Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierter Teil

1.

Mac Allan stand wie ein geißelschwingendes Phantom über der Erde und peitschte zur Arbeit an.

Die ganze Welt verfolgte voller Spannung das atemlose Rasen unter dem Meeresboden. Die Zeitungen hatten eine stehende Rubrik eingeführt, auf die sich alle Augen zuerst richteten, wie auf die Nachrichten von einem Kriegsschauplatz.

In den ersten Wochen des siebten Baujahres aber wurde Allan vom Geschick eingeholt. In den amerikanischen Stollen ereignete sich die große Oktoberkatastrophe, die sein Werk ernstlich gefährdete.

Kleinere Unglücksfälle und Störungen waren alltäglich. Es wurden Arbeiter von niederbrechendem Gestein verschüttet, beim Sprengen in Stücke gerissen, von Zügen zermalmt. Der Tod war im Tunnel zu Hause und holte sich die Tunnelmänner ohne viele Umstände heraus. In allen Stollen waren wiederholt große Mengen Wasser eingebrochen, die die Pumpen nur mit Mühe bewältigen konnten, und Tausende von Menschen liefen Gefahr zu ertrinken. Diese Tapferen standen zuweilen bis an die Brust im Wasser. Und oft waren diese einbrechenden Wasser kochend heiß und dampften wie Geiser. Allerdings ließen sich große Wassermengen in den meisten Fällen vorherbestimmen, so daß man seine Maßnahmen treffen konnte. Mit besonders konstruierten Apparaten, den 182 Sendeapparaten der drahtlosen Telegraphie ähnlich, wurden nach einem von Doktor Lövy, Göttingen, zuerst angeregten Verfahren elektrische Wellen in den Berg gesandt, die, sobald Wassermengen (oder Erzlager) vorhanden waren, reflektiert wurden und mit den ausgesandten Wellen in Interferenz traten. Wiederholt waren die Bohrmaschinen verschüttet worden und bei diesen Unfällen ging es nicht ohne Tote ab. Denn wer in der letzten Sekunde nicht flüchten konnte, wurde zermalmt. Kohlenoxydvergiftung, Anämie waren alltägliche Erscheinungen. Der Tunnel hatte sogar eine neue Krankheit hervorgerufen, ähnlich jener, die man bei den Arbeitern in den Caissons beobachtet, der Caissonkrankheit; sie wurde im Volk »the bends«, die »Beuge«, genannt. Allan hatte am Meer ein eigenes Erholungsheim für diese merkwürdigen Kranken eingerichtet.

Alles in allem aber hatte der Tunnel in sechs Jahren nicht mehr Opfer gefordert als andere technische Großbetriebe. In Summa 1713 Menschenleben, eine verhältnismäßig niedrige Ziffer.

Der zehnte Oktober des siebten Baujahrs aber war Allans schwarzer Tag . . . .

Allan pflegte alljährlich im Oktober eine Generalinspektion der amerikanischen Baustelle vorzunehmen, die mehrere Tage in Anspruch nahm. Bei den Ingenieuren und Beamten hieß sie das »jüngste Gericht«. Am 4. Oktober inspizierte er die »City«. Er besuchte die Arbeiterhäuser, Schlachthäuser, Bäder und Hospitäler. Er kam auch in Mauds Rekonvaleszentenheim, und Maud war den ganzen Tag über in Aufregung und wurde purpurrot über das Kompliment, das er ihrer Leitung machte. Er besuchte in den nächsten Tagen die Bürogebäude, Materialbahnhöfe und Maschinenhallen, in denen in endloser Reise die Dynamos schwangen und knisterten, die Expreß- und 183 Drillingspumpen, Grubenventilatoren und Kompressoren arbeiteten.

Am nächsten Tag fuhr er mir Hobby, Harriman und Ingenieur Bärmann in den Tunnel.

Die Tunnelinspektion dauerte mehrere Tage, denn Allan kontrollierte jede Station, jede Maschine, jede Weiche, jeden Querschlag, jedes Depot. Sobald sie an einer Stelle fertig waren, stoppten sie durch Signale einen Zug ab, schwangen sich auf einen Waggon und fuhren ein Stück weiter.

Die Stollen waren dunkel wie Keller. Zuweilen huschten Lichtschwärme vorbei: Eisengerüste, Menschenleiber, die in den Gerüsten hingen; eine rote Lampe blendete, die Glocke des Zuges gellte und Schatten flüchteten zur Seite.

Die dunkeln Stollen rauschten von den Zügen, die dahinflogen. Sie knackten und krachten, gellende Schreie flatterten in der fernen Finsternis. Es heulte irgendwo wie Wölfe, es blies und schnob wie ein Nilpferd, das auftaucht, dann hörte man mächtige, rauhe Stimmen von Zyklopen wütend streiten und man glaubte selbst einzelne Worte deutlich zu verstehen. Ein Gelächter kollerte durch die Stollen und schließlich vereinigten sich all diese sonderbaren und unheimlichen Laute, der Tunnel mahlte, rauschte, gröhlte und ganz plötzlich fuhr der Zug in ein Donnerwetter von Gellen und Getöse hinein, daß man sein eigenes Wort nicht mehr vernahm. Vierzig Kilometer hinter der Bohrmaschine dröhnte der Tunnel wie ein riesiges Widderhorn, in das die Hölle stieß. Hier gleißten die Arbeitsstätten von Licht und Scheinwerfern wie weißglühende Schmelzöfen.

Die Nachricht, daß Allan im Tunnel war, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Wo er hinkam – unkenntlich von Staub und Schmutz und doch sofort erkannt – begannen die Rotten »das Lied vom Mac« zu singen: 184

»Three cheers and a tiger for him!
Nehmt die Kappe ab vor Mac,
Mac ist unser Mann!
Mac ist ein Bursche, der alles kann,
God damn you, yes, solch ein Kerl ist Mac,
Three chaars and a tiger for Mac!«

Auf den Gesteintransporten saßen die abgelösten Mannschaften und die Züge ließen in dem Rollen und Grollen des Stollens ein Echo von Gesang zurück.

Mac war populär und – soweit es der fanatische Haß zwischen Arbeiter und Kapital zuließ – bei seinen Leuten beliebt. Er war einer wie sie, aus ihrem Stoffe, wenn auch von hundertfältiger Kraft.

»Mac –!« sagten sie, »ja, Mac ist ein Bursche –!« Das war alles, aber es war das höchste Lob.

Besonders seine »Sonntagsaudienzen« hatten viel zu seiner Popularität beigetragen. Auch über sie gab es ein Lied, das diesen Inhalt hatte: »Schreibe eine Zeile an Mac, wenn du Sorgen hast. Er ist gerecht und einer von uns. Besser noch, geh zur Sonntagsaudienz. Ich kenne ihn, er wird dich nicht fortschicken, ohne dich gehört zu haben. Er versteht das Herz des Arbeiters.«

Im »Fegfeuer« prasselten und surrten die elektrischen Nietmaschinen, wie Propeller bei Vollgas, das Eisen dröhnte. Auch hier sangen die Leute. Das Weiße der Augen blinkte aus den schmutzigen Gesichtern, die Mäuler öffneten sich gleichmäßig, aber man hörte keinen Ton.

Die letzten dreißig Kilometer des vorgeschobenen Südstollens mußten sie fast ganz zu Fuß zurücklegen oder auf langsam rollenden Materialzügen. Hier war der Stollen ein Wald roher Pfosten, ein Gerüst von Balken, erschüttert von einem unfaßbaren Getöse, dessen Wucht man immer wieder vergaß und stets neu erlebte. Die Hitze (48° C.) zerriß Pfosten und Balken, trotzdem sie häufig mit Wasser bespritzt wurden 185 und die Wetterführung unaufhörlich frischen, gekühlten Wind hereinschleuderte. Die Luft war schlecht, verbraucht, eine elende Grubenluft.

In einem kleinen Querschlag lag ein ölbeschmutzter halbnackter Leichnam. Ein Monteur, den der Herzschlag getroffen hatte. Umtobt von Arbeit lag er da und eilige Füße stiegen über ihn hinweg. Nicht einmal seine Augen hatte man geschlossen.

Dann kamen sie in die »Hölle«. Mitten in den heulenden Staubwirbeln stand ein kleiner, erdfahler Japaner, bewegungslos wie eine Statue, und gab die optischen Befehle. Bald rot, bald weiß, blendete der Lichtkegel seines Reflektors und zuweilen schoß er einen grasgrünen Lichtstrahl in eine Rotte wühlender Menschen hinein, so daß sie wie Leichen, die noch schufteten, aussahen.

Hier beachtete sie niemand. Kein Gruß, kein Gesang, völlig erschöpfte Menschen, die halb bewußtlos rasten. Vielmehr mußten sie hier auf die andern achten, um nicht von einem Pfosten, den keuchende Männer übers Geröll schleppten oder von einem Steinblock, den sechs Paar nervige, zerschundene Arme auf einen Karren schwangen, niedergeschlagen zu werden.

Der Stollen lag hier schon sehr tief, viertausendvierhundert Meter unter dem Meeresspiegel. Die glühende Atmosphäre, von Staubsplittern erfüllt, riß die Luftwege wund. Hobby gähnte unaufhörlich aus Lufthunger und Harrimans Augen traten aus seinem roten Gesicht hervor, als ersticke er. Allans Lungen aber waren an sauerstoffarme Luft gewöhnt. Die donnernde Arbeit, die hin- und herstürzenden Menschenhaufen machten ihn lebendig. Unwillkürlich bekamen seine Augen einen herrischen und triumphierenden Ausdruck. Er ging aus seiner Ruhe und Schweigsamkeit heraus, glitt hin und her, 186 schrie, gestikulierte und sein muskulöser Rücken glänzte von Schweiß.

Harriman kroch mit einer Gesteinsprobe in der Hand zu Allan und hielt sie ihm vor die Augen. Dann legte er die Hände vor den Mund und heulte in Allans Ohr: »Das ist das unbekannte Erz!«

»Erz?« tutete Allan auf dieselbe Art zurück. Es war ein rostbraunes, amorphes Gestein, das sich leicht brechen ließ. Geologisch die erste Entdeckung während des Tunnelbaus. Das unbekannte Erz, das den Namen Submarinium erhalten hatte, war stark radiumhaltig und die Smelting and Refining Co. erwartete jeden Tag, daß man auf große Lager stoßen würde. Harriman heulte das Allan ins Ohr.

Allan lachte: »Das könnte ihnen passen!«

Aus der Bohrmaschine schlüpfte ein rothaariger Mensch von ungeheurem Knochenbau, mit langen Gorillaarmen. Eine Säule von Dreck und Öl, grauen Staubbrei auf den schläfrigen Augendeckeln. Er sah wie ein Gesteinschlepper aus, war aber einer der ersten Ingenieure Allans, ein Irländer namens O'Niel. Sein rechter Arm blutete und das Blut vermischte sich mit dem Schmutz zu einer schwarzen Masse, wie Wagenschmiere. Er spie unausgesetzt Staub aus und nieste. Ein Arbeiter überspritzte ihn mit Wasser, wie man einen Elefanten duscht. O'Niel drehte und bückte sich im Wasserstrahl, vollkommen nackt, und kam triefend zu Allan heran.

Allan gab ihm die Hand und deutete auf seinen Arm.

Der Irländer schüttelte den Kopf und strich mit den großen Händen das Wasser aus den Haaren.

»Der Gneis wird grauer und grauer!« tutete er Allan ins Ohr. »Grauer und härter. Der rote Gneis ist ein Kinderspiel dagegen. Wir müssen jede Stunde neue Kronen auf die Bohrer setzen. Und die Hitze, pfui Teufel!« 187

»Wir gehen bald wieder in die Höhe!«

O'Niel grinste. »In drei Jahren!« heulte er.

»Habt ihr kein Wasser voraus?«

»Nein.«

Plötzlich wurden sie alle grün und gespenstisch fahl: der Japaner hatte seinen Lichtkegel auf sie gerichtet.

O'Niel schob Allan ohne weiteres zur Seite, die Bohrmaschine kam zurück.

Allan wartete drei Ablösungen ab, dann kletterte er auf einen Gesteinszug und fuhr mit Harriman und Hobby zurück. Sie schliefen augenblicklich erschöpft ein, aber Allan empfand, obschon er schlief, noch lange Zeit jede Störung, der der Zug auf seiner vierhundert Kilometer langen Reise nach oben begegnete. Die Bremsen schlugen an, die Waggons stießen zusammen, daß Steine auf die Geleise rollten. Gestalten kletterten herauf, Rufe, ein rotes Licht blendete. Der Zug schleppte sich über eine Weiche und hielt lange Zeit. Allan erwachte halb und sah dunkle Gestalten, die über ihn stiegen.

»Das ist Mac, tritt nicht auf ihn.«

Der Zug fuhr, hielt, fuhr wieder. Plötzlich aber begann er zu rasen und es schien Allan, als flögen sie dahin und er fiel in einen tiefen Schlaf.

Er erwachte, als das grelle, grausame Licht des Tages wie ein gleißendes Messer nach seinen Augen stieß.

Der Zug hielt vor dem Stationsgebäude und Mac City atmete auf: Das »jüngste Gericht« war vorüber und es war glimpflich abgelaufen.

Die Ingenieure gingen in den Baderaum. Hobby lag wie schlafend in seinem Bassin und rauchte eine Zigarette. Harriman dagegen plusterte und zischte wie ein Nilpferd.

»Kommst du mit zum Frühstück, Hobby?« fragte Allan. »Maud wird schon wach sein. Es ist sieben Uhr.« 188

»Ich muß schlafen,« erwiderte Hobby mit der Zigarette im Mund. »Heute nacht muß ich wieder hinein. Aber ich komme bestimmt zum Abendessen.«

»Schade, dann bin ich nicht hier.«

»New York?«

»Nein, Buffalo. Wir probieren einen neuen Bohrertyp, den der fette Müller erfunden hat.« Hobby interessierte sich nicht sehr für Bohrer und so sprang er auf den fetten Müller über. Er lachte leise. »Pendleton hat mir gestern aus Azora geschrieben, Mac,« sagte er schläfrig, »dieser Müller soll ja schrecklich saufen!«

»Diese Deutschen saufen ja alle wie die Stiere,« warf Allan ein und behandelte seine Füße mit der Bürste.

»Pendleton schreibt, er gibt Gartenfeste und säuft alle unter den Tisch.«

In diesem Augenblick ging der kleine Japaner an ihnen vorbei, geschniegelt und gebügelt; er hatte schon die zweite Schicht hinter sich. Er grüßte höflich.

Hobby öffnete ein Auge. »Good morning, Jap!« rief er.

»Das ist ein tüchtiger Kerl!« sagte Allan, als der Japaner die Türe hinter sich zuzog.

Vierundzwanzig Stunden später war der tüchtige Kerl schon längst tot.

 


 << zurück weiter >>