Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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5.

Maud schlief an diesem Tag sehr lange. Sie hatte eine verreiste Pflegerin im Hospital vertreten und war erst um zwei Uhr zur Ruhe gegangen. Als sie erwachte, saß die kleine Edith schon aufrecht in ihrem Bettchen und flocht, um sich die Zeit zu vertreiben, ihr hübsches blondes Haar zu dünnen Zöpfchen.

Kaum hatten sie zu plaudern begonnen, als die Dienerin eintrat und Maud ein Telegramm überreichte. Im Tunnel habe sich ein großes Unglück ereignet, sagte sie mit unruhigen Augen.

»Warum bringen Sie mir das Telegramm erst jetzt?« fragte Maud etwas unwillig.

»Der Herr hat mir telegraphiert, Sie ausschlafen zu lassen.«

Das Telegramm war von Allan unterwegs aufgegeben worden. Es lautete: »Katastrophe im Tunnel. Haus nicht verlassen. Ich komme gegen sechs Uhr abends.«

Maud erbleichte. Hobby! dachte sie. Ihr erster Gedanke galt ihm. Er war nach dem Abendessen in den Tunnel eingefahren; heiter und scherzend hatte er sich von ihr verabschiedet . . . 217

»Was ist, Mami?«

»Es ist ein Unglück im Tunnel geschehen, Edith.«

»Sind viele Menschen tot?« fragte die Kleine leichthin, mit singender Stimme, mit schönen kindlichen Gesten die Zöpfchen flechtend.

Maud antwortete nicht. Sie blickte vor sich hin. War er um diese Zeit tief drinnen in den Stollen gewesen?

Da schlang Edith die Arme um ihren Nacken und sagte tröstend:

»Du brauchst nicht traurig zu sein. Papa ist ja in Buffalo!«

Und Edith lachte, um Maud zu überzeugen, daß Papa in Sicherheit war.

Maud schlüpfte in den Bademantel und telephonierte in das Zentralbüro. Erst nach geraumer Zeit bekam sie Anschluß. Aber sie wußten nichts oder wollten nichts wissen. Hobby? Nein, von Mr. Hobby sei keine Nachricht da.

Tränen traten in Mauds Augen, rasche Tränen, die niemand sehen durfte. Beunruhigt und aufgeregt nahm sie mit Edith das Bad. Dieses Vergnügen genossen sie jeden Morgen. Es machte Maud ebenso kindliche Freude wie Edith, im Wasser zu plätschern, zu lachen und zu rufen im Badezimmer, wo die Stimmen so voll und merkwürdig widerhallten, die dampfende Brause sprühen zu lassen – und dann wurde sie kälter und kälter und die kleine Edith lachte, als ob man sie kitzle, weil es so eisig kalt wurde. Dann kam die Morgentoilette und dann das Frühstück. Das war Mauds schönste Stunde, die sie sich nicht nehmen ließ. Edith ging nach dem Frühstück in die »Schule«. Sie hatte ihr eigenes Schulzimmer mit einer schwarzen Tafel – so wünschte sie es – und einer richtigen kleinen Schulbank, denn sonst wäre es ja keine Schule gewesen.

Heute machte Maud das Bad kurz und mit dem 218 Vergnügen war es nichts. Edith versuchte die Mutter auf alle erdenkliche Art aufzuheitern und ihre kindlichen Bemühungen rührten Maud fast zu Tränen. Nach dem Bad telephonierte sie wieder ins Zentralbüro. Endlich gelang es ihr, Harriman zu sprechen, und er deutete ihr an, daß das Unglück leider größer sei, als man bis jetzt angenommen habe.

Maud wurde immer unruhiger. Nun erst fiel ihr Macs merkwürdige Weisung auf. »Das Haus nicht verlassen!« Weshalb? Sie verstand Mac nicht. Sie ging durch die Gärten ins Hospital hinüber und unterhielt sich flüsternd mit den diensttuenden Pflegerinnen. Auch hier Unruhe und Bestürzung. Sie plauderte ein wenig mit ihren kleinen Kranken, aber sie war so zerstreut, daß ihr nichts Rechtes einfiel. Schließlich kehrte sie nur unruhiger und erregter in ihr Zimmer zurück.

»Warum soll ich das Haus nicht verlassen?« dachte sie. »Es ist nicht recht von Mac, mir das Ausgehen zu verbieten!«

Sie versuchte es wieder mit dem Telephonieren, aber ohne Erfolg.

Dann nahm sie ein Tuch. »Ich will nachsehen,« sagte sie halblaut zu sich. »Mac kann sagen, was er will. Warum soll ich zu Hause bleiben? Gerade jetzt! Die Frauen werden in Angst sein und brauchen gerade jetzt jemand, der ihnen zuredet.«

Aber sie legte das Tuch wieder weg. Sie holte Macs Telegramm aus dem Schlafzimmer und las es zum hundertstenmal.

Ja, warum denn? Warum denn eigentlich?

War die Katastrophe so groß?

Ja, aber gerade dann durfte sie unmöglich zurückstehen! Es war ihre Pflicht, den Frauen und Kindern beizuspringen. 219 Sie wurde geradezu zornig über Mac und entschloß sich zu gehen. Sie wollte wissen, was eigentlich geschehen war. Aber doch zögerte sie noch immer, Macs sonderbare Weisung zu verletzen. Und dann war eine geheime Angst in ihr, sie wußte nicht warum. Endlich schlüpfte sie entschlossen in den gelben Gummimantel und band das Tuch übers Haar.

Sie ging.

Aber an der Türe überkam sie plötzlich ein unerklärliches Angstgefühl, daß sie heute, gerade heute, die kleine Edith nicht allein lassen dürfe. Ach, dieser Mac, all das hatte er angestiftet mit seiner dummen Depesche.

Nun holte sie Edith aus der »Schule«, hüllte sie in ein Cape und stülpte der vergnügten Kleinen die Kapuze über das blonde Haar.

»Ich komme in einer Stunde wieder!« sagte Maud und sie gingen.

Über den nassen Gartenweg hüpfte ein Frosch und Maud erschrak, da sie beinahe auf ihn getreten wäre.

Edith jauchzte. »Hui, der kleine Frosch, Mama! Wie naß er ist! Warum geht er aus, wenn es regnet?«

Der Tag war elend, mißmutig und häßlich.

Auf der Straße wurde der Wind heftiger, es blies und der Regen stob schräg und kalt herab. »Und gestern war es noch so heiß,« dachte Maud. Edith amüsierte es, mit großen Schritten über die Pfützen wegzustapfen. Nach wenigen Minuten sahen sie die Tunnelstadt liegen; mit ihren Bürohäusern, Schlöten und dem Wald von Kabelmasten lag sie grau und öde im Regen und Schmutz. Es fiel Maud sofort auf, daß keine Gesteinszüge liefen! Seit Jahren war es das erstemal! Aber die Schlöte qualmten wie immer.

Es ist ja gar nicht wahrscheinlich, daß er gerade am Ort der Katastrophe war, dachte sie. Der Tunnel ist so groß! Trotzdem aber irrten wirre und drohende Gedanken in ihr. 220

Plötzlich blieb sie stehen.

»Horch!« sagte sie. Edith lauschte und sah dabei zur Mutter empor.

Ein Gewirr von Stimmen drang hierher. Und nun sahen sie auch Leute, eine graue tausendköpfige Menge, die sich bewegte. Es war aber im Dunst gar nicht zu erkennen, welche Richtung sie nahmen.

»Warum schreien die Leute?« fragte Edith.

»Sie sind wegen des Unglücks beunruhigt, Edith. Wenn die Väter all der kleinen Kinder in Gefahr sind, so sind die Frauen natürlich in großer Sorge.«

Edith nickte und nach einer Weile sagte sie. »Es ist wohl ein großes Unglück, Mama?«

Maud schauerte zusammen.

»Ich glaube, ja,« antwortete sie, in Gedanken. »Es muß ein großes Unglück sein! Wir wollen rascher gehen, Edith.« Maud schritt aus, sie wollte – ja, was wollte sie? Sie wollte handeln . . .

Plötzlich sah sie einigermaßen erstaunt, daß die Leute näher kamen! Das Geschrei wurde lauter. Sie sah auch, daß eine Telegraphenstange, die im Augenblick noch aufrecht gestanden hatte, umsank und verschwand. Die Drähte über ihr zitterten.

Sie achtete nicht mehr auf Ediths lebhafte Fragen, sondern eilte rasch und erregt vorwärts. Was taten sie? Was war geschehen? Ihr wurde ganz heiß im Kopf und einen Augenblick dachte sie daran, umzukehren und sich ins Haus einzuschließen, wie Mac ihr befohlen hatte.

Aber es erschien ihr feige, unglückliche Menschen zu fliehen aus Angst vor dem Anblick fremden Unglücks. Wenn sie auch nicht viel nützen konnte, so konnte sie doch gewiß etwas tun. Und alle kannten sie ja, die Weiber und die Männer und grüßten sie und erwiesen ihr kleine Dienste, wo immer 221 sie erschien. Und Mac? Was würde Mac getan haben, wenn er hier wäre? Mitten unter ihnen würde er stehen . . . dachte Maud.

Die Menge wälzte sich heran.

»Weshalb schreien sie denn nur so?« fragte Edith, die ängstlich zu werden begann. »Und warum singen sie, Mama?«

Ja, in der Tat, sie sangen! Ein heulender, wirrer Gesang kam mit ihnen näher. Schreie und Rufe drangen daraus hervor. Es war ein ganzes Heer, verstreut über das graue Schuttfeld, Kopf an Kopf. Und Maud sah, daß eine Rotte eine kleine Feldlokomotive mit Steinwürfen demolierte.

»Mama –?«

»Was war das? Ich hätte nicht ausgehen sollen,« dachte Maud und blieb erschrocken stehen. Nun aber war es zu spät umzukehren . . .

Man hatte sie entdeckt. Sie sah, daß die vorderen die Arme gegen sie reckten und plötzlich ihren Weg verließen und auf sie zukamen. Zu ihrem Schrecken bemerkte sie, daß sie liefen und rannten. Aber sie faßte wieder Mut, als sie sah, daß es meistens Frauen waren. »Es sind ja nur Frauen . . .«

Sie ging ihnen entgegen, plötzlich von grenzenlosem Mitleid für diese Armen erfüllt. Oh, Gott, es mußte etwas Grauenhaftes geschehen sein!

Der erste Trupp der Weiber keuchte heran.

»Was ist denn geschehen?« rief Maud und ihre Anteilnahme war ungeheuchelt. Aber Maud erbleichte, als sie die Gesichter der Frauen sah. Sie sahen alle irrsinnig aus, verstört, triefend vom Regen, nur halb angekleidet, und ein wildes Feuer brannte in all den hundert Augen.

Man hörte sie nicht. Man antwortete ihr nicht. Die verzerrten Mäuler heulten triumphierend und schrill. 222

»Alle sind tot!« gellten ihr Stimmen entgegen, in allen Tonarten, in allen Sprachen. Und plötzlich schrie eine Frauenstimme: »Das ist Macs Weib, schlagt sie tot!«

Und Maud sah – sie traute ihren Augen nicht – daß ein zerlumptes Weib mit zerfetztem Kittel und vor Wut schielenden Augen einen Stein aufhob. Der Stein schwirrte durch die Luft und streifte ihren Arm.

Sie zog instinktiv die kleine, blasse Edith an sich und richtete sich auf.

»Was hat euch denn Mac getan?« rief sie und ihre Augen irrten voller Angst umher. Niemand hörte sie.

Die Rasenden hatten sie erkannt, das ganze wilde Heer von tobenden Menschen. Ein Geheul, das wie ein einziger Schrei klang, brandete empor. Steine schwirrten plötzlich von allen Seiten durch die Luft und Maud zuckte zusammen und zitterte am ganzen Körper. Nun sah sie, daß es Ernst war! Sie wandte sich um, aber überall waren sie, alle in zehn Schritt Abstand, sie war umzingelt. Und in all den Augen, in die ihr irrender entsetzter Blick hilfesuchend tauchte, brannte dieselbe Glut: Haß und Wahnsinn. Maud begann zu beten und der kalte Schweiß schlug aus ihrer Stirn: »Mein Gott – mein Gott – beschütze mein Kind!«

Unaufhörlich aber gellte eine Weiberstimme, wie ein schrilles Signal: »Schlagt sie tot! Mac soll bezahlen!«

Da traf ein Steinblock Ediths Brust, so heftig, daß sie wankte.

Die kleine Edith schrie nicht. Nur ihre kleine Hand zuckte in Mauds Hand und sie sah erschrocken zur Mutter empor, mit verwunderten Augen.

»O Gott, was tut ihr?« schrie Maud und kauerte sich nieder und umschlang Edith. Und die Tränen stürzten ihr vor Angst und Verzweiflung aus den Augen.

»Mac soll bezahlen!« 223

»Mac soll wissen, wie es tut!«

Ho! Ho! O, all diese rasenden Körper und unbarmherzigen Augen. Und die Hände schwangen Steine . . .

Wäre Maud feige gewesen, hätte sie sich in die Knie geworfen und die Hände ausgestreckt, vielleicht hätte sie im letzten Augenblick noch in diesen rasenden Menschen ein menschliches Gefühl entfachen können. Aber Maud, die kleine sentimentale Maud, wurde plötzlich mutig! Sie sah, daß Edith aus dem Mund blutete und totenbleich geworden war, die Steine hagelten, aber sie flehte nicht um Gnade.

Sie richtete sich plötzlich rasend auf, ihr Kind an sich gezogen, und schrie mit funkelnden Augen in all diese haßerfüllten Gesichter hinein: »Ihr seid Tiere! Gesindel seid ihr, schmutziges Gesindel! Wenn ich meinen Revolver hätte – niederschießen würde ich euch, wie Hunde! O, ihr Tiere! Ihr feigen, gemeinen Tiere!«

Da traf Maud ein mit großer Wucht geschleuderter Stein an die Schläfe und sie stürzte, mit den Händen ausgreifend, ohne Laut über Edith hinweg zu Boden. Maud war klein und leicht, aber es klang, als sei ein Pfahl niedergestürzt und das Wasser spritzte empor.

Ein wildes Triumphgeheul erscholl. Schreie, Gelächter, wirre Rufe: »Mac soll bezahlen! Ja bezahlen soll er, am eigenen Leibe soll er fühlen – in der Falle fing er sie – Tausende –«

Nun aber wurde kein Stein mehr geschleudert! Die rasende Menge zog plötzlich weiter. »Laßt sie liegen. sie werden schon von selbst aufstehen!« Nur die fanatische Italienerin beugte sich noch mit ihren entblößten hängenden Brüsten über die am Boden Liegenden und spie nach ihnen. Und nun die Häuser der Ingenieure!! Fort, vorwärts! Alle sollten sie daran glauben! Aber die Wut war nach dem Überfall auf Maud abgekühlt. Alle hatten das 224 dumpfe Gefühl, daß hier etwas geschehen sei, das nicht in Ordnung war. Truppe lösten sich ab und verstreuten sich über das Schuttfeld. Hunderte blieben unauffällig zurück und stolperten quer über die Schienen. Als die wütende Kopfgruppe, von der Italienerin angeführt, die Villen der Ingenieure erreichte, war sie so zusammengeschmolzen, daß ein einziger Polizist sie in Schach halten konnte.

Sie zerstreute sich nach und nach.

Und nun brach wieder der Schmerz aus, das Elend, die Verzweiflung. Überall liefen Frauen, die in die Schürze weinten. Im Regen liefen sie, im Wind, sie stolperten und achteten nicht auf den Boden.

 

Alle hatten sich rasend, grausam und schadenfroh, fortgerissen von einem dunkeln Massenwahnsinn, von Maud und Edith entfernt und die beiden lagen eine lange Zeit im Regen, mitten im Schuttfeld, von niemand beachtet.

Dann kam ein kleines Mädchen von zwölf Jahren mit herabhängenden roten Strümpfen zu ihnen. Sie hatte mit angesehen, wie man »Macs wife« mit Steinen beworfen hatte. Sie kannte Maud, denn sie war im vorigen Jahr lange Wochen im Hospital gelegen.

Dieses Mädchen wurde von einem schlichten menschlichen Impuls hierhergetrieben. Da stand sie nun mit ihren herabhängenden Strümpfen und wagte sich nicht heran. In einiger Entfernung standen ein paar Frauen und Männer, die sich ebenfalls nicht heranwagten. Endlich ging das Mädchen etwas näher, bleich vor Angst und da hörte sie ein leises Wimmern.

Sie wich erschrocken zurück und begann plötzlich rasch zu laufen.

Das Hospital lag wie ausgestorben im rieselnden Regen und das Mädchen wagte nicht zu klingeln. Erst als jemand 225 aus der Türe kam, eine Aufwärterin, trat das Mädchen ans Gitter und sagte, in die Richtung der Station deutend: »Sie liegen da drüben!«

»Wer liegt da drüben?«

»Macs wife and his little girl!«

Drunten in den Stollen liefen sie aber zu dieser Zeit immer noch . . .

 


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