Gottfried Keller
Das Tagebuch und das Traumbuch
Gottfried Keller

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Den 5. August

Die Führung meines Tagebuches hat schon eine Unterbrechung erlitten. Was sind feste Vorsätze?

Vergeblich wähnt der Mensch, wenigstens der junge, Herr seiner selbst zu bleiben und sich kalt und parteilos zu beobachten. Wenn uns die Leidenschaft, der Kummer ergreift, so verlieren wir alle Haltung über uns selbst, und oft lohnt es uns nicht die Mühe, die Gefühle des Augenblickes, die uns zerreißen, für die Zukunft zu fixieren.

Mein vierundzwanzigster Geburtstag, der 19. Juli, ist regnerisch und stürmisch an meinem Innern vorübergezogen. Meine Hoffnungen sind um nichts besser geworden, und wenn ich etwas Weiteres gelernt habe, so muß es durch inneres Anschauen und durch von Erfahrung gestärkte Auffassungskraft geschehen sein; denn in der gedrückten, kummervollen Lage, in welcher ich mich fortwährend befinde, kann ich wenig mit meinen armen Händen arbeiten und mutig zutage bringen. Schreiben oder lesen kann ich immer, aber zum Malen bedarf ich Fröhlichkeit und sorglosen Sinn.

Die Zeit ergreift mich mit eisernen Armen. Es tobt und gärt in mir wie in einem Vulkane. Ich werfe mich dem Kampfe für völlige Unabhängigkeit und Freiheit des Geistes und der religiösen Ansichten in die Arme; aber die Vergangenheit reißt sich nur blutend von mir los. Ich habe in den letzten Tagen Schriften der deutschen politisch-philosophischen Propaganda gelesen, viele Überzeugung daraus geschöpft, aber ich kann mich mit dem zersetzenden, höhnischen Wesen derselben noch nicht aussöhnen; denn ich will eine so zarte schöne Sache, wie das Christentum ist, auch mit Liebe behandelt wissen, und wenn es zehnmal auch ein Irrtum wäre; nicht der Pfaffen und Vorrechtler, sondern des armen Volkes wegen, dessen fast einziger Reichtum, wenn auch durch die heillosen Volksblutigel freilich mehr zu seinem Schaden, das Christentum bis dato noch ist. – Indessen werde ich mich aller etwaigen Differenzen ungeachtet dennoch an die Propaganda anschließen; denn lieber will ich keinen Glauben herrschend wissen, als den schwarzen, keuchenden, ertötenden Glaubenszwang. Im ersten Falle kann am Ende jeder Mensch, jede wärmere Seele sich aus sich selbst erheben und den Weg zu ihrem Schöpfer suchen, was mir die festeste und reinste Religion zu sein scheint; während der denkende Mensch im letzten Falle gerade durch den erdrückenden Glaubenszwang immer in negative Haltung und Bitterkeit zurückgedrängt, der nicht denkende Mensch aber von den Verrätern der Seele und des Leibes, von den Finsterlingen, mißbraucht und mißhandelt wird.


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