Bernhard Kellermann
Der Tunnel
Bernhard Kellermann

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9.

Allan veröffentlichte eine Bekanntmachung an die streikenden Arbeiter. Er gab ihnen drei Tage Bedenkzeit, die Arbeit wieder aufzunehmen, andernfalls seien sie entlassen.

Ungeheure Meetings fanden auf den Schuttfeldern von Mac City statt. Sechzigtausend Menschen drängten sich Kopf an Kopf und von zehn Tribünen (Waggons) wurde zu gleicher Zeit gesprochen.

Unaufhörlich schallten die gleichen Worte durch die kalte dunstige Oktoberluft: der Tunnel – der Tunnel – Mac – Katastrophe – dreitausend Mann – das Syndikat, und wieder der Tunnel – der Tunnel . . .

Der Tunnel hatte dreitausend Menschen verschlungen und flößte den Arbeiterheeren Schrecken ein! Wie leicht hätten sie selbst drinnen in der glühenden Tiefe verkohlen und ersticken können – und wie leicht war es möglich, daß sich eine ähnliche Katastrophe, eine größere vielleicht noch, ereignete! Der Tod konnte auf noch gräßlichere Art über sie herfallen. Sie schauderten zusammen, wenn sie an die »Hölle« dachten. Eine Massenangst trat ein. Diese Angst griff auf die Baustellen auf den Azoren, Bermudas und in Europa über. Auch dort ruhte das Werk.

Das Syndikat hatte einzelne Arbeiterführer gekauft und schickte sie auf die Rednertribünen.

Die Gekauften traten für die sofortige Wiederaufnahme der Arbeit ein. »Wir sind sechzigtausend!« schrien sie. »Mit den andern Stationen und Nebenwerken sind wir hundertachtzigtausend! Der Winter steht vor der Tür! Wo wollen wir hin? Wir haben Frauen und Kinder. Wer wird uns zu fressen geben? Wir werden sämtliche Löhne des ganzen Arbeitsmarktes drücken und man wird uns verfluchen!« 248 Das sah jeder ein. Sie wiesen auf die Begeisterung hin, die man dem Werke entgegengebracht habe, auf das gute Verhältnis zwischen den Arbeitern und dem Syndikat, auf die relativ hohen Löhne. »Im ›Fegfeuer‹ und in der ›Hölle‹ hat mancher seine fünf, sechs Dollar täglich verdient, der sonst kaum zum Schuhputzen und Straßenkehren taugte. Lüge ich oder nicht?« Sie deuteten in die Richtung der Arbeiterkolonien und schrien. »Seht eure Häuser, eure Gärten, eure Spielplätze. Bäder habt ihr und Lesehallen. Mac hat Menschen aus euch gemacht und eure Kinder wachsen rein und gesund auf. Geht nach New York und Chikago und die Wanzen und Läuse fressen euch auf.« Sie betonten, daß sich in sechs Jahren kein größeres Unglück ereignet habe und die allergrößten Vorsichtsmaßregeln vom Syndikat ergriffen werden würden, um einer zweiten Katastrophe vorzubeugen.

Dagegen war nichts zu sagen, nein! Aber plötzlich kam die Angst wieder über sie und keine Worte der Welt konnten etwas ausrichten. Man schrie und pfiff und bewarf die Redner mit Steinen und erklärte ihnen ins Gesicht hinein, daß sie vom Syndikat bestochen seien.

»Niemand soll mehr eine Hand rühren für den verfluchten Tunnel!« Das war der Tenor der übrigen Redner. »Niemand!« Und ein donnernder Beifall, der meilenweit hörbar war, drückte die allgemeine Zustimmung aus. Diese Redner zählten alle Gefahren des Baus auf. Sie sprachen von all den Opfern, die der Tunnel schon vor der Katastrophe gefordert hatte. 1800 rund in sechs Jahren! War das nichts? Dachte niemand an die 1800, die überfahren, zerschmettert, zerdrückt worden waren? Sie sprachen von der »Beuge«, an der Hunderte wochenlang gelitten hätten und manche ihr ganzes Leben lang leiden würden.

»Mac ist durchschaut!« heulten diese Redner. (Zum 249 Teil waren sie von den Schiffahrtsgesellschaften bestochen, die die Vollendung des Tunnels möglichst hinausschieben wollten.) »Mac ist kein Freund der Arbeiter! Nonsens und Lüge! Mac ist der Henker des Kapitals! Der größte Henker, den die Erde je trug! Mac ist ein Wolf im Schafspelz! 180 000 Mann beschäftigt er! 20 000 in seiner höllischen Arbeit niedergebrochene Menschen pullt er jährlich in seinen Hospitälern auf, um sie dann zum Teufel zu jagen – Krüppel, fertig für immer! Mögen sie auf den Straßen verfaulen oder in Asylen verrecken, Mac ist das egal! Ein ungeheures Menschenmaterial hat er in diesen sechs Jahren vernichtet! Schluß! Mac soll sehen, woher er Leute bekommt! Er soll sich Schwarze aus Afrika kommen lassen, Sklaven für seine ›Hölle‹ – er soll die Sträflinge und Zuchthäusler von den Regierungen kaufen! Seht euch die Reihe von Särgen da drüben an! Zwei Kilometer lang ist die Reihe, Sarg an Sarg! Entscheidet euch!«

Tosen, Toben, Heulen! Das war die Antwort.

Tagelang tobte der Kampf in Mac City hin und her. Tausendmal wurden dieselben Argumente wiederholt, für und wider.

Am dritten Tage sprach Allan selbst.

Er hatte vormittags Maud und Edith eingeäschert und am Nachmittag – noch betäubt von Trauer und Schmerz – sprach er stundenlang zu den Tausenden. Je länger er sprach und je lauter er durch das Sprachrohr schrie, desto mehr fühlte er seine alte Kraft und seinen alten Glauben an sein Werk zurückkommen.

Seine Rede, die von meterhohen Plakaten angekündigt worden war, wurde gleichzeitig an verschiedenen Stellen des Schuttfeldes in deutscher, französischer, italienischer, spanischer, polnischer und russischer Sprache ausgeschrien. In hunderttausenden von Exemplaren wurde sie über den 250 Erdball geschleudert. Sie wurde zur selben Stunde in sieben Sprachen in Bermuda, Azora, Finisterra, Biskaya durch das Sprachrohr über die Arbeiterheere ausgetutet.

Allan wurde mit Schweigen empfangen. Als er sich seinen Weg durch die Menge bahnte, machte man ihm Platz und manche griffen sogar an die Mützen. Kein Laut war vernehmbar und eine Gasse eisiger Stille, in der jedes Gespräch erfror, zeigte seinen Weg an. Als er auf dem Eisenbahnwaggon inmitten des Meers von Köpfen erschien – derselbe Mac, den sie alle kannten, mit dem jeder schon gesprochen hatte, dem jeder schon die Hand gedrückt hatte, dessen starkes, weißes Gebiß jeder kannte – als er erschien, der Pferdejunge von Uncle Tom – ging eine ungeheure Bewegung durch das Feld, eine elementare Verschiebung der Massen, ein Krampf des großen Heeres, das sich zusammenzog, wie Keile, die von hydraulischen Pressen nach einem Mittelpunkt getrieben werden: aber kein Laut wurde hörbar.

Allan schrie durch das Megaphon. Er tutete jeden Satz in die vier Richtungen der Windrose. »Hier stehe ich, um mit euch zu reden, Tunnelmen!« begann er. »Ich bin Mac Allan und ihr kennt mich! Ihr schreit, ich hätte dreitausend Menschen getötet! Das ist eine Lüge! Das Schicksal ist stärker als ein Mensch. Die Arbeit hat die dreitausend getötet! Die Arbeit tötet täglich auf der Erde Hunderte! Die Arbeit ist eine Schlacht und in einer Schlacht gibt es Tote! Die Arbeit tötet in New York allein, das ihr kennt, täglich fünfundzwanzig Menschen! Aber niemand denkt daran, in New York die Arbeit aufzugeben! Das Meer tötet jährlich 20 000 Menschen, aber niemand denkt daran, die Arbeit auf dem Meer aufzugeben. Ihr habt Freunde verloren, Tunnelmen, ich weiß es! Auch ich habe Freunde verloren – genau wie ihr! Wir sind quitt! Wie in der 251 Arbeit sind wir auch im Verlust Kameraden. Tunnelmen . . .« Er versuchte wieder die Begeisterung zu entfachen, die die Arbeiterheere sechs Jahre lang zu einer für unmöglich gehaltenen Arbeitsleistung angetrieben hatte. Er sagte, daß er den Tunnel nicht zu seinem Vergnügen baue. Daß der Tunnel Amerika und Europa verbrüdern solle, zwei Welten, zwei Kulturen. Daß der Tunnel Tausenden Brot geben würde. Daß der Tunnel nicht zur Bereicherung einzelner Kapitalisten geschaffen werde, sondern dem Volk ebensogut gehöre. Gerade das sei seine Absicht gewesen. »Euch selbst, Tunnelmen, gehört der Tunnel da drunten. Ihr seid selbst alle Aktionäre des Syndikats!«

Allan spürte, wie der Funke von ihm auf das Meer von Köpfen übersprang. Ausrufe, Geschrei, Bewegung! Der Kontakt war da . . .

»Ich selbst bin ein Arbeiter, Tunnelmen!« tutete Allan. »Ein Arbeiter wie ihr. Ich hasse Feiglinge! Fort mit den Feiglingen! Die Mutigen aber sollen bleiben! Die Arbeit ist nicht ein bloßes Mittel, satt zu werden! Die Arbeit ist ein Ideal. Die Arbeit ist die Religion unserer Zeit!«

Geschrei.

Alles stand gut für Allan. Als er sie aber aufforderte, die Arbeit wieder aufzunehmen, da wurde es plötzlich wieder eisig still ringsum. Die Angst kam wieder über sie . . .

Allan hatte verloren.

Am Abend hielten die Führer der Arbeiter ein Meeting ab, das bis zum frühen Morgen dauerte. Und am Morgen erklärten ihre Abgesandten, daß sie die Arbeit nicht wieder aufnehmen würden.

Die ozeanischen Stationen und die europäischen schlossen sich den amerikanischen Kameraden an. 252

An diesem Morgen entließ Allan hundertachtzigtausend Mann. Die Quartiere sollten innerhalb achtundvierzig Stunden geräumt werden.

Der Tunnel ruhte. Mac City war wie ausgestorben.

Nur da und dort standen Milizsoldaten, das Gewehr im Arm. 253

 


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