Gottfried Keller
Das Tagebuch und das Traumbuch
Gottfried Keller

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Den 10. Januar 1848

Vergangene Nacht befand ich mich in Glattfelden. Die Glatt floß glänzend und fröhlich am Hause vorbei; aber ich sah sie in eine weit fernere, fast unabsehbare Ferne fließen, als es wirklich der Fall ist. Wir standen am offenen Fenster gegen die Wiesen hinaus, da flog ein mächtiger Adler durch das Tal, hin und wieder; als er sich drüben an der Buchhalde auf eine verwitterte Föhre setzte, klopfte mir das Herz auf eine sonderbare Weise. Ich glaube, ich empfand eine rührende Freude darüber, zum erstenmal einen Adler in seiner Freiheit schweben zu sehen. Nun flog er ganz nah an unserm Fenster vorbei, da bemerkten wir genau, daß er eine Krone auf dem Kopfe trug, und seine Schwingen und Federn waren scharf und wunderlich ausgezackt, wie auf den Wappen. Wir sprangen, mein Oheim und ich, nach den Gewehren an der Wand und postierten uns hinter die Türen. Richtig kam der riesige Vogel zum Fenster herein und erfüllte fast die Stube mit der Breite seiner Schwingen; wir schossen und am Boden lag anstatt des Adlers ein Haufen von schwarzen Papierschnitzeln, worüber wir uns sehr ärgerten. Es nimmt mich eigentlich wunder, warum ich diese kindischen Träume aufschreiben mag. Jedoch kommt es von der glücklichen Stimmung, in welche mich diese einfachen Spiele der träumenden Seele auch noch nach dem Erwachen versetzen. Wenn ich auch einst nichts Lesenswertes mehr in dem Aufgeschriebenen finde, so wird mich doch beim Anblick der jeweiligen Daten eine dunkle süße Erinnerung befallen eines still genossenen schuldlosen Glückes.

Auffallend ist es mir, daß ich hauptsächlich, ja fast ausschließlich, in traurigen Zeiten, wo ich den Tag über in kummervollem Brüten dahinlebe, solch heitere und einfach liebliche Träume habe.


 << zurück weiter >>