Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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8.

Der Rauch kroch vorwärts. Langsam, schrittweise, wie ein bewußtes Wesen, das erst tastet, bevor es einen Schritt macht. Er leckte in die Querschläge hinein, in die Stationen, schlüpfte an der Decke entlang und füllte alle Räume aus. Die Grubenventilatoren saugten, die Pumpen preßten Millionen von Kubikmetern frische Luft hinein. Und endlich, ganz unmerklich, begann der Rauch dünner zu werden.

Allan erwachte und blickte mit schmerzenden, entzündeten Augen in den milchigen Dunst hinein. Er wußte nicht sofort, wo er war. Dicht vor ihm lag eine niedrige, langgestreckte Maschine aus blankem Stahl und Kupfer, deren Mechanismus lautlos spielte. Das halb in den Boden versenkte Schwungrad schien still zu stehen, aber als er es länger betrachtete, entdeckte er auf und ab gleitende Glanzstreifen: es machte neunhundert Umdrehungen in der Minute und war so genau gearbeitet, daß es den Eindruck des Stillstehens hervorrief. Da fiel ihm auch ein, wo er sich befand. Er war noch immer in Smiths Station. Eine Gestalt wogte im Nebel. 241

»Sind Sie es, Smith?«

Die Gestalt kam näher und er erkannte Robinson.

»Ich habe Smith abgelöst, Allan,« sagte Robinson, ein langer, magerer Amerikaner.

»Habe ich lange geschlafen?«

»Nein, eine Stunde.«

»Wo sind die andern?«

Robinson berichtete, daß die andern die Strecke freizumachen versuchten. Der Rauch verteile sich und werde erträglicher. In der neunzehnten Station (380. Kilometer) befänden sich noch sieben Menschen am Leben.

Immer noch Lebende? Barg dieser schauerliche Stollen immer noch Menschen?

Und Robinson berichtete weiter, daß in der neunzehnten Station ein Ingenieur namens Strom die Maschinen bediene. Er habe sechs Menschen aufgenommen und alle befänden sich wohl. Die Ingenieure hätten sie noch nicht erreichen können, die telephonische Verbindung aber hergestellt und mit der Station gesprochen.

»Ist Hobby unter ihnen?«

»Nein.«

Allan blickte zu Boden. Und nach einer Pause sagte er. »Wer ist das – Strom?«

Robinson zuckte die Achseln.

»Das ist das Sonderbare. Niemand kennt ihn. Er ist kein Tunnelingenieur.«

Da erinnerte sich Allan, daß Strom ein Elektrotechniker war, der auf einem der Kraftwerke auf den Bermudas arbeitete. Später stellte sich folgendes heraus: Strom hatte lediglich den Tunnel besichtigt. Er war zur Zeit der Explosion in Bärmanns Bezirk gewesen und hatte die neunzehnte Station etwa drei Kilometer hinter sich. Diese Station hatte er vor einer Stunde besichtigt, und da er der 242 Bedienungsmannschaft dieser Station kein großes Vertrauen schenkte, so war er sofort zurückgekehrt. Strom war der einzige, der in den Tunnel hinein wanderte, anstatt auswärts zu fliehen.

Ein paar Stunden später traf ihn Allan. Strom hatte achtundvierzig Stunden lang gearbeitet, aber niemand sah ihm eine Erschöpfung an. Es fiel Allan besonders auf, wie ordentlich sein Haar noch gescheitelt war. Strom war nicht groß, schmalbrüstig, kaum dreißig Jahre alt, ein Deutschrusse aus den baltischen Provinzen, mit magerem bewegungslosen Gesicht, dunkeln kleinen Augen und schwarzem Spitzbart.

»Ich wünsche, daß wir Freunde werden, Strom!« sagte Allan zu dem jungen Mann, dessen Kühnheit er bewunderte, und drückte ihm die Hand.

Aber Strom veränderte keine Miene und machte nur eine kleine höfliche Verbeugung.

Strom hatte sechs verzweifelte Läufer in seiner Station aufgenommen. Die Türritzen gegen den Stollen hatte er mit ölgetränktem Werg verstopft, so daß die Luft verhältnismäßig erträglich war. Strom hatte ununterbrochen Luft und Wasser in den brennenden Stollen gepumpt. Er hätte seine Position aber höchstens noch drei Stunden halten können, dann wäre er elend erstickt – und er wußte es ganz genau!

Von dieser vorgeschobenen Station aus mußten sie zu Fuß vordringen. Über entgleiste, umgestürzte Waggons, Gesteinshaufen, Schwellen und geknickte Pfosten kletterten sie Schritt für Schritt vorwärts, in den Rauch hinein. Hier lagen die Leichname in Haufen! Dann kam eine freie Strecke und sie schritten rasch aus.

Plötzlich blieb Allan stehen.

»Horch!« sagte er. »War das nicht eine Stimme?« 243

Sie standen und lauschten. Sie hörten nichts.

»Ich hörte deutlich eine Stimme.« wiederholte Allan. »Lauschen Sie, ich werde rufen.«

Und in der Tat, auf Allans Ruf antwortete ein feiner, leiser Ton, so wie eine Stimme ganz fern in der Nacht klingt.

»Es ist jemand im Stollen!« sagte Allan erregt.

Nun glaubten auch die andern einen feinen, fernen Ruf zu vernehmen.

Rufend und aufhorchend suchten sie den finstern Stollen ab. Zuletzt stießen sie in einem Querschlag, in den die Wetterführung wie ein Sturmwind hineinpfiff, auf einen Greis, der am Boden saß und den Kopf gegen die Wand lehnte. Neben ihm lag ein toter Neger mit einem runden offenen Mund voller Zähne. Der Greis lächelte schwach. Er machte den Eindruck eines Hundertjährigen, abgemagert, welk, mit schneeweißen dünnen Haaren, die im Luftzug flatterten. Seine Augen waren unnatürlich aufgerissen, so daß rings um die Pupillen die weiße Hornhaut sichtbar war. Er war zu erschöpft, um sich noch bewegen zu können, er vermochte nur noch zu lächeln.

»Ich wußte ja, Mac, daß du kommen würdest, um mich zu holen!« flüsterte er kaum verständlich.

Da erkannte ihn Allan.

»Das ist ja Hobby!« rief er erschrocken und erfreut aus und zog den Greis empor.

»Hobby?« sagten die andern ungläubig, denn sie erkannten ihn nicht wieder.

»Hobby – –?« fragte Allan, der seine Freude und Rührung kaum verbergen konnte.

Hobby machte eine matte Bewegung mit dem Kopfe. »I am all right,« flüsterte er. Dann deutete er auf den toten Neger und sagte. »Der Nigger machte mir viele Arbeit, aber zuletzt ist er mir doch gestorben.« 244

Hobby schwebte wochenlang im Hospital zwischen Tod und Leben, bis ihn seine kräftige Natur durchriß. Aber er war nicht mehr der alte Hobby.

Hobbys Gedächtnis war gestört und er konnte nie sagen, wie er bis zu diesem vorgeschobenen Querschlag gekommen war. Tatsache war nur, daß er Sauerstoffapparate und Lampen bei sich hatte, die aus jenem kleinen Querschlag stammten, in dem am Tage vor der Katastrophe der tote Monteur gelegen war. Jackson, der Neger, war übrigens nicht erstickt, sondern vor Hunger und Entkräftung gestorben.

Vereinzelt kamen die Züge aus dem Tunnel, vereinzelt stürzten sie sich hinein. Die Bataillone der Ingenieure schlugen sich drinnen heldenhaft mit dem Rauch. Der Kampf war nicht ungefährlich. Dutzende erkrankten schwer an Rauchvergiftung und fünf starben, drei Amerikaner, ein Franzose und ein Japaner.

Die Arbeiterheere selbst blieben untätig. Sie hatten die Arbeit niedergelegt. Zu Tausenden standen sie in langen Reihen auf den Terrassen und sahen zu, was Allan und seine Ingenieure trieben. Sie standen und regten keine Hand. Die großen Lichtmaschinen, Ventilatoren und Pumpen wurden von Ingenieuren bedient, die vor Ermüdung kaum die Augen offen halten konnten. Und unter die frierenden Arbeiterhorden mischten sich die zahllosen Neugierigen, die die Atmosphäre des Schreckens angezogen hatte. Stündlich spien die Züge neue Scharen aus. Die Strecke Hoboken-Mac-City machte glänzende Geschäfte. Sie nahm in einer Woche zwei Millionen Dollar ein; das Syndikat hatte sofort die Fahrpreise erhöht. Das Tunnelhotel war angefüllt mit Reportern der Zeitungen. Tausende von Automobilen rollten durch die Schuttstadt, vollgepackt mit Damen und Herren, die einen 245 Blick auf die Stätte des Unheils werfen wollten. Sie plauderten und schwätzten und brachten reichhaltige Frühstückskörbe mit. Alle aber starrten mit geheimem Grauen auf die vier Rauchsäulen, die unausgesetzt aus den Glasdächern dicht über der Tunnelmündung in den blauen Oktoberhimmel emporwirbelten. Das war der Rauch, den die Ventilatoren aus den Stollen saugten. Und doch waren da drinnen Menschen! Stundenlang konnten diese Neugierigen warten, obschon sie nichts sahen, denn die Leichname wurden nur in der Nacht herausgebracht. Ein süßlicher Geruch von Chlorkalk drang aus dem Stationsgebäude.

Die Aufräumungsarbeiten nahmen viele Wochen in Anspruch. In dem zum größten Teil ausgebrannten Holzstollen war die Arbeit am schwersten. Man konnte nur schrittweise vorwärtsdringen. Die Leichen lagen hier in Haufen. Sie waren meistens schrecklich verstümmelt und zuweilen war es schwer zu unterscheiden, ob man einen verkohlten Pfosten oder einen verkohlten Menschen vor sich hatte. Sie waren überall. Sie lagen unter dem Schutt, sie hockten hinter angekohlten Balken und grinsten den Vordringenden entgegen. Die Mutigsten selbst überkam Furcht und Grausen in dieser entsetzlichen Totenkammer.

Allan war immer an der Spitze, unermüdlich.

In der Totenhalle und in den Sälen der Hospitäler spielten sich jene erschütternden Szenen ab, die sich nach jeder Katastrophe ereignen. Weinende Frauen und Männer, halb wahnsinnig vor Schmerz, suchen nach ihren Angehörigen, erkennen sie, schreien, werden ohnmächtig. Die meisten Verunglückten konnten aber nicht festgestellt werden.

Das kleine Krematorium abseits von Mac City arbeitete Tag und Nacht. Priester der verschiedenen Religionen und 246 Sekten hatten sich zur Verfügung gestellt und erfüllten abwechselnd das traurige Zeremoniell. Viele Nächte hindurch war das kleine Krematorium im Wald tageshell erleuchtet und noch immer standen endlose Reihen von Holzsärgen in der Halle.

Bei der zerschmetterten Bohrmaschine allein waren vierhundertachtzig Tote gefunden worden. Im ganzen verschlang die Katastrophe zweitausendachthundertsiebzehn Menschenleben.

 

Als die Trümmer der Bohrmaschine weggeräumt waren, wurde plötzlich ein gähnendes Loch sichtbar. Die Bohrer hatten einen ungeheuren Hohlraum angeschlagen. Im Lichte des Scheinwerfers zeigte es sich, daß der Hohlraum etwa hundert Meter breit war; die Höhe war gering; ein Stein brauchte dreieinhalb Sekunden bis er aufschlug, was einer Tiefe von sechzig Metern entsprach.

Die Ursache der Katastrophe ließ sich nie sicher feststellen. Aber die bedeutendsten Autoritäten waren der Ansicht, daß der durch chemische Zersetzung entstandene Hohlraum mit Gasen angefüllt gewesen sei, die in den Stollen eindrangen und beim Sprengen explodierten.

Allan ging noch an diesem Tage an die Erforschung des angeschlagenen Hohlraumes. Es war eine Schlucht von knapp tausend Meter Länge, vollkommen trocken. Grund und Wände bestanden aus jenem unbekannten, lockeren Erz, das die Geologen Submarinium getauft hatten und das stark radiumhaltig war.

Die Stollen waren in Ordnung gebracht, die Ingenieure befuhren regelmäßig die Strecke.

Die Arbeit aber stand still. 247

 


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