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5

Nach dem Abendessen saßen sie beide auf niedrigen Schemeln vor dem brennenden Ofen, und Petrowskij erzählte ihr von seinem Leben in Sibirien, von den Entbehrungen und dem Heldentum seiner Leidensgefährten, die noch immer in der Verbannung lebten.

Je länger Petrowskij sprach, desto mehr zog es sie zu ihm; sie lauschte seinen Worten wie ein Kind einem geliebten Märchen lauscht, das es nicht müde wird immer wieder zu hören. Der Ofen erlosch allmählich, über die Kohlen zog ein leichter graublauer Ascheschimmer; die kleine Fenja aber wollte noch immer seine Worte und seine Stimme hören, die wie eine körperliche Berührung war und zuweilen in heißer Empörung und Zorn aufbrauste, zuweilen zu einem leisen, verinnerlichten Tönen hinabsank.

Mißmutig ging sie schließlich zu Bett und konnte wieder nicht einschlafen. Sie hörte, wie er sich entkleidete, wach lag, seufzte.

»Nikodim … komm her …«

Sie nahm seine Hand.

»Du leidest? … Setz dich zu mir …«

Mit einer kaum merklichen Bewegung zog sie ihn an sich. Ihm schwindelte, ein Schwächegefühl überkam ihn, er wußte nicht, was weiter geschah …

Zum ersten Male seit langer Zeit schlief er, den Kopf an ihre Brust gebettet, still und ruhig wie ein Kind die Nacht durch.

 

Am Morgen, als er aufgestanden war, überkam ihn flüchtig ein seltsames Gefühl; er fragte sich: »Liebt sie mich denn?« Er dachte den ganzen Tag daran, wollte sie fragen – es kam immer nicht dazu. Während sie das Morgenfrühstück aßen, erzählte sie von ihren Autoausflügen im Sommer und wie sie gelernt hatte, den Wagen zu lenken; dann ging sie ins Kolleg. Er wollte sie zurückhalten, doch bevor er den Mund aufgetan hatte, sagte sie, sie habe es eilig, denn sie liebe es, immer pünktlich zu sein; so schwieg er, denn er wollte ihre Tageseinteilung nicht stören. Sie trafen sich zu Mittag im Speisehaus, doch unter all den Menschen mochte er nicht davon reden. Erst am Abend, als sie wieder auf ihren Schemeln vor dem brennenden Ofen saßen, fragte er:

»Liebst du mich denn?«

Verblüfft vernahm er ihre Gegenfrage:

»Wozu brauchst du das zu wissen?«

»Was heißt das?!«

»Kann es dir nicht gleichgültig sein, ob ich dich liebe oder nicht?«

Er sah sie an. Dann sagte er ernst:

»Nein, das ist mir nicht gleichgültig.«

»Nun, und wenn ich sagte, daß ich dich nicht liebe – könnte das etwas in dir ändern? Oder würdest du mich dann nicht mehr lieben?!«

Er war so verwirrt, daß er keine Antwort fand.

»Würdest du dann aufhören, mich zu lieben?«

»Niemals! …«

»Also brauchst du mich doch gar nicht zu fragen, ob ich dich liebe oder nicht. Das stimmt doch?«

»Aber das, gerade das möchte ich doch wissen?«

»Wozu? … Gestern hast du mich nicht danach gefragt – oder hattest du es vergessen?!«

»Gestern hatte ich vor Glück ganz den Kopf verloren …«

»Siehst du … Also warst du doch glücklich in meiner Umarmung?«

»Ja! Ich kann gar nicht sagen, wie glücklich! …«

»Auch ich war glücklich in deinen Armen! Genügt dir das denn nicht?«

»Ja, aber liebst du mich?«

»Ich sage dir die Wahrheit, du aber willst, daß ich lügen soll! … Du willst einfach wissen, ob ich jemand vor dir geliebt habe?!«

»Ja, Fenitschka, das will ich auch wissen!«

»Du willst um meine Vergangenheit wissen, bloß um deinen Egoismus zu befriedigen … Aber du bist doch Sozialist! Kann es dir nicht einerlei sein, ob ich früher einmal jemand geliebt habe oder auch jetzt noch liebe? Du nanntest mich einmal den neuen Menschen, den Menschen der Zukunft … Vielleicht ist das ein wenig so … Die Zukunft aber will nur eins – daß der Mensch glücklich sei. Ich habe mich dir hingegeben, und du warst glücklich im Besitz der Geliebten, ohne daß es dir in diesem Augenblick überhaupt in den Sinn gekommen wäre, mich zu fragen, ob ich dich liebe. Das ist das Entscheidende. Liebe ist vor allem Besitz des geliebten Wesens – also bist du glücklich. Was willst du mehr? … Und ich? Warum hätte ich deine Liebe ablehnen sollen, wo ich doch wußte, daß ich dir Glück gebe, und selbst die Freude und Seligkeit empfing, nach der ich mich sehnte, und beglückt und erlöst mich meines Lebens freue? Und wenn wir einander gegeben und voneinander genommen haben, was wir geben und nehmen konnten – ist denn das so wenig?! Wir waren glücklich zusammen – und damit ist alles gesagt und gilt für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in gleicher Weise! Du liebst mich? Schön, liebe mich. Aber frage mich nicht, Eigentumsrechte in der Liebe erkenne ich nicht an. Gewinne ich einen anderen lieb, so verlasse ich dich, und du bist ebenso frei … Wir sind keine Sklaven! Und was meine Vergangenheit betrifft: die gibt's gar nicht mehr für mich! … Aber wenn es anders wäre: befleckt denn die Liebe des Mannes die Frau? Bin ich denn unrein geworden, weil du mich gestern geliebt hast? Das Laster ist etwas Seelisches, nichts Körperliches, Nikodim.«

Petrowskij saß gebückt da, schwieg und grübelte. Sein Verstand mußte ihr recht geben, und doch lag ein unbegreiflicher Druck auf seinem Herzen. Er versuchte das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, brach aber immer wieder ab. Fenja war betrübt darüber, doch bedrückte es sie nicht weiter.

Schweigsam ging er zu Bett, rührte sich nicht; aber Fenja fühlte, daß eine krampfhafte Anstrengung in dieser Stille lag. Sie wartete eine Weile, dann rief sie ihn.

Er machte eine Bewegung, antwortete aber nicht.

»Nikodim …«

Er zögerte noch, doch es war stärker als er.

An ihrer Seite wurde er wieder ruhig, lauschte ihren zärtlichen, einfachen Worten.

»Was willst du denn noch? Dein Glück ist in dir, genieße es als dein eigenstes Leben … Und … quäle dich nicht und mich nicht.«

Und als seine Hände um Zärtlichkeit warben, fragte sie leise:

»Willst du mich denn?«

Sein Ja erstarb in einem glühendem Hauch …

Und als seine Arme ihren Leib umschlangen, tat sie sich auf, still und freudig, schloß die Augen, verschränkte die Hände im Nacken und atmete durch die halb geöffneten Lippen heiß und hastig, auf jede Bewegung seines Körpers leidenschaftlich erwidernd, denn sie wollte ihm die größte Seligkeit spenden, die sie geben konnte; immer ungestümer und lauter pochte ihr Herz.

Als er, still geworden, wieder an ihrer Brust lag, sagte sie:

»Warum wolltest du nicht zu mir kommen? Liebe ich dich denn nicht? Habe ich dich etwa eben getäuscht?! Die Liebe ist so mannigfaltig wie das Leben, hat soviel Blüten und Farben, in jeglicher Gestalt gibt sie sich anders, neu, unwiederholbar …«

 

Wenn er dann aber wieder anfing ihr vorzuwerfen, daß sie ihn nicht liebe, war ihr jede Berührung eine Qual, die sie niederdrückte; dann litt sie tagelang an einem dumpfen Kopfschmerz.

Mit einem – wie ihr schien – krankhaft schmerzlichen Gefühl betrat sie Boris' früheres Zimmer und richtete es für Nikodim her.

Von der Hochschule kehrte Petrowskij meist in finsterer, gereizter Stimmung zurück; dann schien er ihr hart und von eisiger Kälte. Oft wiederholte er seine Berichte über die Verständnislosigkeit, auf die er unter seinen neuen Studiengefährten stoße. Nur Schwert und Feuer könne zu einer Erlösung der Menschheit führen. Oft kehrte er auch zu seinem Gedanken über die eiserne Parteidisziplin zurück.

Eines Abends stürzte er bei seiner Heimkehr, ohne zuerst in sein Zimmer einzukehren, zu Fenja hinein, warf seine Aktenmappe auf den Tisch und zog Fenja ans Fenster.

»Siehst du die ekelhafte Fratze da?«

»Wo?«

»Gegenüber, vor dem Ladenfenster? …«

»Ja, und …?«

»Ein Spitzel! Sie sind wieder hinter mir her … Schon eine Woche lang schleicht er mir nach und ist nicht abzuschütteln, wohin ich auch gehe. Ich würde ihn gern totschlagen …«

»Willst du – ich schieße ihn nieder?«

Sie lief an den Tisch, holte ihre Pistole hervor. Petrowskij nahm ihr die Waffe aus der Hand.

»Laß, damit wäre nichts erreicht – er ist nur einer von vielen. Er kann sich auch lange Mühe geben – ich arbeite ja jetzt kaum politisch. Und essen will er ja schließlich auch, also lassen wir ihn bei seinem sauberen Handwerk. Bloß – daß es einem zuweilen auf die Nerven geht … Übrigens, ich wußte gar nicht, daß du so ein Mordding hast …«

»Onkel Kirja hat mir die Waffe geschenkt – zum Selbstschutz, wie er sagte.«

Eines Abends sagte er ihr, es würde nun wohl bald beginnen.

»Wieso?«

»An der Wolga ist Hungersnot ausgebrochen – die Menschen essen Baumrinde, und die Regierung ist hilflos. Das ist's, was wir brauchen …«

 

Auf der Universität und auf den Hochschulen verbreitete sich das Gerücht, die Regierung habe die Genehmigung erteilt, Sammlungen zugunsten der Hungernden zu veranstalten.

Petrowskij nahm seine geheime revolutionäre Tätigkeit wieder auf und verbrachte ganze Tage im Kreisausschuß der Partei. Um die akademische Jugend näher kennenzulernen, nahm er auch an den Vorbereitungen zu der öffentlichen Sammlung in Petersburg teil. In der geräumigen Wohnung eines Rechtsanwalts wimmelte es vom frühen Morgen an von hilfsbereiten jungen Leuten, es roch nach Stroh, Kleister, Papier – aus leeren Ähren und künstlichen Kornblumen wurden kleine Sträußchen gebunden, bunte Kartonschilder geklebt, die Sträußchen mit Stecknadeln an die Schilder gesteckt.

 

Am Sammeltage verteilte Petrowskij die Büchsen, Fenja die Ährenschilder. Gegen zehn Uhr war nichts mehr da, weiteren Hilfsbereiten wurde vorgeschlagen, sich Sammelbüchsen und Ähren an anderer Stelle zu beschaffen.

Erst um die Mittagsstunde wurden Fenja und Petrowskij frei und wollten gerade auf die Straße hinausgehen, um sich an dem Verkauf der Ähren zu beteiligen, als eine Studentin, ein mageres, lebhaftes junges Mädchen, eilig eintrat und sich mit bewegter Stimme bittend an Fenja wandte:

»Ich habe mich schon an drei Verteilungsstellen gewandt, umsonst! Und ich möchte doch so gern, so gern mithelfen! Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen anschließe …«

Petrowskij stand am Fenster und furchte die Stirn.

Fenja brachte es nicht übers Herz, dem jungen Mädchen ihre Bitte abzuschlagen, und wandte sich an Petrowskij:

»Nikodim, wir verkaufen zu dritt – sind Sie einverstanden?«

Petrowskij sah das junge Mädchen an und begegnete dem bittenden Blick ihrer matt schimmernden, großen, ein wenig hervorstehenden schwarzen Augen; die dunklen Wimpern waren ungewöhnlich lang und irgendwie struppig, Gesicht und Kopf kindlich, eckig und schmal. Die struppigen Wimpern zuckten leise vor Erregung, die Augen leuchteten kurz auf und blickten wieder nachdenklich und verschleiert, in jenen eigentümlichen matten Glanz gehüllt. Petrowskij verbeugte sich zustimmend.

Er schritt in der Mitte, die beiden jungen Damen links und rechts von ihm. Als sie auf die Straße traten, wandte sich das junge Mädchen an Petrowskij:

»Ich heiße Sina und liebe es nicht, wenn man mich anders nennt. Sie müssen mich auch so nennen – Sina.«

Fenja und Petrowskij sahen sie erstaunt an und stellten sich vor.

»Wenn wir näher bekannt werden sollten, sage ich Ihnen auch meinen Zunamen.«

Damit lief sie auf eine Frau zu, steckte ihr ohne zu fragen ein Ährensträußchen an die Brust und verfolgte aufmerksam, wieviel jene in die Büchse tun würde.

Eine Hand mit einer Kupfermünze streckte sich vor.

Sina fuhr auf …

»Ich bitte Sie! Heute darf man nicht geizig sein – die armen Menschen essen Baumrinde!«

Die Frau blickte das junge Mädchen verwirrt an und holte ein silbernes Zehnkopekenstück hervor.

Petrowskij hatte das gefallen.

»Sie sind ja ein energisches Mädel!«

Fenja blickte sinnend auf ihr Schild im goldenen Schmuck der trockenen Ähren und dachte an Boris' Worte:

»Haare wie Garben mit goldenen Körnern, jede Strähne eine fruchtschwere Ähre … Beglückender Sommer in festlichem Gewande … Arme – schimmernde Sicheln der Freude auf weiter, unendlicher Flur … So sind Sie, Ljona …«

Ljona hatte er sie genannt …

»Komm, Fenja!«

»Ja, Nikodim!«

 


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