spieß!) und schütteten die Kohle hinunter und liefen leer davon. Von da unten aber stieg die Kohle auf einem Paternosterwerk herauf und wurde auf großen Sieben hin und her gerüttelt und hier schrie die Kohle. Die große Kohle, die Förderkohle, ging in die Waggons und fort. Ja, well, das wußten auch die anderen Jungen, aber mehr nicht! Mac hatte sich schon nach einem Monat gesagt, daß die Hunde, die durch die Halle polterten, unmöglich all die Kohle bringen konnten! Und so war es. Täglich kamen Hunderte von Waggons an – von Uncle Tom II, Uncle Tom III und Uncle Tom IV – und sie alle kamen zu Uncle Tom I, weil hier die Wäschereien und Kokereien und der »chemische Betrieb« waren. Mac hatte sich umgesehen und wußte alles! Er wußte, daß die Kohle, die durchs Sieb fiel, durch ein Paternosterwerk in die Wäscherei transportiert wurde. Hier lief sie durch Kessel, in denen das Wasser die Kohle fortspülte, während die Steine sanken. Die Kohle aber lief in eine Riesentrommel aus fünf Sieben, mit verschieden großen Löchern; hier ging sie herum, rasselnd und scharrend und wurde sortiert. Und die einzelnen Sorten liefen durch Kanäle zu verschiedenen Trichtern und fielen als Stückkohle, melierte Kohle, Nuß I, II, III, in die Eisenbahnwaggons und gingen fort! Die Feinkohle aber, all 89 die Splitter und der Staub – die warf man fort, glaubst du? Nein! Frage Mac, den zehnjährigen Ingenieur, und er wird dir sagen, daß man die Kohle »aussaugt«, bis nichts mehr von ihr da ist. Dieser Kohlenschutt lief eine eiserne, durchlöcherte Treppe empor. Diese ungeheure Treppe voll grauen Schmutzes schien stillzustehen, aber wenn man genau hinsah, so sah man, daß sie sich langsam – ganz langsam bewegte. In genau zwei Tagen lief jede Stufe hinauf, kippte um und schüttete den Staub in ungeheure Trichter. Von da kam der Staub in die Koksöfen, wurde Koks, und die Gase wurden in den hohen schwarzen Teufeln niedergeschlagen und Teer, Ammoniak und alles mögliche daraus gemacht. Das war der »chemische Betrieb« von Uncle Tom I und Mac wußte alles.

In seinem zehnten Jahr bekam Mac vom Vater einen dicken Anzug aus gelbem Tuch, eine wollene Halsbinde, und an diesem Tage fuhr er zum erstenmal ein – dahin, wo die Kohle herkam.

Die eisernen Schranken klirrten, die Glocke schlug an, der Korb stürzte ab. Zuerst langsam und dann rasend rasch, so schnell, daß Mac glaubte, der Boden, auf dem er saß, breche durch. Es wurde ihm einen Augenblick schwarz vor den Augen, sein Magen schnürte sich zusammen – dann aber hatte er sich zurechtgefunden. Mit einem gellenden Lärm sauste der eiserne Korb achthundert Meter tief hinab. Er schlug schwankend gegen die Führungsschienen, daß es klirrte und krachte, als springe er in Stücke. Das Wasser klatschte auf sie herab, die triefende schwarze Bretterverschalung des Schachtes flog im Schein ihrer Grubenlampen an den offnen Türen des Korbes in die Höhe. Mac sagte sich, daß es so sein müsse. Zwei Jahre lang hatte er täglich beim Schichtwechsel die Häuer und Bergleute mit ihren Lämpchen – die wie Glühwürmchen in der 90 dunklen Halle tanzten – aus dem Korb steigen sehen und mit dem Korb versinken, und nur zweimal war etwas passiert. Einmal war der Korb gegen das Dach gefahren und die Leute hatten sich die Schädel eingeschlagen, das andere Mal war das Seil gerissen und zwei Steiger und ein Ingenieur waren in den Sumpf gestürzt. Das konnte vorkommen, aber es kam nicht vor.

Plötzlich hielt der Korb und sie waren auf Sohle 8, und es war auf einmal ganz still. Ein paar bis zur Unkenntlichkeit geschwärzte, halbnackte Gestalten empfingen sie.

»Du bringst uns deinen Jungen, Allan?«

»Yep!«

Mac befand sich in einem heißen Tunnel, der, beim Schacht schwach erleuchtet, sich rasch in Finsternis verlor. Nach einer Weile schimmerte in der Ferne eine Lampe, ein Schimmel erschien, Jay, der Pferdejunge – den Mac schon lange kannte – an der Seite, und hinterher rasselten zwanzig eiserne Hunde voller Kohlen.

Jay grinste. »Hallo! Da ist er ja!« schrie er. »Mac, ich habe gestern noch drei drinks im Pokerautomaten gewonnen. Hej, hej, stop Boney!«

Diesem Jay wurde Mac beigegeben und einen ganzen Monat lang stapfte er wie ein Schatten an Jays Seite, bis er angelernt war. Dann verschwand Jay und Mac besorgte die Arbeit allein.

Er war auf Sohle 8 zu Hause und dachte gar nicht daran, daß ein Junge von zehn Jahren etwas anderes sein könne als ein Ponyboy. Anfangs hatte ihn die Finsternis und mehr noch die unheimliche Stille hier unten bedrückt. Ja, was für ein fool war er doch gewesen, zu glauben, daß es hier unten von allen Seiten picken und klopfen würde! Es war im Gegenteil totenstill, wie in einer Gruft, aber man konnte pfeifen, verstehst du? Nur beim Schacht, wo 91 der Korb lief und ein paar Leute die Hunde einschoben und herauszogen, bei den Flözen, wo die Hauer, zumeist unsichtbar für Mac, eingeklemmt zwischen dem Gestein hingen und die Kohle schlugen, war ein wenig Lärm. Eine Stelle aber gab es auf Sohle 8, wo ein furchtbarer Lärm war. Dort arbeiteten die Bohrer. Zwei Männer, die längst taub sein mußten, preßten die pneumatisch betriebenen Bohrer mit den Schultern gegen den Felsen, und hier war kein Wort zu verstehen.

Auf Sohle 8 arbeiteten einhundertundachtzig Menschen – und doch sah Mac selten jemand. Zuweilen einen Steiger, den Schießmeister, das war alles. Es war stets ein Ereignis, wenn irgendein Lämpchen im finsteren Stollen auftauchte und ein einsamer Wanderer angestapft kam. Seine ganze Schicht lang fuhr Mac in diesen öden, schwarzen, niedern Gängen hin und her. Er sammelte die Kohlenkarren bei den Flözen und Bremsbahnen und fuhr sie zum Schacht. Hier hängte er sein Pferd vor den fertigen Zug, leere Hunde, Hunde mit Gestein zum Ausfüllen der abgebauten Flöze, mit Stempeln, Balken und Brettern zum Verzimmern der Stollen, und brachte die Wagen an die betreffenden Stellen. Er kannte das ganze Labyrinth der Stollen, jeden einzelnen Balken, den der hereindrückende Berg geknickt hatte, alle Flöze, sie mochten heißen George Washington, Merry Aunt, Fat Billy oder wie immer. Er kannte die Wettervorhänge, aus denen schwere Grubengase stiegen. Er kannte jeden »Sargdeckel«, ins Gestein eingesprengte kurze Säulen, die plötzlich herausfahren können, um dich an die Wand zu nageln. Er kannte die Wetterführung genau, Türen, die der stärkste Mensch nicht öffnen konnte, bevor er nicht die dagegenpressende Luft durch ein kleines Fenster in der Türe hatte ausströmen lassen – dann pfiff die Luft wie ein eisiger Sturmwind. Und wieder, da gab 92 es Stollen voll dumpfer, heißer Luft, daß einem sofort der Schweiß vom Gesicht stürzte. Hundertmal in der Schicht durchquerte er diese eisigen und kochenden Stollen, ganz wie es tausend Pferdejungen in diesem Augenblick tun.

Nach der Schicht fuhr er aus mit den Kameraden im aufwärtsschießenden, klirrenden Korb, aus und wieder ein, ohne sich dabei etwas zu denken, genau wie ein Clerk den Lift nimmt, um in seine Office und von der Office auf die Straße zu kommen.

Da drunten auf Sohle 8 machte Mac die Bekanntschaft von Napoleon Bonaparte, gekürzt Boney. So hieß sein Schimmel. Boney hatte Jahre da unten in der Dunkelheit zugebracht und war halb blind. Sein Rücken war gebogen und der Kopf bis zum Boden gesenkt, von dem ewigen Bücken in den niedrigen Stollen. Boney hatte sich in den Pfützen zwischen den engen Schienen die Hufe breitgetreten, so daß sie wie Kuchen waren. Er war aus den besten Jahren heraus und die Haare gingen ihm aus. Um die Augen und die Nüstern hatte er fleischrote Ringe, die nicht hübsch aussahen. Dabei aber ging es Boney prächtig, er war dick und fett und phlegmatisch geworden. Er ging stets im gleichen Trott. Sein Gehirn hatte sich auf diesen Trott eingestellt und er konnte jetzt nicht mehr anders. Mac konnte mit der Bürste (von ihr wird gleich die Rede sein) vor ihm hertanzen – Boney ging nicht rascher. Mac konnte ihn schlagen – da tat dann Boney, der alte Schwindler, als werde er eifriger, er zeigte seinen Willen, nickte rascher mit dem Kopf, klatschte nachdrücklicher in den Schmutz – aber er ging nicht rascher.

Mac behandelte ihn nicht besonders zärtlich. Wenn er Boney zur Seite haben wollte, so rannte er ihm den Ellbogen in den Wanst; anders tat es Boney nicht, denn obwohl er sah, daß er Platz machen sollte und die Ohren 93 spitzte, ließ er es erst zu Rippenstößen kommen. Wenn Boney einschlief, was häufig vorkam, so schlug ihn Mac mit der Faust auf die Nase – denn Mac mußte fördern und flog hinaus, wenn er seine Karren nicht bewältigte. Er konnte keine Rücksicht nehmen. Trotz alledem waren sie gute Freunde. Zuweilen – wenn Mac sein Repertoire abgepfiffen hatte – klopfte er Boney auf den Hals und plauderte mit ihm: »He, old Boney, how are you to-day, old fellow? All right, are you?« –

Nach halbjähriger Bekanntschaft fiel es Mac auf, daß Boney schmutzig war. Er sah nur hier in der Finsternis, bei der Lampe, wie ein Schimmel aus. Hätte man ihn ans Tageslicht gebracht – holy Gee! – wie hätte Boney sich schämen müssen!

Mac nahm einen Anlauf und kaufte einen Striegel. In Boneys Kopf war keine Erinnerung mehr an diesen Komfort, das sah Mac, denn Boney wandte den Kopf. Das tat er aber selbst dann nicht, wenn neben ihm gesprengt wurde. Dann schwang Boney seinen dicken Hängebauch vor Vergnügen hin und her, um die Wollust des Bürstens auszugenießen. Mac versuchte es auch mit Wasser, denn er hatte es sich in den Kopf gesetzt, Boney schneeweiß herzurichten. Aber sobald Boney Wasser spürte, zuckte seine Flanke, als fahre ein elektrischer Strom durch ihn, und er wechselte unbehaglich die Füße. So blieb es beim trockenen Striegeln. Und wenn Mac lange genug striegelte, so streckte old Boney plötzlich den Hals vor und ließ ein tremulierendes, weinerliches Hundeheulen hören – die Ruine eines Gewiehers. Dann lachte Mac, daß der Stollen hallte. –

Mac hat Boney geliebt, ohne Zweifel. Noch heute spricht er zuweilen von ihm. Er hat ein außergewöhnliches Interesse für alte, krummrückige, fette Schimmel, und manchmal bleibt er stehen und klopft den Hals eines Schimmels und 94 sagt: »So sah Boney aus, Maud, siehst du, genau so!« Aber Maud hat so viele verschiedene Boneys schon gesehen, daß sie an der Ähnlichkeit mit dem old Boney zweifelt. Mac versteht nichts von Gemälden und hat nie einen Cent dafür ausgegeben. Aber Maud entdeckte einen primitiv gemalten, alten Schimmel unter seinen Sachen. Sie war übrigens schon über zwei Jahre mit Mac verheiratet, als ihr seine Sympathie für alte Schimmel auffiel. Einmal, in den Berkshirehills, hielt er plötzlich das Auto an.

»Sieh dir mal den Schimmel an, Maud!« sagte er und deutete auf einen alten Schimmel, der am Weg vor einem Bauernkarren stand.

Maud mußte laut heraus lachen. »Aber Mac, das ist ein alter Schimmel, wie es Tausende gibt.«

Das sah Mac natürlich ein und er nickte. »Das mag schon sein, Maud, aber ich hatte einmal genau den gleichen Schimmel.«

»Wann?«

»Wann?« Mac sah an ihr vorbei. Es gab nichts, was ihm schwerer wurde, als von sich selbst zu sprechen. »Das ist schon lange her, Maud. In Uncle Tom.«

Noch etwas hat Mac aus Uncle Tom mitgebracht. Das ist ein gellender Raubvogelschrei – hej! – hej! – den Mac unwillkürlich ausstößt, wenn ihm jemand vor den Reifen des Autos herumläuft. Diesen Schrei hat er in Uncle Tom gelernt. Damit trieb er Boney an, wenn er abfahren wollte, und damit stoppte er Boney, wenn ein Wagen aus den Schienen gesprungen war.

 

Mac war fast drei Jahre auf Sohle 8 und hatte den halben Erdumfang in den Stollen von Uncle Tom zurückgelegt, als die Grubenkatastrophe eintrat, an die sich heute noch viele erinnern. Sie kostete 95 zweihundertundzweiundsiebzig Menschen das Leben, aber sie sollte Macs Glück werden.

In der dritten Nacht nach Pfingsten, um drei Uhr morgens, ereignete sich eine Explosion schlagender Wetter in der untersten Sohle von Uncle Tom.

Mac brachte seinen Zug leerer Hunde zurück und pfiff einen Gassenhauer, den gegenwärtig der Phonograph in Johnsons »Saloon« jeden Abend brüllte. Plötzlich hörte er durch das Gerassel der eisernen Hunde hindurch ein fernes Donnern und blickte sich ganz mechanisch um, immer noch pfeifend: da sah er, wie die Stempel und Balken wie Streichhölzer knickten und der Berg hereinbrach. Er riß Boney mit aller Gewalt am Halfter und gellte ihm in die Ohren: »Hej, hej! Git up – giit up!« Boney, der erschrak und die Stempel hinter sich krachen hörte, versuchte einen Galopp, old Bonaparte streckte seinen plumpen Leib, daß er ganz flach lag, warf die Beine hinaus zu einem verzweifelten finish – dann verschwand er unter dem stürzenden Gestein. Mac lief wie besessen, denn der Berg kam hinter ihm her. Es galt! Aber zu seinem Entsetzen sah er, daß die Stempel und Balken vor ihm ebenfalls knackten und die Decke sich senkte. Da drehte er sich ein paarmal im Kreise, wie ein Kreisel, die Hände an den Schläfen und stürzte in einen Seitenverschlag. Der Stollen brach donnernd zusammen, der Seitenverschlag krachte, und gehetzt von stürzendem Gestein flog Mac dahin, rasend und flink. Endlich lief er nur noch im Kreise, die Hände am Kopf, und schrie!

Mac zitterte an allen Gliedern und war ganz ohne Kraft. Er sah, daß er in den Pferdestall gelaufen war, was Boney ebenfalls getan haben würde, wenn ihn der Berg nicht erfaßt hätte. Er mußte sich setzen, da ihn die Knie nicht mehr trugen, und da saß er nun, betäubt vom Schrecken, 96 und dachte eine Stunde lang gar nichts. Endlich beschäftigte er sich mit seiner Lampe, die ganz winzig brannte, und leuchtete die Umgebung ab; er war vollkommen eingeschlossen von Geröll und Kohle. Er versuchte zu denken, wie es gekommen war, aber es fiel ihm gar nichts ein.

So saß er lange Stunden. Er weinte aus Verzweiflung und Verlassenheit, dann raffte er sich zusammen. Er nahm ein Stück Kaugummi und seine Lebensgeister kehrten zurück.

Es war eine Schlagwetter- oder Kohlenstaubexplosion, das stand fest. Boney hatte der Berg erschlagen – und ihn, nun ihn würden sie wohl herausgraben!

Mac saß neben seiner kleinen Lampe am Boden und begann zu warten. Er wartete ein paar Stunden, dann überschlich ihn eine eisige, kalte Angst, und er fuhr erschrocken auf. Er nahm die Lampe und ging in die Stollen links und rechts hinein und leuchtete das Geröll ab, ob kein Weg offen sei. Nein! Es blieb also nichts übrig, als zu warten. Er untersuchte die Futterkiste, setzte sich auf den Boden, und ließ die Gedanken in seinem Kopfe tun, was sie wollten. Er dachte an Boney, an Vater und Fred, die mit ihm eingefahren waren, an Johnsons Bar. An das Lied des Phonographen. An den Pokerspielapparat in Johnsons Bar. Und in Gedanken spielte er eine unendliche Serie von Spielen: er warf seine fünf Cent ein, drehte die Kurbel, ließ los – und merkwürdig, immer gewann er: full hand, royal flush . . .

Aus diesem Spiel erweckte ihn ein eigentümlicher Laut. Es zischte und knackte wie im Telephon. Mac lauschte angestrengt. Da hörte er, daß er nichts gehört hatte. Es war die Stille. Seine Ohren schliefen ein. Aber diese schreckliche Stille war unerträglich. Er steckte die Zeigefinger in die Ohren und schüttelte sie. Er räusperte sich und spuckte laut 97 aus. Dann saß er, den Kopf gegen die Wand gelehnt und sah vor sich hin auf das Stroh, das für Boney da war. Schließlich legte er sich auf das Stroh, und mit einem jämmerlichen Gefühl der größten Hoffnungslosigkeit schlief er ein.

Er erwachte (wie er glaubte nach einigen Stunden) infolge von Nässe; die Lampe war ausgegangen und er plätscherte mit den Füßen im Wasser, als er einen Schritt machte. Er war hungrig, nahm eine Handvoll Hafer und begann zu kauen. Er setzte sich auf Boneys Barren, zusammengekauert, in die Dunkelheit blinzelnd und kaute Korn um Korn. Dabei lauschte er, aber er hörte weder Klopfen noch Stimmen, nur das Rieseln und Tröpfeln von Wasser.

Die Dunkelheit war furchtbar, und nach einer Weile sprang er herab, knirschte mit den Zähnen und raufte sich das Haar, während er toll vorwärtsrannte. Er stieß gegen die Mauer, rannte zwei-, dreimal den Kopf dagegen und hieb sinnlos mit den Fäusten aufs Gestein ein. Seine verzweifelte Raserei dauerte nicht lange, dann tastete er sich den Weg zum Barren zurück und fuhr fort, Hafer zu kauen, während er die Tränen laufen ließ.

Stundenlang saß er so. Nichts regte sich. Sie hatten ihn vergessen!

Mac saß, kaute Hafer und dachte. Sein kleiner Kopf begann zu arbeiten, er wurde ganz kühl. In dieser furchtbaren Stunde mußte es sich zeigen, was an Mac war. Und es zeigte sich!

Plötzlich sprang er wieder auf den Boden und schwang die Faust in der Luft: »Wenn those blasted fools mich nicht holen,« schrie er, »so werde ich mich selbst ausgraben!«

Aber Mac begann nicht sofort zu wühlen. Er nahm wieder auf dem Barren Platz und dachte lange und 98 sorgfältig nach. Er zeichnete sich im Kopf den Plan der Sohle beim Pferdestall. Im Südstollen war es unmöglich! Wenn er überhaupt herauskam, so konnte es nur durch Merry Aunt, Pattersons Flöz, sein. Die Abbaustelle dieses Flözes lag siebzig, achtzig, neunzig Schritte vom Stall entfernt. Das wußte Mac ganz genau. Die Kohle in Merry Aunt war schon durch den Druck des Gebirges brüchig geworden. Das war von großer Wichtigkeit.

Noch um ein Uhr hatte er zu Patterson hinaufgeschrien: »He, Pat, Hikkins sagt, wir fördern nur noch Dreck!«

Pats schwitzendes Gesicht war im Lichtkreis der Lampe erschienen und Pat hatte wütend geheult: »Hikkins shall go to the devil, sag' ihm das, Mac! To hell, Mac! Merry Aunt ist nichts als Dreck, der Berg hat sie zerdrückt. Hikkins soll das Maul halten, Mac, sag' ihm das, sie sollen besser versetzen!«

Pat hatte das Flöz mit neuen guten Stempeln solid gestützt, denn er hatte befürchtet, daß ihn das Gebirge totschlagen werde. Das Flöz war steil, zweiundfünfzig Meter hoch und führte über eine Bremsbahn auf Sohle 7.

Mac zählte die Schritte ab, und als er siebzig gezählt hatte, wurde ihm eiskalt, und als er fünfundachtzig gezählt hatte und ans Gestein stieß, jubelte er hell auf.

Eiskalt vor Energie, mit harten Sehnen und Muskeln machte er sich sofort an die Arbeit. Nach einer Stunde hatte er – knietief im Wasser stehend – eine große Nische aus dem Geröll geschlagen. Aber er war erschöpft und wurde in der schlechten Luft seekrank. Er mußte ausruhen. Nach einer Pause arbeitete er weiter. Langsam und besonnen. Er mußte die Steine oben und zu beiden Seiten abtasten, um sich zu sichern, nicht verschüttet zu werden, Steinsplitter und Steine zwischen gefährlich hängende Brocken treiben, Stempel und Bretter aus dem Stall zum Stützen holen 99 und die Felsstücke herauswälzen. So arbeitete Mac stundenlang, keuchend, kurz und heiß atmend. Dann war er total erschöpft und schlief auf dem Barren ein. Sobald er erwachte, lauschte er, und als er nichts hörte, machte er sich wieder an die Arbeit.

Er grub und grub. Mac grub auf diese Weise einige Tage – und im ganzen waren es doch nur vier Meter! Hundertmal hat er später geträumt, daß er gräbt und gräbt und sich durchs Gestein wühlt . . .

Dann fühlte er, daß er an der Mündung des angeschlagenen Flözes war. Er fühlte es deutlich an dem feinen Kohlenstaub, der da lag von den abgerutschten Kohlen. Mac füllte sich die Taschen mit Hafer und stieg in das Flöz ein. Die meisten Stempel standen, der Berg hatte nur wenig Kohle hereingedrückt, und Mac jauchzte und zitterte vor Freude, als er merkte, daß sich die Kohle leicht wegschieben ließ, denn er hatte zweiundfünfzig Meter vor sich. Sich von Stempel zu Stempel schiebend, stieg er das schwarze Flöz in die Höhe. Zurück konnte er jetzt nicht mehr, denn er verschüttete sich selbst den Weg. Plötzlich spürte er einen Stiefel und am rauhen, abgeschürften Leder erkannte er sofort Pattersons Stiefel. Old Pat lag da, verschüttet, und der Schrecken und das Entsetzen lähmten Mac derartig, daß er lange Zeit untätig kauern blieb. Noch heute wagt er es nicht, an diese grauenhafte Stunde zu denken. Als er wieder zu sich kam, kroch er langsam höher. Dieses Flöz war in normaler Verfassung leicht in einer halben Stunde zu besteigen. Aber da Mac erschöpft und schwach war, die Kohle in ganzen Tonnen wegräumen mußte und vorsichtig erst zu untersuchen hatte, ob die Stempel noch standen, so dauerte es lange bei ihm. Schweißtriefend, zerschlagen erreichte er die Bremsbahn. Diese Bremsbahn führte von Sohle 8 direkt zur Sohle 7. 100

Mac legte sich schlafen. Er erwachte wieder und kletterte langsam die Gleise hinauf.

Endlich war er oben. Der Stollen war frei.

Mac kauerte sich nieder und kaute Hafer und leckte seine nassen Hände ab. Dann machte er sich auf den Weg zum Schacht. Er kannte die Sohle 7 so genau wie die Sohle 8, aber verschüttete Stollen zwangen ihn immer wieder, den Weg zu ändern. Er wanderte stundenlang, bis das Blut in seinen Ohren rauschte. Zum Schacht mußte er, zum Schacht – die Glocke ziehen . . .

Plötzlich aber – als er schon zitterte vor Angst, nun hier eingeschlossen zu sein – plötzlich sah er rötliche Lichtfunken. Lampen! Es waren drei.

Mac öffnete den Mund, um zu schreien – aber er brachte keinen Ton heraus und brach zusammen.

Es ist möglich, daß Mac doch geschrien hat, obschon zwei von den Männern schworen, nichts gehört zu haben, während der dritte behauptete, es sei ihm gewesen, als habe er einen leisen Schrei gehört.

Mac fühlte, daß ihn jemand trug. Dann fühlte er, daß er sich im ausfahrenden Korb befand, und zwar erwachte er, weil der Korb so langsam ging. Dann fühlte er, wie man Decken über ihn breitete und ihn wieder trug – und dann fühlte er nichts mehr.

Mac war sieben volle Tage im Berg eingeschlossen gewesen, obschon er glaubte, es seien nur drei gewesen. Von allen Leuten auf Sohle 8 war er der einzig Gerettete. Wie ein Gespenst kam der Pferdejunge aus der zerstörten Sohle herauf. Seine Geschichte ging seinerzeit durch alle Blätter Amerikas und Europas. Der Pferdejunge von Uncle Tom! Sein Bild, wie man ihn hinaustrug, zugedeckt, und seine geschwärzte kleine Hand hing herab, wie er im Hospital im Bett aufrecht saß, erschien in allen Journalen. 101

Die ganze Welt lachte gerührt über Macs erste Bemerkung, als er erwachte. Er fragte den Arzt: »Haben Sie nicht etwas Kaugummi, Sir?« – Diese Bemerkung war aber ganz natürlich. Macs Mundhöhle war ausgetrocknet, er hätte ebensogut um Wasser bitten können.

Mac war in acht Tagen gesund. Als man ihm auf seine Frage nach Vater und Fred ausweichend antwortete, schlug er die mageren Hände vors Gesicht und weinte, wie ein Knabe von dreizehn Jahren weint, der plötzlich allein auf der Welt steht. Sonst aber ging es dem kleinen Mac vorzüglich. Er wurde gefüttert, alle Welt schickte ihm Kuchen, Geld, Wein. Damit aber wäre Macs Erlebnis zu Ende gewesen, wenn nicht eine reiche Dame in Chikago – gerührt durch das Schicksal des verwaisten Pferdejungen – sich seiner angenommen hätte. Sie leitete fortan seine Erziehung.

Mac kam es nicht in den Sinn, daß man etwas anderes werden könne als Bergmann, und so sandte ihn seine Patronesse auf eine Bergakademie. Nach beendetem Studium kehrte Mac als Ingenieur nach Uncle Tom zurück, wo er zwei Jahre blieb. Darauf ging er in die Silbermine Juan Alvarez in Bolivia – in eine Gegend, wo ein Mann genau wissen mußte, wann der richtige Moment für einen gutsitzenden Faustschlag gekommen war. Die Mine verkrachte und Mac leitete hierauf den Bau der Tunnel der Bolivia-Anden-Bahn. Hier war ihm seine »Idee« gekommen. Die Durchführung seiner Idee hing von verbesserten Gesteinsbohrern ab – und so machte sich Mac an die Arbeit. Der Diamant der Diamantbohrer mußte durch ein billiges Material von annähernder Härte ersetzt werden. Mac trat bei den Versuchswerkstätten der Edison Works Limited ein und versuchte einen Werkzeugstahl außerordentlicher Härte zu schaffen. Nachdem er zwei Jahre 102 mit Zähigkeit gearbeitet hatte und seinem Ziele nahe war, schied er aus den Edison Works aus und machte sich selbständig.

Sein Allanit machte ihn rasch wohlhabend. Zu dieser Zeit lernte er Maud kennen. Er hatte nie Zeit gehabt, sich um Frauen zu kümmern und machte sich nichts aus ihnen. Maud aber gefiel ihm auf den ersten Blick! Ihr zarter brauner Madonnenkopf, ihre warmen, großen Augen, die in der Sonne bernsteinfarben aufleuchten konnten, ihre ein wenig versonnene Art (sie trauerte damals um ihre Mutter), ihr rasch entzündetes und entzücktes Wesen, all das machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Besonders ihr Teint tat es ihm an. Es war die feinste, reinste und weißeste Haut, die er je gesehen hatte, und er begriff nicht, daß sie nicht beim kleinsten Luftzug zerriß. Es imponierte ihm, wie mutig sie ihr Leben in die Hand nahm. Sie gab damals Klavierunterricht in Buffalo und war von früh bis nachts tätig. Er hörte sie einmal über Musik, Kunst und Literatur sprechen – lauter Dinge, von denen er gar nichts verstand – und seine Bewunderung ihres Wissens und ihrer Klugheit war grenzenlos. Er verschoß sich regelrecht in Maud und beging die gleichen Dummheiten wie alle Männer in dieser Lage. Anfangs hatte er gar keinen Mut, und es gab Stunden, da er ehrlich verzweifelt war. Eines Tages aber entdeckte er einen Blick in Mauds Augen – was für ein Blick war es doch? – und dieser Blick gab ihm Mut. Kurz entschlossen machte er ihr einen Antrag, und einige Wochen darauf heirateten sie. Hierauf widmete er drei weitere Jahre rastloser Tätigkeit der Ausarbeitung seiner »Idee«.

Und nun war er Mac, ganz einfach Mac, den die Volkssänger in den Concerthalls der Vorstadt besangen. 103

 


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