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12

Fenja, von der unendlichen Qual der jahrelangen Verfolgung befreit, atmete in tiefen Zügen; die herbstlich feuchte Waldluft war köstlich erfrischend. Die ersten Schritte fielen ihr schwer, ihre Glieder waren durch die Erschütterung wie gelähmt. Ohne einen Blick in die Fluten zu werfen, entfernte sie sich. Ihr Herz pochte schwer, hallend. Doch mit jedem Schritt kehrten Kräfte und Sicherheit zurück. Frischer Lebensmut durchströmte sie, ein Sehnen, sich aufzulösen in die blauen Himmelsweiten, die zwischen dem Gewölk hervorlugten. Sie hob die Hand mit dem Revolver, lächelte und warf ihn in den See.

Sie kehrte durch das Kloster zurück. Im Gehen dachte sie die ganze Zeit über an Boris, fühlte den Schlüssel zu seinem Zimmer an ihrer Brust – aus Angst vor Kaljabin hatte sie die Nacht unentkleidet verbracht.

Ein Mönch kam ihr entgegen; sie fragte ihn:

»Wo wohnt dieser schwarze Mönch?«

Sie klopfte an seine Zelle, trat ein. Bruder Alexej, der ihr geöffnet hatte, meldete sie bei Vater Polykarp an:

»Die Kommissarin ist da, sie will mit Ihnen sprechen.«

Der Besuch kam ihm unerwartet, aber er zeigte keine Überraschung. Er führte sie in seine Zelle, die wie die Arbeitsstube eines Gelehrten aussah.

»Womit kann ich dienen?«

Sie warf einen Blick auf den Schreibtisch, die Bücherschränke, das Holzbett mit der einfachen Filzdecke, zögerte, als sie den Dienstbruder an der Tür stehen sah.

»Bruder Alexej, laß uns allein.«

»Ich bin Fenja. Geben Sie mir Boris zurück!«

Mit einem blauen, in Liebe sonnig erstrahlenden Blick sah sie heiß in die schwarzen Augen des Mönches und streckte ihm beide Hände entgegen.

Vater Polykarp ergriff die entgegengestreckten Hände; die trockenen Hände des Mönches drückten sie warm. Langsam und sinnend sagte er, ihr in die Augen blickend:

»Also Sie … sind … die kleine Fenja! …«

Er gab ihre Hände frei.

»Geben Sie ihn mir zurück!«

Er fragte leise, mit der gleichen sinnenden Aufmerksamkeit, und in seiner Frage lag schon glaubende Bejahung:

»Sie lieben ihn?«

Ein strenges Lächeln huschte über das Gesicht des Mönches.

»Er ist ja in Ihren Händen. Einer Ihrer Genossen hat ihn verhaftet.«

Heiß, ungestüm rief sie:

»Um sein Leben zu retten!«

Vater Polykarp furchte die Brauen.

»Er wird gleich zu Ihnen zurückkehren …«

Der Mönch trat zur Tür, öffnete sie; ohne die Hand von der Klinke zu nehmen, hob er die andere, als segnete er sie, sagte:

»Gehen Sie, holen Sie ihn!«

Fenja blickte ihm in die Augen, verneigte sich und schritt hinaus.

 

Boris hatte die ganze Nacht unbeweglich auf seinem Stuhl gesessen, den Blick in das Dunkel gerichtet.

Hartnäckig verfolgte er ein und denselben Gedanken, der sich in ein öfters wiederholtes, geflüstertes »Nein!« ergoß, doch je nachdrücklicher er dieses Wort wiederholte, desto unentrinnbarer fühlte er Fenjas Nähe. Es war, als sei sie noch in dem dunklen Zimmer; er hätte rufen, schreien mögen:

»Quäle mich nicht, laß mich! Ich darf dir nicht folgen. Ich kann nirgends hin …«

Ermattet ließ er den Kopf sinken; sitzend schlief er ein; als er die Augen wieder aufschlug, war es heller Tag. Wie spät mochte es sein? Er konnte sich nicht zurechtfinden.

Er gedachte der Ereignisse des gestrigen Tages und des Vaters Polykarp.

»Wie mag es um den Meister stehen? Ob er noch lebt?«

 

Nowikow setzte die Untersuchung fort, verhörte noch einmal die Mönche und Vater Polykarp.

Das Gericht kam zu dem Beschluß: die gesamte Bruderschaft habe Mühle und Wehr wieder instand zu setzen.

 

Fenja suchte Petrowskij in seinem Zimmer auf.

»Wo warst du?«

»Mit Kaljabin im Walde.«

»Und wo ist er?«

»Er hat einen Bekannten getroffen und ist mit ihm ins Dorf gefahren.«

»Nach Polpenki?«

Fenja überlegte. Polpenki lag ganz nahe. Zögernd antwortete sie:

»Nein … Nach Gurjewo.«

Sie lachte.

Petrowskij sagte:

»Weißt du schon – der Abt hat sich erhängt …«

Fenja zuckte wieder zusammen.

»Ich weiß …«

»Ich halte es hier nicht länger aus … Es geht einem auf die Nerven … Was soll mit Smoljaninow werden?«

»Boris bringe ich selbst ins Kloster zurück.«

»Und Kaljabin?«

»Der kommt wohl nicht so bald zurück.«

Petrowskij zuckte die Achseln.

»Tu, was du willst.«

 

Boris saß noch immer unbeweglich auf seinem Stuhl. Fenja trat leichten Schrittes auf ihn zu und streckte ihm lächelnd die Hände entgegen.

»Ich komme dich holen, ich selbst will dich zu Vater Polykarp bringen. Komm.«

Bruder Alexej öffnete schweigend. Sie traten zusammen in Vater Polykarps Zelle.

Boris senkte stumm den Kopf. Der schwarze Mönch furchte die Brauen und betrachtete ihn prüfend.

»Ich habe ihn hergebracht – geben Sie ihn mir zurück. Er hat mir kein Wort gesagt, keinen Ton.«

Vater Polykarp schloß die Tür. Boris setzte sich an den Tisch und senkte das Gesicht auf die verschränkten Arme. Der schwarze Mönch näherte sich ihm und legte die Hand auf den Scheitel seines Schülers. Boris litt so stark, daß er lautlos zu weinen begann; man sah es nur an seinen zuckenden Schultern.

»Ich habe dir gesagt: Wer ein Sohn des Reiches werden will, der muß in der Welt leben und sich nicht im Kloster verbergen wie eine Schnecke in ihrem Haus.«

Er schwieg einen Augenblick, ohne seine Hand fortzunehmen.

»Deine Tränen sind Liebestränen. Verlasse die Toten – du lebst, und wenn du nicht zu einem lebenden Leichnam werden willst, gehe ins Leben.«

Noch tiefer sank das Haupt des Weinenden.

»Nach Gott soll dein Bestes dem Weibe gehören. Sie ist der göttliche Tempel reinster Seligkeit; aus diesem Tempel schöpfe die Kraft zu liebendem, werktätigem Leben. Sie ist die Gebärerin. die die Erde füllt mit allem, was da leibt und lebt. Mutter und Gattin – ein köstliches Kleinod! Urmutter, Born des Lebens und des Todes … Ohne sie bist du im Leben ein Toter. Gib nicht in eitler Selbstverblendung Seele und Leib dem Tode hin, Selbstmord ist Auflehnung gegen alle Kreatur und naturwidrig und Versündigung an der Frau, die dich geboren hat und gestillt an ihrer Brust. Mit der Muttermilch hast du Leben und ihre Liebe in dich gesogen – erniedrige nicht die, die dir solches gab. Der Ruf des Weibes ist der Ruf des Lebens. Dein Schweigen ist verwerflicher als Verachtung. Versündige dich nicht an Gattin und Mutter, dadurch erniedrigst du nur dich selbst und gehst der Liebe verlustig, die allein schöpferisch alles Sein auf Erden gestaltet und alles Sein zum Schöpfertum erhebt. Was du für deine Mutter, dein Weib, deine Geliebte tust, tust du für Gott, denn Gott ist die Liebe, und die Liebe ist beim Weibe. Indem du das Weib, das dich liebt und das du liebst – deine Tränen kommen ja aus deinem liebenden Herzen, es sind begnadete Tränen – von dir stößt, stößt du von dir Gott, Liebe und Leben – das höchste Gut auf Erden, das köstlichste. Gehe in die Welt! Liebe das Leben und das Weib, das dich liebt, und deine Last wird leicht sein!«

Boris' Tränen waren versiegt. Er lauschte dem Meister mit seinem ganzen Wesen, und eine warme, aus dem Herzen aufsteigende Welle besänftigte allmählich den Aufruhr in ihm.

»Stehe auf.«

Der junge Mönch stand auf, blickte dem Meister ins Auge – ein stilles, innerliches Leuchten strahlte aus diesem Auge und gab Kraft und Linderung.

»Glaubst du an Sein Reich?«

»Ich glaube.«

»So gehe in die Welt. Und im Namen des kommenden Reiches zeuge neues Leben, auf daß deine Kinder freudig eingehen in das Reich und ihre Freude zu eurer – der Zeugenden – Freude werde. Ich aber muß hier bleiben, um zu richten und zu retten, was untergeht. Mein Leben, das ist gestorben zusammen mit der Frau, die in der Kathedrale von der Menge niedergetreten wurde. Das deinige liegt in der Welt und in dir.«

Der Arm in der schwarzen Kutte erhob sich und wies ins Freie.

Bruder Alexej trat ein.

»Der Kommissar und die Genossen haben sich nach der Kathedrale begeben.«

»Boris, laß uns zusammen gehen.«

Während der letzten beiden Tage herrschte im Kloster große Erregung und Verwirrung.

Nachdem die Mönche den alten Vater Akakij in der neuen Kathedrale aufgebahrt hatten, standen sie in ihren Gärtchen vor den Zellen und bekreuzigten sich eifrig. Die Glocken läuteten stürmisch, das Wasser rauschte, krachend stürzten Fichten vom unterspülten Ufer in die Fluten.

»Was bedeutet das? Woher kommt die Überschwemmung?«

»Ein Zeichen des Herrn! Der heilige Simeon sendet uns eine Warnung …«

Niemand wußte, warum die Fluten plötzlich über die Felder dahinbrausten, warum ein Rauschen und Beben durch den Wald strich; wie erstarrt standen die Mönche da und lauschten.

Bruder Alexej kam gelaufen und rief:

»Die Schleusen des Wehrs sind geöffnet, der Damm bricht ein!«

Die Mönche dachten, die Bauern hätten es getan, um den See, die Zierde des Klosters, und die Gemüsefelder zu vernichten, aus Haß gegen die Mönche.

Niemand wußte von ihnen, daß Vater Xanfij und Akindin mit drei anderen der zuverlässigsten Mönche sich heimlich aus dem Kloster gestohlen und die Schleusen geöffnet hatten. Die erregte Bruderschaft stürzte schließlich in die Abtei, doch der Abt war nicht da.

Dann zuckte Fackelschein über den Klosterhof von den Herbergen her. Die Mönche hatten das Eintreffen der Kommission nicht so bald erwartet und zogen sich eilig in ihre Zellen zurück, flüsternd:

»Sie sind da … Sie sind da … Sie sind da …«

Der Pförtner, Vater Awraamij, berichtete:

»Vor ihnen schreitet der Oberste einher … Riesengroß, mit feurigen Augen, und dabei hinkt er auch! …«

Ein Flüstern stob durch die Zellen:

»Mit feurigen Augen! Und hinken tut er auch! … Der oberste Höllenfürst selber führt sie an!«

Am nächsten Morgen erwarteten die Mönche zitternd, was geschehen würde.

Und als die Bauern von Polpenki zum Kloster gezogen kamen und schrien:

»Wir brennen die Bande nieder!«

»Den roten Hahn ins Kloster!«

»Nieder mit den schwarzen Raben!« –

erstarb das Kloster in Angst und Bangen. Dann wurden die Bauern von roten Soldaten umzingelt, und die Anführer sprachen auf die Bauern ein. Da überkam die Bruderschaft ein neuer Schreck.

»Sie wollen uns vor ihr Gericht schleppen! … Vor ihr Gericht! …«

Niemand wußte um die Schuldigen. Die Mönche bestürmten einander mit Fragen. Waßja rasselte mit seinen Ketten und berichtete von dem Antichristen und seiner Höllenschar, wodurch das Entsetzen noch gesteigert wurde. Die Mönche verbargen sich in ihren Zellen, und als sie sahen, daß ihr Abt abgeführt wurde, erzitterte die Bruderschaft.

»Sie tragen auch das Abzeichen des Antichrist … Einen roten Stern … Mit fünf Zacken!«

»Über die ganze Welt erstreckt sich seine Macht …«

Daß die Reliquien untersucht werden sollten, war in den Hintergrund verdrängt worden; das bevorstehende Gericht nahm alle Aufmerksamkeit in Anspruch.

Die Bruderschaft lauerte hinter den Fenstern und wartete.

»Den Schwarzen führen sie ab, den Schwarzen …«

Ein wenig später wurden der wortkarge Bruder Kostja, dann die Väter Xanfij, Akindin, Mißail und drei weitere Mönche abgeführt.

Durch die Hintertüren schlüpften die Mönche aus ihren Zellen, eilten zu ihren Nachbarn, schlugen das Kreuz, flüsterten:

»Uns alle, alle nehmen sie fest! Alle!«

Ersparnisse und Wertsachen wurden an geheimen Orten versteckt; zwischendurch lugten immer wieder angstvolle Augen durch die Fenster.

»Eine rothaarige Teufelin geht vorüber …«

»Das ist ihre Prophetin …«

»Die Königin des Obersatans …«

Zuweilen zeigte sich, wüste Schreie ausstoßend, Waßja, fuchtelte kettenklirrend mit den Händen; dann hielt es niemand in den Zellen aus, die Mönche stürzten heraus, bestürmten ihn mit Fragen über das Gericht des Höllenfürsten.

Der Blöde schrie und jammerte:

»Nikolka, die kleine Fenja ist da, Fenja … deine Teufelin mit feurigen Augen! … Ich habe dir immer gesagt, vertreib sie mit dem Besen, mit dem Besen, die Tochter des Bösen!«

Der Weihbrotbäcker Vater Jepifras zupfte an der Kutte des Blöden, schob seine Brille hin und her und sagte schnaufend:

»Waßenka, was ist das für eine kleine Fenja?«

»Nikolkas, ach Nikolkas kleine Fenja … Nun ist sie mit Afonka hergekommen, um uns zu verderben …«

Die Mönche erinnerten sich, daß Abt Gerwaßij als Novize Nikolai hieß. Vater Jepifras erinnerte sich auch, daß Fenja wohl Fräulein Grakina sein müsse, die Tochter der Frau Grakina, die hatte ja des Morgens immer Weihbrot bei ihm geholt; er klärte die Mönche darüber auf.

»Und Afonka … wer ist denn das, Waßja, Liebster?«

»Der Rothaarige des Abtes, der Dienstbruder Afanaßij des Abtes Sawwa … Die Teufelin, die ist mit ihm … Er ist der Oberste, der Anführer der Antichristen … Sie holen sich alle, alle und schleppen sie vor ihr Höllengericht … Tut Buße! … Nikolka, verderben wird dich die Teufelin … durch die Hand deines nächsten Freundes … Die Stunde des Verderbens ist gekommen!«

Die Mönche flüsterten entsetzt:

»Er weiß … Er weiß … Afonka weiß alles, kennt alles hier … Dienstbruder beim Abt war er ja!«

Wieder lag das Kloster wie ausgestorben da; die Mönche hielten sich in ihren Zellen verborgen. Am Abend kehrte Vater Polykarp aus der Haft zurück, Bruder Alexej berichtete es sogleich der Bruderschaft. Die Abwesenheit des Abtes und Boris' Verhaftung blieben bei der allgemeinen Aufregung unbeachtet. Man fürchtete, daß während der Nacht alle Mönche der Reihe nach verhaftet werden würden. Aus dem Walde drangen fürchterliche Schreie und viele Schüsse – die Mönche beteten, verzweifelt mit der Stirn gegen den Boden schlagend. Schlaflos verging die Nacht. Nur die jungen Mönche mit Vater Polykarp an der Spitze standen am Sarge des Einsiedlers Akakij, und am frühen Morgen brachten sie ihn, ohne Kerzen und Glockengeläut, durch den Klosterhof nach dem Friedhof bei der Einsiedelei. Den Leichenzug beschloß Waßja; er hatte den Kopf gesenkt, weinte nicht, ächzte und seufzte nur.

Nach dem Begräbnis löste sich der Trauerzug schweigend auf; die Mönche zogen sich in ihre Zellen zurück.

Waßja setzte sich auf die Treppe der Abtei. Die Tür stand offen, Bruder Kostja war in der Kammer bei Vater Polykarp geblieben.

Waßja saß lange stumm da, erwachte schließlich aus seiner Versunkenheit und flüsterte:

»Vater Akakij, Vater Akakij …«

Er bemerkte die offene Tür, trat ins Vorzimmer, flüsterte:

»Nikolka …«

Er ging weiter und kam einen Augenblick später herausgestürzt, stolperte, fiel die Treppe hinab, zerschlug sich das Gesicht, so daß es blutete, sprang wieder auf und schrie mit wilder, irrer Stimme:

»Ah-ah-ah!«

Mit der ausgestreckten Hand wies er auf die Tür der Abtei; die Hand zuckte und bebte.

Durch das ganze Kloster gellte sein Schrei:

»Ah-ah-ah!«

Die Mönche aus den umliegenden Zellen kamen herbeigelaufen; beim Anblick von Waßjas blutüberströmtem Gesicht blieben sie in einiger Entfernung stehen und sahen ihn an.

»Der Abt hat ihn wohl so zugerichtet wegen seiner Schmähungen über Fenja!«

Als der Blöde die Mönche bemerkte, schüttelte er den Kopf und schrie mit derselben wilden, irren Stimme:

»Er hat sich er–hängt!«

Die Mönche stürzten in die Abtei.

Waßja schrie:

»Seine Zunge! Seht seine Zunge! … Der Satan hat sie ihm aus dem Mund gezogen! … Sie hat dich ins Verderben gestürzt, Nikolka, sie, Fenja!«

Als Vater Polykarp von dem zweiten Verhör zurückkehrte, begab er sich in die Abtei.

Die Mönche wichen vor ihm stumm auseinander. Vater Polykarp furchte die schweren Brauen, befahl:

»Nehmt ihn ab.«

Er nannte den Namen des Selbstmörders nicht.

Die Mönche regten sich nicht. Vater Polykarp wiederholte:

»Nehmt ihn ab.«

Vater Paißij trat vor, die übrigen folgten seinem Beispiel.

»Wickelt ihn in eine Decke ein.«

Stumm folgten sie dem Befehl, bloß die Soutanen und Kutten raschelten.

»Tragt ihn hinaus und vergrabt ihn hinter dem Viehhof.«

Sie trugen ihn aus der Abtei und über den Hinterhof durch die Pforte beim Pferdestall – durch dieselbe Pforte, durch die er immer bei seinen geheimen Gängen aus dem Kloster geschlüpft war – nach dem Viehhof.

Nur Waßja allein murmelte traurig:

»Nikoluschka, sie hat dich ins Verderben gestürzt, die kleine Fenja, ins Verderben … die rothaarige Teufelin! … Ich habe dir ja immer gesagt, verjag' sie mit dem Besen, mit dem Besen, die Tochter des Bösen!«

Die Mönche flüsterten verworren:

»Wer soll nun Abt sein? …«

»Wer der Bruderschaft den Weg weist …«

Die jungen Mönche gingen zu Vater Polykarp. Der greise Vater Doßifej schnarrte:

»Hab ich nicht geschagt? … Hab ich nicht geschagt? … Ihr wuschtet aber bescher …«

Er wackelte mit dem Buckel, klopfte gekrümmt, vornüberhängend bis zum Boden, mit dem Krückstab.

 

Bald nachdem Fenja Boris zu Vater Polykarp geführt hatte, verbreitete sich das Gerücht:

»Gleich werden sie den Sarkophag des Heiligen öffnen …«

»Noch heute abend …«

»Am hellen Gottestage haben sie es nicht gewagt, die Diener des Antichrist!«

Die Verwirrung und Erregung im Kloster stieg ins Ungeheure. Es war so vieles zusammengekommen: Vater Akakijs Tod, Dammbruch und Überschwemmung, Ankunft des Bolschewistenausschusses, Aufruhr der Bauern, Verhör und Verhaftungen der Mönche, Schüsse und Schreie im Walde, Selbstmord des Abtes – die Ereignisse überstürzten sich, Schlag folgte auf Schlag; Furcht und Grauen verwirrte die Gedanken. Die Mönche stahlen sich von Zelle zu Zelle, flüsterten miteinander, jammerten und klagten, lauschten dem Blöden, und es schien ihnen, als wäre alles ein grauser Traum, der sie gefangen hielt, in dem sie mit angstverzerrten Gesichtern und weitaufgerissenen Augen umherirrten.

Und als bekannt wurde, daß sechs Mönche hingerichtet worden waren und daß die Reliquien des Klosterheiligen am Abend untersucht werden sollten, kam es wie ein Erwachen über sie, und das Grauen verwandelte sich in fanatischen Glaubenseifer. Die jungen Mönche richteten ihre Blicke stumm und voll abergläubischer Furcht auf Vater Polykarp in der Erwartung, er würde die Erlösung bringen, während die alten Mönche, nach den zwei schlaflosen Nächten vor Erschöpfung taumelnd, haßerfüllt auf den schwarzen Mönch wiesen und flüsterten:

»Der Herr wird ihn strafen … Das ist das Strafgericht über den Gottesverächter!«

Aber auch sie warteten darauf, daß jemand kommen würde und ein Wunder vollbringen, so daß die Schergen des Satans, geschlagen von dem Zorn des Herrn mit Feuer und Blitz, zu Boden sinken würden. Der Heilige Simeon würde aufstehen und das große Wunder wirken!

»Hat er doch den gerechten Starez Akakij im letzten Augenblick erlöst … zu sich berufen …«

Die früheren Feinde des Starez verwandelten sich in seine begeisterten Anhänger; Schuld an allem trug nur der schwarze Mönch allein!

Waßja jammerte:

»Geschlagen hat uns der Herr mit dem Schwerte seines Zorns … um unseres Unglaubens willen … Tuet Buße, Brüder! … Nikoluschka, ins Verderben hast du das heilige Kloster gestürzt …«

Die Mönche sprachen ihm nach:

»Uns schlägt der Allmächtige – einen Unwürdigen hatten wir zum Abt erhoben!«

»Das böse Beispiel des Abts verlockte die Bruderschaft …«

»Wen erheben wir zu seinem Nachfolger … Vater Akakij ist nicht mehr: wer soll uns den Würdigsten weisen?!«

»Deine Teufelin, die rothaarige, sie hat dich ins Verderben gestürzt, Nikoluschka, und die Bruderschaft!«

Vater Doßifejs kleine böse Augen huschten über die Gesichter, er schnarrte:

»Den Antichrischt, den Schwartschen haben wir geduldet … Dasch Gericht desch Herrn ischt über ihm … dasch Gericht unscheres Heiligen … Der wird ein groschesch Wunder vollbringen … Ein groschesch …«

Die Zuversicht ergriff die Bruderschaft, daß der Klosterheilige es der Heerschar des Satans mit dem Zeichen des Antichrist – dem fünfzackigen Blutstern an der Stirn – verwehren würde, seine heiligen Reliquien zu schänden.

»Kommt alle in den Tempel zum Heiligen … Niemand bleibe zurück …«

Doch vor der Tür der Kathedrale standen zwei Wachtposten mit geschultertem Gewehr.

Die Dämmerung sank herab, der Nebel wurde dichter, und der Herbstwind strich pfeifend über die Wipfel der Fichten.

»Höret, höret! … Die Teufel frohlocken, stürmen kreischend und heulend aus dem Feuerpfuhl der Hölle gegen das heilige Kloster heran!«

 

Ein Telegramm wurde von der Station gebracht. Petrowskij öffnete es, sagte zu Fenja:

»Wir müssen unverzüglich zurück. Die nächste Stadt ist bereits von weißen Truppen besetzt. Sofort muß der Sarkophag mit den Reliquien geöffnet werden; gleich danach fahren wir ab.«

Petrowskij ließ den Anführer der roten Truppenabteilung rufen, befahl ihm, rings um das Kloster Wachen aufzustellen und die Bauern aus Polpenki kommen zu lassen.

»Wo ist denn aber Genosse Kaljabin? Wie sollen wir ohne ihn den Reliquienschrein öffnen?«

Petrowskij sandte ein paar berittene Soldaten nach Gurjewo, sie sollten Erkundigungen über den Verbleib Kaljabins einziehen.

Es dunkelte bereits, als Bauern und Bäuerinnen aus dem Walde herbeiströmten, das Kloster mit dumpfem Gemurmel füllten, auf das Geflüster der Mönche lauschten. Die Weiber weinten leise und bekreuzigten sich. Die jungen Soldaten machten sich über sie lustig, die älteren suchten die Spaßmacher zurückzuhalten.

Petrowskij ging erregt in seinem Zimmer auf und ab, rauchte unablässig, blickte oft nach der Uhr.

»Was ist das für eine Art, fortzugehen, ohne ein Wort zu sagen!«

Die ausgesandten Reiter kehrten schließlich mit der Meldung zurück, sie seien bei Gurjewo auf Vorposten der Weißen gestoßen, hätten einen Bogen um das Dorf geschlagen und versucht, zu Fuß in das Dorf zu gelangen, um über Kaljabin Erkundigungen einzuziehen, doch lägen bereits weiße Truppen in Gurjewo, und sie seien nur mit Mühe entkommen; ihre Pferde hätten sie im Stich lassen müssen.

Petrowskij sprach mit dem Führer der Truppe. Die roten Soldaten waren erregt, fragten nach Kaljabin, Verdacht sprach aus ihren Mienen. Petrowskij ließ die Kundschafter ihre Meldung vor der Truppe wiederholen und erklärte, es sei anzunehmen, daß Kaljabin auf der Flucht vor den Weißen auf dem kürzesten Wege an die Bahnlinie geeilt und in die Stadt gefahren sei. Jedenfalls könne man mit den wenigen Leuten von hier aus nichts unternehmen. Man müsse möglichst schnell zu Ende kommen und abfahren. Der Anführer der Truppe las das Telegramm über das Vordringen der Weißen vor und schickte seine Leute auf ihre Posten.

Petrowskij eilte in die neue Herberge.

Die hier zur Erholung weilenden Arbeiter, Schlosser, Gießer, Werkmeister, begaben sich ins Kloster; Arbeitermützen und lautes Stimmengewirr füllten den Klosterhof. Die jungen Bauern blickten unternehmungslustig, die alten schwiegen. Die Mönche tuschelten untereinander, ihre Kutten raschelten.

Petrowskij trat in Sinas Zimmer.

»Komm mit, wir öffnen gleich den Sarkophag.«

»Nikodim, ich kann nicht … Mir graut davor … Ich kann nicht.«

»Ach, komm doch!«

»Ich halte es nicht aus … Es ist mir unangenehm …«

»Nun, wie du willst. In einer Stunde fahren wir ab. Warte auf mich vor der neuen Herberge. Der Fremdenwagen bringt uns schnell zur Bahn.«

 

Der schwarze Mönch schritt als erster die Stufen zur Kathedrale hinauf. Schlüsselklirrend schob er den schweren Riegel zurück und ließ Petrowskij eintreten. Die ersten Schritte hallten laut aus der Kuppel zurück. Petrowskij, seine Genossen und die roten Soldaten nahmen in der Kirche ihre Mützen nicht ab. Die großen, einen halben Zentner schweren Wachskerzen vor der Ikonenwand – die Mönche hatten sie aus Sparsamkeit geschont – wurden angezündet, und durch die Kathedrale flutete Licht, schallte Stimmengewirr, das Flüstern der Mönche, das Klopfen der Gewehrkolben auf den Steinfliesen.

Vater Polykarp stieg an Stelle des Abts die Stufen zum Sarkophag empor und blieb reglos zu Häupten des Sarges stehen.

Fenja sah sich suchend nach Boris um, verließ die Kirche, und als sie wieder zurückkehrte, sah sie ihn an der Tür stehen, gegen den gußeisernen Türflügel gelehnt.

Abergläubische Furcht hielt ihn gebannt. Ohne zu blinzeln starrte er mit stockendem Atem geradeaus. Wie, wenn plötzlich doch ein Wunder geschähe und alle Worte des Lehrers sich als Lug und Trug erwiesen! Er hoffte darauf und bangte zugleich davor. Sein Blick hing an dem Gesicht des Lehrers, diesem unbewegten, scharf umrissenen Gesicht mit den gefurchten Brauen; die Kerzen flackerten, und über das Gesicht des schwarzen Mönches huschten Schatten; es schien, als liege ein unfaßlicher Ausdruck des Hohnes auf seinen Zügen, der in den gestrengen schwarzen Augen entschwand.

Jäh trat Stille ein; alles erstarb.

Die Mönche, auf den Knien liegend, fürchteten den Kopf zu heben in der Erwartung des großen Wunders.

Vor Spannung taten Boris die Augen weh.

Langsam wurde die lange schwarze Gestalt mit den gestickten Knochen und Schädeln emporgehoben.

Wie ein Seufzer aus der Kuppel tönte der ächzende Aufschrei der Menge. Eine Stimme erklang:

»Den haben sie aber einmal in Lappen gewickelt! … Nichts als Lappen! …«

Gleich darauf schrie Waßja wild und gellend:

»Nikoluschka, ins Verderben hast du uns gestürzt, ins Verderben! Die rote Teufelin … sie … sie …«

Boris hörte, wie der Blöde, kettenrasselnd und schrille Schreie ausstoßend, wie ein Besessener an ihm vorüberstürmte.

Das Stimmengewirr setzte wieder ein, die Ausrufe der Arbeiter und das Schluchzen der Weiber vermengten sich, und in der hintersten Reihe schnarrte der greise Vater Doßifej, wobei sein Buckel wackelte und sein Krückstock gegen die Fliesen klopfte:

»Ein groschesch Wunder hat unscher Heiliger vollbracht, ein groschesch Wunder … Er hat nicht geschtattet, dasch der Antichrischt und scheine Höllenschar Hand an ihn lege … In den Boden ischt er entwichen, unter die Erde! Ein Tscheichen wird der Heilige geben, ein Himmelschtscheichen …«

Hinter dem jungen Mönch, der stumm an der Tür lehnte, erklang eine Stimme:

»Boris …«

Er öffnete die Augen, erblickte Vater Polykarp in der Ferne – reglos, erstarrte Schatten unter den Augen, stand er da. Langsam schritt Boris, mühsam einen Fuß vor den anderen setzend, zur Kirche hinaus.

Es war kein Wunder geschehen.

Dieselbe Stimme sagte ganz nah:

»Komm.«

Er schritt die Stufen hinab, hatte nicht die Kraft weiterzugehen, blieb am Gartenzaun einer Zelle vor der heiligen Pforte stehen. Er fühlte zwei warme Hände, die ihn berührten, schloß die Augen, regte sich nicht. Das Empfinden der Zeit hatte ihn verlassen, er wußte nicht, wo er war, was um ihn geschah. Er vernahm verschwommene Menschenstimmen, Geschrei, in seinen Ohren dröhnte plötzlich Sturmgeläut wie bei einer Feuersbrunst, und durch seine geschlossenen Lider zuckten rote Flecke. Schüsse krachten. Scharf durchfuhr ihn ein gellender Schrei:

»Der Blöde hat sich vom brennenden Glockenturm gestürzt!«

Ihm war, als würde sein Kopf zusammengepreßt und als höre er das Rascheln eiserner Ketten, als sähe er die fliegende Gestalt eines schwarzen Dämons oder eines großen Nachtvogels.

Dann hörte er noch einmal:

»Die Tauben stürzen sich in die Flammen …«

Und schließlich ganz klar:

»Der Glöckner, Vater Ionikij, verbrennt …«

Er öffnete die Augen und schaute in zwei große, im aufflammenden Gold blonder Haare erschimmernde Augen.

Als er den Blick abwandte, stand reglos neben ihm die hohe Gestalt des schwarzen Mönches.

»Gott ist die Liebe, sein Tempel ist die Geliebte, er sei der Tempel deiner Andacht; versündige dich nicht an Mutter und Gattin, denn so versündigst du dich an dem Herrn. Gehet Hand in Hand ein in das kommende Reich, denn die großen Tage seiner Wiederkehr sind auf Erden angebrochen; schlürfe Freude und Seligkeit im Tempel des Herrn … Erkenne die Wahrheit, und die Last deines Lebens wird dir leicht sein. Gehe hin!«

Erfühlte wieder die warmen Hände, den warmen Atemhauch, und diese Wärme erfüllte ihn ganz und tönte wie die Worte des Lehrers.

»Komm, Boris – nun hält dich hier nichts mehr zurück.«

Zögernd machte er die ersten paar Schritte, wandte sich nach dem brennenden Kloster um, gedachte wie eines Alpdrucks seines Lebens hier und vernahm aufs neue Fenjas Stimme:

»Wir reisen nach Moskau zu Onkel Kirja … Mit unserem Jungen …«

Und zum ersten Male erklang dieses Wort – mit seinem Jungen, mit seinem Sohne – in seinem Herzen als neues Leben und beseligende Freude. Und als fürchtete er, daß ihn etwas zurückhalten, ihn in seine Zelle zurückdrängen könnte, schritt er, Fenjas Hand ergreifend, eilig zur Klosterpforte hinaus.

Vor der Herberge herrschte fieberhafte Erregung; die Pferde schnauften unruhig. In den feuchten Abendnebel mengten sich Rauch und Dunst. Langsam versank das Kloster wieder in Dunkel und Nacht. Das Feuer, das den Glockenturm erfaßt hatte, war am Erlöschen; langsam glommen noch die Glockenstränge.

Petrowskij trat auf Fenja und Boris zu.

»Also, ihr reist nach Moskau?«

»Ach, Nikodim, welch ein herrliches Gefühl das ist, wenn man kein Weh mehr im Herzen trägt! … Und wenn man sein Leben von einer ewig drückenden Last befreit hat … Erst jetzt fange ich an zu leben!«

Petrowskij sah sie scharf und prüfend an, dann sagte er halblaut:

»Ich wünsche dir Glück!«

»Ja, ich bin glücklich … Und wenn's nun wirklich bis ans Ende der Welt ginge!«

Der große Wagen der Herberge überholte die marschierende Truppenabteilung. Die Räder knirschten und sanken tief in den feuchten Sand, und wenn sie auf eine Wurzel stießen, zuckte das Gefährt. Die dunklen Fichten knarrten, über ihre Wipfel strich mit herbstlichem Geheul der Wind, und aus ihm klang das seltsame unverständliche Lied der durch das Feuer befreiten Klosterglocken.

 


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