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11

Die beiden schritten an den Landhäuschen vorüber auf dem Wege nach der Bahnhalte.

Der Wald war herbstlich düster, die dunkelbraune, feuchte Nadelschicht glitt nicht mehr unter den Füßen, der Wind fauchte und bog knarrend die Stämme; schwer sanken die Füße in den durchnäßten Sand ein.

»Wollen wir uns nicht den See ansehen, Fjokla Timofejewna? Es wird wohl kaum etwas von ihm übrig geblieben sein – schade um den schönen See!«

Er verstummte, warf ihr verstohlene Blicke zu. Sie schritt leicht und sicher, atmete mit voller Brust. Ihre Gedanken waren herbstlich zwiespältig, heitere Erinnerungen wechselten mit schmerzlichen und schweiften ins Kloster zu Boris. Der frühere Boris war kaum in ihm wiederzuerkennen. Sein Gesicht, schelfrig von Sonnenbrand und Wind und Wetter, von einem kleinen Bärtchen umrahmt, war wie ein Bronzeguß, aus seinen leuchtenden Augen sprach Willensstärke, seine Ausdrucksweise war fest und entschieden, seine Stimme war derber geworden, in dem singenden Brustton lag Verinnerlichung.

Die kleine Fenja ging durch den Wald so, wie man einem bestimmten Ziele zustrebt; Freude und Lebensdurst spannte jeden Muskel ihres Leibes. Das Blut strömte gleichmäßig und warm durch die Adern, ein Gefühl praller Kraft straffte ihre Glieder: Vorwärts, vorwärts! Gesammelt und gespannt, empfand sie scharf und lebhaft jeden ihrer Gedanken, die, einer nach dem anderen, sich zu einer ununterbrochenen Kette fügten: Einmal, nur einmal unter vier Augen mit Boris sprechen, ihn mit ihrer Reife umfangen, ihn den starken Wein geklärter Daseinsfreude schlürfen lassen – nicht, um trunkenes Verlangen in ihm zu wecken, sondern um ein innerliches, hartnäckiges, nimmersattes Dürsten im Tiefsten seiner Seele zu entflammen.

Dabei redete sie auf Kaljabin ein, scherzte mit ihm und hielt ihn sich vorsichtig vom Leibe.

Den letzten Monat hatte er nicht mehr getobt, sich in Zucht genommen und alle seine Handlungen offen zutage treten lassen, damit Fenja es sähe. Und die ganze Zeit über hatte er ihr nicht von seiner Liebe gesprochen.

Im Kloster waren alte Erinnerungen über ihn hereingebrochen. Von oben herab begegnete er den Mönchen und dem Abt, seinem ehemaligen Busenfreunde Nikolka, und behandelte Fenja so, als wäre sie seinesgleichen, als stünde sie ihm nahe, um darzutun, daß er sie errungen hatte. Er wollte sich hier zur Geltung bringen, hatte er doch mutig das Kloster verlassen, viele Wege der weltlichen Wanderschaft durchwandert und nun sein Bethlehem gefunden: das sollten seine ehemaligen Schicksalsgenossen wissen.

Er hatte dem Vorgehen Petrowskijs keinen Widerstand entgegengebracht, bloß jener junge Mönch hatte ihm nicht gefallen – Fenja hatte ihm einen so unbegreiflichen Blick zugeworfen, als sauge sie gierig jedes seiner Worte, jede Bewegung in sich.

Er schritt an ihrer Seite dahin und hätte gern gewußt, woran sie wohl dachte; insgeheim kam ihm der Gedanke, sie in den Wald zu locken, tiefer ins Dickicht …

»Erinnern Sie sich noch an unseren Ausflug nach der Mühle mit Marja Karpowna Klimowa? Damals habe ich Sie zum ersten Male gesehen, Fjokla Timofejewna …«

»Das habe ich längst vergessen, Kaljabin, ich gehe ganz im Heute auf. An das Gestern und Morgen kann man in dieser Zeit nicht denken.«

»Da haben Sie recht, bloß … Eigentlich leben Sie nicht – fürchten sich ja immer.«

»Ich fürchte mich vor nichts; Sie sehen ja – ich bin mit Ihnen in den Wald gegangen …«

»Bin ich denn ein wildes Tier, daß Sie mich fürchten sollten? …«

»Schlimmer als das, Kaljabin! Ein Wüterich …«

»Aber ich benehme mich jetzt doch so, wie Sie es wollten!«

»Ich glaube nicht recht daran, Kaljabin …«

Sie schlug den Rückweg ein, brach das Gespräch ab, lenkte es auf andere Bahnen.

»Was werden Sie mit den verhafteten Mönchen machen? …«

»Abrechnen mit ihnen! Wozu taugen sie? Bloß Petrowskij macht so viel Federlesens mit den sauberen Vätern!«

»Da sehen Sie's, Kaljabin!«

Mit dem Anbruch der frühen Dämmerung kehrten sie zurück. Tee wurde bereitet. Petrowskij trat ein.

 

Sina wartete voll Qual und Ungeduld.

Die struppigen Wimpern schlugen gegeneinander, verhakten sich; sie grübelte über ihr Los … Wenn noch etwas – was, nannte sie nicht – in ihm zurückgeblieben war, dann … sich ihm hingeben, ohne zu fragen – einen kurzen Augenblick untertauchen, sich auflösen im Eigensten, Tiefsten, mochte das Glück nachher wieder zerschellen! Nur nicht mehr sich überflüssig und unnütz fühlen müssen, eingemauert in die vier Wände des Klosterzimmers. Nicht mehr das Glockenläuten hören, nicht mehr die dumpfe Mauer des schwarzen Waldes ewig vor Augen sehen, Sinn, Ziel und Zweck in ihre Arbeit bringen – vielleicht würde sie sie dann wieder lieb gewinnen, sich ihr freudig widmen.

Es klopfte; sie fuhr auf, lief zur Tür.

»Nikodim, Liebster!«

Es war nicht mehr nur ein Ausdruck naiver, überspannter Zärtlichkeit, ein Hauch ihres innersten Wesens lag in diesem Ausruf:

»Liebster!«

»Sie müssen jetzt doch glücklich sein, Nikodim? Nicht?«

»Und Sie, Sina?«

»Ich?! Ich warte jetzt sechs Jahre lang auf mein Glück!«

Sich ihrem Gefühl hingeben, restlos, mit allen Gedanken, mit ganzer Seele! Aus seinen Briefen, die er ihr während seines vereinsamten Lebens bei dem Ingenieur Drakin geschrieben hatte, als er Seite auf Seite mit Berichten über sein Innenleben ausgefüllt hatte, war er vor ihr erstanden, er, dem sie ihren Ring und zugleich ihre Seele hingegeben hatte – und nun stand er selbst wieder vor ihr!

»Und nun?«

»Nun ruht mein Glück in Ihrer Hand … Geben Sie es mir … Ich wußte nicht, wie Ihnen schreiben, aber alle die endlosen Tage waren Sie bei mir, hier in diesem Zimmer. Erst litt ich und wartete, dann ergab ich mich in mein Schicksal – vielleicht war ich selbst schuld, ich verstand wohl nicht zu lieben … Jetzt aber … Geben Sie mir meine Seele wieder – zusammen mit meinem Ring – oder geben Sie mir mein Glück! Ich frage Sie nicht, ob es lange währen mag, mein Glück, oder nur kurze Zeit … Aber so, so kann ich nicht weiter leben, Nikodim …«

Sie ergriff seine Hände und wartete mit klopfendem Herzen, ob er ihre Hände wohl drücken, sie an sich ziehen würde. Plötzlich konnte sie nicht mehr denken, wußte nur eines: daß es auf Erden keinen glücklicheren Menschen gab als sie! …

Sie schwamm im Dämmerschein, heiß und zärtlich, hing gierig an seinen rauhen Lippen, den unrasierten Wangen, stumm, wortlos, sank, löste sich auf im Ungenannten. Jeder Kuß, jedes seiner Worte war eine köstliche Last und eine Gabe überwältigenden Glücks.

Im Halbdunkel flüsterte er:

»Ich bin Kommunist, Sina!«

»Du hast dir deinen Glauben durch Leid erkämpft! Bleibe dir und deinem Glauben treu bis zuletzt. Ich glaube dir und an dich.«

»Und wenn ich dich einmal verlassen sollte? Wenn wir uns fremd werden sollten?«

»Mein Leben wäre doch gerechtfertigt durch dieses unendliche Glück! Meine Liebe wird mich zu leben lehren, ich werde das Leben nicht mehr fürchten, mich nicht mehr vor dem Leben verbergen, werde die Welt mit anderen Augen betrachten … Und könnte ich denn nachdem etwas anderes als Dankbarkeit dem gegenüber empfinden, der mir all diese Schätze erschlossen hat?!«

Ihre Augen schimmerten in der Erwartung unerkannter Seligkeit, die struppigen Wimpern haschten verliebt nach seinen Blicken; erregt umrieselten breite Haarwellen in großen dunklen Ringeln das weiße Gesicht.

»Ich werde dein sein, dein …«

Ihre Arme streckten sich hingebend aus.

»Und du wirst mit mir kommen?«

»Liebster, wohin du willst! Solange du mich brauchst …«

»Weißt du auch, mit wem ich hier bin? Mit der kleinen Fenja!«

»Ich weiß … Sie ist aber zu Boris gekommen. Er hat von ihr im Fieber phantasiert … Ich pflegte ihn, als er krank danieder lag. In seinem Dienst für andere ging er bis zur Selbstaufopferung.«

»Wie das?«

»Gemeinsam mit den jungen Mönchen war er als Sanitäter tätig. Ein wunderbarer Mensch.«

»Und wer ist jener schwarze Mönch?«

»Boris nennt ihn den Meister. Er ist Akademiker, Hieromonach. Die ganze Klosterwirtschaft hat er trotz der schwierigen Zeiten zusammengehalten.«

Sie erzählte über ihr Leben hier, über Vater Polykarp Lasarew, über den Hader zwischen den jungen und den alten Mönchen.

»Wie gut, daß ich mit dir über diese Sache gesprochen habe, Sina. Das kommt mir als Richter über die Mönche sehr zustatten!«

»Liebster, wenn du wüßtest, wie glücklich ich bin! Und alles ist so leicht und einfach geworden!«

 

Froh und glücklich kehrte Petrowskij in die gute Stube der alten Herberge zurück.

Afonka holte unbeholfen aus seinem Koffer allerlei Leckerbissen heraus.

Fenja bemerkte scherzend:

»Sagen Sie mal, Vater Afanaßij, was fehlt noch zu einem rechten Klostertee?«

»Kognak, Fjokla Timofejewna, frommes Chrisamöl …«

»Sehen Sie mal, Sie wissen es nicht mehr!«

»Was dann?«

»Beeren, Weihbrot und Milch.«

»Warten Sie, das hol' ich gleich!«

»Ich habe doch bloß gescherzt.«

»Ach was, gescherzt! … Ich hole es gleich.«

Afonka hinkte zum Zimmer hinaus.

Petrowskij und Fenja waren allein.

»Sina ist hier. Sie sagt, du seist zu Boris gekommen.«

»Hast du ihn gesehen? Ich muß mit ihm sprechen.«

»Du liebst ihn?«

»Ich weiß nicht … Aber all diese Jahre läßt er mich nicht. Du bist gut zu mir, bist mein Freund. Hilf mir!«

»Was kann ich tun?«

»Ich fürchte für ihn, Kaljabin will hier zeigen, was er kann.«

»Ja, er fühlt sich hier als Fachmann.«

»Er ist heute mit mir im Walde spazieren gegangen. Mein ganzes Leben lang verfolgt er mich. Und ich habe ein seltsames Angstgefühl – ich bin eine Frau. Ich glaube zwar nicht an Vorahnungen, aber mir ist, als schwebe der Tod über mir. Und ich fürchte für Boris.«

»Gut. Ich will ihn verhaften und bringe ihn in dem Zimmer neben dem deinen unter. Gleich …«

Er ließ ein paar Soldaten kommen, suchte Vater Polykarps Zelle auf und nahm Boris Smoljaninow in Gewahrsam.

 

Afonka hatte die Richtung nach dem Viehhof eingeschlagen, um Milch zu holen. Unterwegs kamen ihm die Verhafteten in den Sinn; er beschloß, einen Teil der Mönche freizulassen, und bog zu den Landhäusern ab.

»Von den Mönchen bekomme ich auch getrocknete Erdbeeren.«

Er ließ die Väter Xanfij, Akindin, Mißail und die drei übrigen an der Überschwemmung beteiligten Mönche in Haft. Bruder Kostja schritt Vater Polykarp nach. Der Abt wartete am Eingang auf Kaljabin.

Während seiner Inhaftierung hatte Abt Gerwaßij trotz seiner Verstörtheit unablässig an die kleine Fenja und Afonka denken müssen; schließlich war ein breites Lächeln über sein Gesicht geirrt.

»Na, dann warte nur, Freund Afonka: ich will dir einen Freundschaftsdienst erweisen. Du bist jetzt an der Macht, schön, die Sache mit der kleinen Fenja aber will ich dir trotzdem verleiden …«

Der Verlust seines Geldes drückte ihm das Herz ab; der brennende Haß gegen seinen ehemaligen Busenfreund kam wie eine Erleichterung.

Als Afonka herauskam, redete ihn der Abt in ölig salbungsvollem Tone an:

»Weshalb peinigt ihr Unschuldige? …«

Belustigt gab Kaljabin bissig zurück:

»Ich kenne euch ja, mir brauchst du nichts vorzumachen …«

»Du warst doch mein Freund, mein Busenfreund …«

»Solche Busenfreunde können mir den Buckel runterrutschen. Sprich, und mach keine Mätzchen.«

»Du tust mir leid, Afanaßij …«

»Du willst sagen, du beneidest mich! … Weil du leer ausgegangen bist … Hast du sie gesehen?! Ein Bild von einem Mädel!«

»Und … durch wie viele Hände die gegangen ist, danach fragst du nicht?«

Afonka ballte die Fäuste, schob sich die Kappe ins Genick.

»Nimm deine Zunge in acht, sonst mache ich kurze Abrechnung, im Handumdrehen befördere ich dich ins Jenseits!«

Am Viehhof blieben sie stehen. Der Abt fiel Afonka ins Wort; in der Dunkelheit blickte er ihm angestrengt ins Gesicht.

»Frage mal deine Fenja nach dem flüchtigen Studenten.«

»Wen meinst du?«

»Unseren Vater Jewtichij meine ich, den schönen Burschen, der als Student Boris Smoljaninow hieß: frage sie mal, warum der von ihr geflohen ist – sie hat ihn so weit gebracht, daß er zu uns ins Kloster geflüchtet ist, um sich vor ihr zu retten … So eine ist deine kleine Fenja! …«

Afonka taumelte, griff nach dem Abt, ächzte, brüllte ihn an:

»Du lügst, Schweinehund! Der Neid spricht aus dir, weil du sie nicht gekriegt hast!«

Vater Gerwaßij entschlüpfte um die Ecke und lief im Dunkeln davon.

Ihm nach donnerte es:

»Du entgehst mir doch nicht! Kommst an die Wand, Hund!«

Sein Gesicht zuckte, seine Hände bebten, Wut würgte ihn. Er dachte an den jungen Mönch, der anklagend vor den Richtertisch getreten war, an Fenjas sonderbaren Blick, und er spürte, daß etwas Wahres in Nikolkas Worten lag. Er ballte wieder die Fäuste, der Gedanke kam ihm: Ich knalle den Burschen nieder, ohne daß sie es weiß. Er pochte an die Pforte des Viehhofs.

Arischa eilte heraus, fragte erschrocken:

»Wer ist da?«

»Aufgemacht! Der Kommissar.«

Die Pforte ging auf. Er schritt über den wohlbekannten Brettersteg zum Hause.

»Ich brauche Milch.«

»Wir haben bereits gemolken und die Milch in die neue Herberge gebracht.«

»Quatsch! Drückt noch etwas nach, ich warte solange.«

Er trat in die Zelle. Die Nonne suchte erschrocken nach der Laterne, holte den Milcheimer.

Er musterte sie prüfend; die rotblonden Haare quollen unter dem Kopftuch hervor, ihr weißer Hals blitzte auf. Er sagte:

»Donnerwetter, was die Mönche sich jetzt für junge Weiber halten!«

Sie suchte nach einem Kerzenstummel für die Laterne, Scham und Unwille trieben ihr das Blut ins Gesicht.

»Als Sawwa Abt war, waren die Väter mit schielenden und pockennarbigen Weibern auf dem Viehhof zufrieden – kamen immer hergelaufen, um sich Milch zu holen. Was starrst du mich an? Ich bin ja hier aufgewachsen, kenne alle eure Schliche und Heimlichkeiten. Bist wohl die Kebse des Abts, Nikolkas! Du Luder!«

Sie lief auf den Hof hinaus, bat Mutter Arefia, die Kühe zu melken.

»Mutter, Liebste, schnell, Sie verstehen ja, – es ist ihr Oberster … Ich bin in solcher Angst …«

Sie kehrte in die Zelle zurück.

»Na, wo ist denn die Milch?«

»Sie wird sofort gebracht, die Kühe werden gemolken …«

Sie lehnte sich zusammengeduckt an den Türrahmen, lauschte.

Das Blut hämmerte unter Afonkas roter Zottelmähne, wütend zuckten die Flügel seiner verkrüppelten Nase.

Die Zimmerdecke knarrte. Afonka horchte auf. Es knarrte wieder. Die Nonne erstarrte, der kalte Schweiß brach ihr aus allen Poren, kalt rieselte es ihr den Rücken hinab.

Ein böses Lächeln verzerrte sein Gesicht.

»Was ist das da oben? Ratten?«

»Ich glaube die Katze, die Katze wird es wohl sein …«

»Ich will mal nachschauen, ob sie Hosen trägt oder eine Kutte?!«

Er stand schwerfällig von der Bank auf, feixte belustigt.

Arischa streckte zag die Hände aus, flüsterte:

»Es ist meine Katze, bloß meine Katze …«

Afonka trat in den Flur hinaus und rief nach oben:

»He, Vater, komm mal runter!«

Niemand antwortete. Afonka kletterte die Stiege hinauf, öffnete die Dachluke und zog eine Pistole aus der Tasche.

»Hörst du nicht, ich meine dich – du sollst herunterkommen, sonst schieße ich.«

Er wartete einen Augenblick, dann drückte er ab; aus dem Dunkeln fiel ein Gegenschuß. Afonka sprang wutschnaubend herab, stürzte vor die Pforte, und ein schriller Pfiff gellte durch den Wald. Die Posten vom Klostertor eilten herbei.

»Oben auf dem Boden steckt einer – ist lebend zu greifen. Die Klosterhure hier ebenfalls.«

Der auf dem Boden Versteckte schoß blindlings ins Dunkel. Verwundet wurde er herabgezerrt; er war nicht dazugekommen, sich zu erschießen. Er trug einen offenen Soldatenmantel und einen French ohne Achselstücke.

»Hallo, Freundchen. Also im Kloster verbergen wir uns!«

 

Xanfijs Nachricht von dem bevorstehenden Eintreffen des Ausschusses hatte sich schnell verbreitet. Am Abend, im Dunkeln war Leutnant Wladimir Belopolskij zu Arischa gekommen, die immer zu Hause saß, um sich nicht den Anrempelungen der Arbeiter auszusetzen, die in der neuen Herberge zur Erholung weilten. Die Milch brachte ihnen die alte Viehmagd Mutter Arefia.

Arischa hatte die Pforte geöffnet, ihr Blick sank in Wladimirs Augen.

»Arischa, ich komme zu dir! Verbirg mich!«

Die Erinnerung an ihre junge Liebe überkam sie – sie konnte nicht anders, sie mußte ihm helfen!

Lange erzählte er ihr von den Bemühungen der Weißen, die Heimat zu retten, von den Befreiern, die von Süden her kämen, um mit dem roten Reich der Antichristen aufzuräumen, davon, daß auch er unter Einsetzung seines Lebens für das Vaterland gerungen habe.

»Bei meiner Schwester Sina darf ich nicht bleiben, man könnte mich erkennen, und dann wäre auch sie gefährdet … Bei dir ist es sicher – das Schicksal selbst hat mich hergeführt …«

Sie weinte vor Mitleid und Liebe, verbarg ihn auf dem Dachboden, brachte ihm Milch und Brot. Er küßte ihre weinenden Augen und die Hände. Sie wollte glauben, und so glaubte sie an ihr neuerstandenes Glück in weher Seligkeit. Mutter Arefia mußte Schweigen geloben, darauf weihte sie sie in ihr Geheimnis ein. Beide Frauen wachten über ihn und zitterten für ihn, als die Sowjetleute angekommen waren …

 

In der Baracke hinter der alten Herberge verhörte Afonka den Offizier.

»Ich komme aus deutscher Gefangenschaft und bin bei meiner Schwester abgestiegen. Sie ist in der neuen Herberge als Dienstmädchen angestellt.«

Dem Leutnant war ein langer Bart gewachsen; Afonka hatte ihn nicht erkannt. Er befahl, ihn völlig zu entkleiden und seine Kleider zu durchsuchen. Unter der Ferse im Stiefel fanden sie seine Papiere.

»Hallo! Und wir haben nach dir in der Stadt alle Winkel durchstöbert! Wo ist der Oberst, sprich!«

Der Leutnant warf den Kopf zurück, antwortete stolz, verächtlich:

»Ich habe allein gearbeitet.«

»Lüge! Ein Mann allein kann Züge nicht den Damm hinabstürzen lassen. Wer sind deine Helfer?«

Der Leutnant schwieg ruhig und blickte Kaljabin höhnisch an, vor Schmerz die Zähne zusammenbeißend – mit der linken Hand hielt er den durchschossenen rechten Oberarm.

»Na, da wollen wir denn dein Schwesterchen fragen!«

Afonka erhob sich, schritt hinkend aus der Baracke, die rotblonde Nonne auf dem Viehhof fiel ihm ein, er kehrte an den Tisch zurück.

»Die Nonne her!«

Blaß, erschrocken, mit verwühltem Haar stand sie vor ihm.

»Hast dir einen sauberen Liebhaber zugelegt! … Dein Name?«

Verweint, elend, antwortete sie im Flüsterton:

»Arischa.«

»Zuname?«

»Kaljabina.«

»Ich heiße auch Kaljabin. Wo bist du geboren?«

»In der Troizkij-Vorstadt, beim Nonnenkloster.«

»Auch ich bin da geboren. Hieß deine Mutter Matrjona?«

Sie schlug die Hände vors Gesicht, brach in Tränen aus.

»Afonja! Mein verschollener Bruder! …«

Die Soldaten wechselten verlegene Blicke, Leutnant Belopolskij öffnete, vor Schmerz mit den Zähnen knirschend, verwundert die Augen. Kaljabin sprang auf und rief seiner Schwester ärgerlich zu:

»Ausgerechnet mit dem Kerl mußtest du dich einlassen! Schimpf und Schande bringst du über mich.«

Seine Wut wich vor jähen Erinnerungen. Sinnend gedachte er seiner Mutter … senkte finster die Stirn.

»Zwei Mann mit zur Begleitung! Mit Gewehr!«

Die Dunkelheit war undurchdringlich geworden; aus dem Walde wälzte sich schlangengleich der Nebel über den Weg und kroch bis an die Klostermauern.

Durch das Dunkel tönte das Klopfen der geschulterten Gewehre.

 

Petrowskij hatte Boris Smoljaninow nach seiner Verhaftung in einem Zimmer der Herberge eingeschlossen.

»Sitzen Sie still. Fräulein Fenja Grakina wird bei Ihnen vorsprechen.«

Als Afonka nicht zurückkam, wurde nicht länger auf ihn gewartet, man trank Tee, Fenja war ungeduldig, eilte zu Boris. Petrowskij hatte ihr den Schlüssel übergeben.

Dumpfe Schüsse drangen vom Viehhof her an sein Ohr, er meinte, die Posten schössen in die Luft, um die Mönche einzuschüchtern.

»Kaljabin läßt den Leuten zu viel Freiheit …«

Er hörte das Klopfen der Gewehrkolben, erkannte Afonkas humpelnde Gestalt.

»Er stellt selbst die Posten auf …«

Ein wirrer Tag! Es lag wie ein Druck auf Petrowskij; das unerwartet über ihn hereingebrochene Glück weckte ein leises Weh. Er stand auf der Freitreppe und atmete tief. Durch die geöffnete Tür fiel das Licht der Hängelampe, ein schwarzer Schatten lag auf der Treppensäule.

Er wollte die Eindrücke des Tages sammeln. Es war ihm peinlich, daß er den Mönch, den früheren Studenten, neben Fenjas Zimmer hatte verbergen müssen, doch Fenja stand ihm nahe, war treu und zuverlässig, und sie beide waren Freunde. Der Abend schien endlos; es zog ihn zu Sina, um auszuruhen, die Schlacken der Tageseindrücke abzustreifen, Freude zu empfangen und neuen Lebensmut.

An den Türpfosten gelehnt, rauchte er seine Zigarette zu Ende. Wieder vernahm er von der Herberge her das Klopfen der Gewehrkolben.

Afonka murmelte:

»Ein Nest haben sie sich hier gebaut, die Luder! Im Kloster häuslich niedergelassen!«

Im Lichtschein, der aus der Tür fiel, erblickte Sina Petrowskij. Ihr leises Weinen versiegte, freudig glänzten ihre Augen auf, sie rief aus dem Dunkel:

»Nikodim! Nikodim!«

Wie ein Pfeil stürzte er die Stufen hinab.

»Genosse Kaljabin, warum haben Sie dieses junge Mädchen verhaftet?«

»Ich habe auf dem Viehhof einen Weißgardisten ausgehoben, und dies ist sein sauberes Schwesterlein. Sie haben sich hier ein Nest gebaut, die Luder. Wir haben den Kerl einen ganzen Monat lang gesucht.«

»Wen?«

»Den Leutnant Belopolskij. Sie selbst sind ja der Bande auf die Spur gekommen. Wie viele Züge haben die Elenden zum Entgleisen gebracht!«

Es wurde dunkel vor Petrowskijs Augen, seine Gedanken verwirrten sich, der Name Belopolskij tauchte auf: ›Also das war seine Schwester, Sina war Belopolskijs Schwester! …‹

Zusammen mit Kaljabin schritt er hinter Sina auf die Baracken zu.

»Ich habe ihre Briefschaften gefunden – sie war gerade beim Packen. Ich kam noch eben rechtzeitig.«

Petrowskij fuhr es durch den Kopf:

»Sie war beim Packen – um mit mir abzureisen … Und die Briefe sind meine Briefe!«

Wie in weiter Ferne, unklar und flüchtig, erstanden in seinem Gedächtnis Bilder aus Petersburg: Afonka als rothaariger Mönch und Fabrikarbeiter, die kleine Fenja, seine Verbannung nach Sibirien, der Ährentag und das schwarzäugige junge Mädchen mit den struppigen Wimpern, der er in dem unsauberen Zimmer der kleinen Provinzstadt von seinem Leben und Leiden berichtet hatte; einen Teil seiner Seele hatte er ihr damals hingegeben, und dann waren seine endlosen Briefe gefolgt, in denen er ihr Rechenschaft ablegte über sein Leben, und Sina hatte geschwiegen … Und nun das hier … Nein, er konnte es nicht glauben! Seine Gedanken peinigten ihn, stachen wie Eisnadeln.

»Genosse Kaljabin, einen Augenblick, ich muß Ihnen ein paar Worte sagen.«

Die Wache mit Sina blieb stehen, Petrowskij und Afonka traten beiseite.

In der Dunkelheit vernahm Sina nur die letzten, im Flüsterton gesprochenen Worte Nikodims:

»... wir verhören sie gemeinsam in ihrem Zimmer!«

»Ich vertraue Ihnen, Genosse Petrowskij. Kommen Sie …«

Afonka spürte etwas wie Rührung in seinem Herzen, hatte sich doch auch seine eigene Schwester verdächtig gemacht, auch sie müßte man einzeln, nicht in Gegenwart Fremder verhören … Die Blutbande erhoben ihre geheimen Stimmen, dämpften für einen Augenblick sein Ungestüm, eine menschliche Regung strich durch seine Seele.

In Sinas Zimmer fragte Petrowskij:

»Sina, ist Leutnant Belopolskij dein Bruder?«

»Nikodim, wir haben doch nichts gemeinsam, er ist mir ganz entfremdet, du weißt es ja, ich habe dir doch davon gesprochen …«

»Und die Briefe? …«

Afonka reichte Petrowskij ein Päckchen Briefe.

»Es sind deine Briefe, Nikodim. Von meinem Bruder habe ich im ganzen zwei kurze Zettelchen erhalten und sie als Andenken aufbewahrt … Lies sie durch.«

Petrowskij reichte die Zettel Afonka.

»Lesen Sie, Genosse.«

Afonka wußte nicht, wie er sich Sina gegenüber verhalten sollte; er warf einen kurzen Blick auf die wenigen Zeilen, reichte sie Sina.

»Ich vertraue dem Genossen Petrowskij! Er ist für Sie verantwortlich. Ich gehe jetzt, ich muß Ihren Bruder verhören.«

Sina und Petrowskij blieben allein. Das junge Mädchen blickte ihm hilflos in die Augen.

»Kind, warum hast du mir nichts gesagt?! Ich glaube dir natürlich, aber ich muß Rücksichten nehmen – Kaljabin ist da, die übrigen Genossen!«

»Gott, Nikodim, ich weiß doch nichts von meinem Bruder, wir sind einander ganz fremd …«

»Gut denn, aber bitte nicht für ihn und frage nicht – wir dürfen unsere Feinde nicht schonen.«

Ein unheimliches Schweigen entstand, ein kurzer, harter Kampf erschütterte die Herzen der Liebenden.

Nikodim trat auf das Mädchen zu und drückte ihr fest die Hand.

»Siehst du, Sina, ich habe mich zu meinem Glauben durch Jahre des Kampfes und Leidens durchgerungen, ich kann meinem Glauben nicht untreu werden, selbst nicht um meiner Liebe willen. Du mußt lernen, meinen Glauben zu teilen, so zu glauben, wie ich, dann wirst du die Kraft haben, Welt und Menschen mit anderen Augen zu betrachten.«

»Glauben wie du! … Ich kann es noch nicht, jetzt noch nicht, Nikodim. Aber ich liebe, und meine Liebe kann mir durch nichts genommen werden … Vielleicht führt mich meine Liebe auch deinem Glauben zu, denn ich will ja glauben.«

»Ja, du bist eine Frau, dich bestimmt das Gefühl, ist dir das Maß der Dinge. Liebe, Kind, dann wird noch alles gut werden.«

Er ging in die Baracke, um beim Verhör zugegen zu sein.

Die Soldaten tranken Tee aus ihren Feldkesseln.

»Wo ist Genosse Kaljabin?«

»Mit dem Weißgardisten in den Wald gegangen! …«

»Hat er ihn verhört?«

»Das Luder schwieg, kein Wort war aus ihm herauszubringen!«

 

Afonka hatte den Leutnant an der Herberge vorbei in den Wald geführt. Da stürzte Arischa ihm nach, haschte nach den Händen ihres Bruders.

»Afonja, Liebster, Bruder, habe Mitleid mit ihm, habe Mitleid mit mir!«

»Mische dich nicht in Sachen, die dich nichts angehen! Du hast auch so schon Schande über mich gebracht.«

»Afonja!«

Er stieß sie zurück, riß sich los; sie sank auf das Moos, bedeckte das Gesicht mit den Händen und duckte sich zu Boden, um nichts zu sehen und zu hören.

Der Wind strich herbstlich pfeifend und heulend durch die Fichten, die Stämme schwankten knarrend und ächzend wie ein Waldschrat im Dickicht, die schwarzen Nadelkronen rauschten …

Das vergossene Blut hatte wieder Afonkas wildes Ungestüm geweckt.

Taumelnd kehrte er zurück; schwerfällig kippte der Oberkörper bei jedem Schritt des lahmen Fußes auf die Seite.

»He, Schwester!«

Er stieß auf die schwarze, am Boden zusammengekauerte Gestalt.

»Laß das Heulen, ich weiß, was ich tue! … Schweig!«

Sie erhob sich und schritt langsam – der Wind rüttelte sie hin und her – dem Viehhof zu. Afonka folgte ihr.

Über den Tisch gebeugt, das Gesicht in die Hände vergraben, weinte sie lange über ihr zerrüttetes Leben. Auch das Wiedersehen mit ihrem Bruder war ihr zum Unheil geworden!

»Wie bist du hierher gekommen? Wer hat dich hergelockt? … War es Nikolka?«

Sie preßte den Kopf noch fester in die Hände und schluchzte auf.

»Also des Abtes Liebchen warst du?! Sprich!«

»Gequält hat er mich … Ich konnte ja nirgends hin … Aus dem Kloster hatten sie mich verstoßen.«

»Du warst Novize?«

»Eine Kaufmannsfrau hatte mir da das Leben verleidet … Frau Denissowa.«

»Denissowa?«

»Sie hatte sich eine Zelle bauen lassen und mich als Dienstschwester zu sich genommen … Sie hatte Geld geerbt von unserem Kaufmann Klimow in der Stadt.«

Afonka schrie auf, daß es durch die Zelle gellte:

»Dunja? Hieß sie Dunja?«

Er verstummte. Grübelte voll Erbitterung: Dunja hatte ihr das Leben verleidet – das Luder hat gewußt, daß Arischa meine Schwester ist, gerächt hat sie sich an ihr! Er gedachte des Abts, und der Gedanke brannte ihm auf der Seele.

»Und hier, da hat dir Nikolka das Leben sauer gemacht? … Sprich!«

»Ja …«

Wieder mußte er denken: Auch Nikolka hat sich an ihr gerächt, meinetwegen; an der schutzlosen Waise haben sie sich vergriffen, die Elenden!

»Hast du mit ihm gelebt?«

»Ja …«

»Und dann hat er dich verlassen?«

Vor Tränen konnte sie nicht antworten. Das Kopftuch war ihr in den Nacken geglitten, das rotblonde Haar hatte sich in Ringeln gelöst; der Anblick erinnerte ihn an Fenja. Ein böses Lächeln glitt über seine Züge, er dachte: Die hat auch mit Petrowskij gelebt – aber jetzt ist sie mein, entschlüpft mir nicht wieder! Sein Blut wallte auf, trüb und heiß, eine dumpfe Schwere ergoß sich in die Arme.

»Luder!«

Er schlug mit der Faust auf den Tisch.

»Ich will dich lehren!«

Er schritt hastig ins Kloster zum Abt.

Die Tür der Abtei war nicht abgeschlossen; Bruder Kostja hatte sich nach seiner Entlassung aus der Haft noch nicht wieder eingestellt, sondern war in den Speisesaal gegangen, um seinen Hunger zu stillen. Afonka, der ja einst Dienstbruder beim Abt gewesen war, tastete sich nach dem Gedächtnis durch das Dunkel. Da war die Truhe, die auch ihm einst als Schlafstelle gedient hatte – Abt Sawwa hatte sie anschaffen lassen. Durch die halb geöffnete Tür, die aus dem Empfangs- ins Schlafzimmer führte, drang ein schwacher, flackernder Lichtschimmer. Stille herrschte.

»Nikolka!«

Ein Hallen zog durch die stillen Räume.

»Nikolka!!«

Der Schieber im Ofenrohr klirrte.

Afonka humpelte durch das Empfangs- ins Schlafzimmer, stieß gegen einen Lehnstuhl, der umstürzte; mit einem dumpfen Knack brach das Stuhlbein.

In der Tür prallte er zurück.

Mit hervorgequollener Zunge, blau angelaufenem Gesicht, nur mit der Kutte bekleidet, hing Abt Gerwaßij am Ofenhaken. Auf dem Tisch flackerte ein Kerzenstummel, in dessen Schein Zwanziger glitzerten.

 

In die Abtei zurückgekehrt, war Abt Gerwaßij unter dem Gedanken zusammengebrochen, daß Afonka auf dem Vorwerk Arischa treffen und sie ausfragen würde. Verstörte Blicke um sich werfend, hatte er seine Zwanziger hervorgeholt, die er zur Erinnerung an seine früheren Sparversuche aufbewahrt hatte. »Mein Vermögen!« stöhnte er. »Afonka hat mich damals bestohlen – vielleicht wäre ich sonst auch in der Stadt geblieben …« Und neben Afonkas rotem Zottelhaar sah er Fenjas blondes Köpfchen; den ganzen Tag hatte er an sie denken müssen, nachdem er die beiden beim Verhör zusammen gesehen hatte; Afonkas Stimme – selbstgefällig und frohlockend – tönte ihm in die Ohren. »Er verhöhnt mich!« dachte er stier. Er setzte sich an den Tisch und starrte reglos, ohne zu blinzeln, auf die Zwanziger; die Augen begannen ihm zu schmerzen, röteten sich. Vor den Pupillen tanzten glitzernde Kreise, und als er schließlich den Blick löste, tanzten auch auf der Wand und auf der schwarzen Fensterscheibe silberne Zwanziger, die allmählich zu Goldstücken wurden … Da flüsterte er: »Mein Leben … Mein ganzes Leben! …« Und langsam und unabwendbar erstand in ihm zuerst wie von außen her über der Hirnschale, dann wie ein glühender Punkt in einer Hirnfalte – die Gewißheit: Es ist aus und zu Ende … Sie hat mich beraubt … Dabei war ihm, als hätte Arischa ihn beraubt.

 

Afonkas Wut hatte sich nicht Luft machen können. Er stürzte aus der Abtei – die verhafteten Mönche waren ihm eingefallen – und humpelte im Laufschritt durch den Klosterhof zu den Baracken. Er klopfte zwei Mann heraus, hieß sie Laternen mitnehmen und schritt, halblaut vor sich hinmurmelnd, zu den Landhäuschen.

»Ich will euch lehren, ich will euch schon lehren! …«

... Blutberauscht, erschöpft, kehrte er nachher in die Herberge zurück. Die Nacht war pechschwarz. Im Laternenschein kroch sein ungefüger Schatten hinkend über den Boden.

In einem Fenster der Herberge bemerkte Afonka Lichtschimmer und Fenjas flüchtige Silhouette.

Erfreut rief er:

»Fjokla Timofejewna!«

Der Umriß von Fenjas Köpfchen wurde wieder auf einen Augenblick sichtbar, gleichzeitig aber erlosch der Lichtschimmer.

»Versteckt sich vor mir! Hilft nichts – ich weck' sie doch.«

 

Am Abend, nachdem Petrowskij Sina befreit und sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, war Fenja, da sie von dem Untersuchungsrichter Nowikow von der Sache erfahren hatte, zu Petrowskij gegangen. Er schritt in seinem Zimmer auf und ab und rauchte unablässig.

»Nikodim, was machen wir nun?«

»Ich weiß nicht, Fenja. Wie mir nicht früher in den Sinn gekommen ist, daß Belopolskij Sinas Bruder sein könne! Doch nicht um ihn handelt es sich. Auf unsere Feinde dürfen wir keine Rücksichten nehmen. Aber sie ist seine Schwester – verstehst du, er hatte sich hier bei ihr verborgen, das wirft auch einen Schatten auf sie, und da ich für sie eingetreten bin, nun auch auf mich. Kaljabin hat sich das hinter die Ohren geschrieben …«

»Ja, Kaljabin … Und du arbeitest wieder mit ihm zusammen!«

»Er fühlt sich hier wie der Fisch im Wasser, plätschert in seinem Element. Alte Feindschaften werden ausgetragen, Abrechnung für alles gehalten, was ihm gegen den Strich ging. Hast du bemerkt, wie er über den Abt triumphierte? Der Mönch in ihm lebt noch, ist noch abstoßender geworden. Er tummelt sich hier und ist nicht zu bändigen. Und nun hat er eine Beschuldigung gegen mich in Händen, und ich weiß nicht, wie auf ihn einwirken.«

»Auch ich fürchte ihn. Er ist mit der Hoffnung hergekommen, seinen »Stern von Bethlehem«, wie er mich nennt, zu erwerben … Mein Leben lang hängt diese Drohung über mir, lastet auf mir wie eine schwere Bürde. Du hast gesehen, mit welchen Augen er Boris betrachtete – ich bekam mich erst wieder in die Gewalt, als du ihn glücklich zur Tür hinausbugsiert hattest … Mein Leben lang dieses Grauen über mir …«

»Ja, Fenja, seit deiner frühesten Jugend! Dabei sind wir beide in seiner Hand. Und – eigentlich ist er doch ein Verbrecher!«

»Warum duldet ihr solche Menschen um euch?!«

»Weißt du, daß ich gewissermaßen sein Gefangener bin? Und einmal hat er mich schon verraten …«

»Um meinetwillen …«

»Und jetzt … Durch meine Liebe zu Sina haftet ein Makel an mir, ihr Bruder …«

»Befreie dich von Kaljabin. Sonst bin auch ich verloren, er wird sich über mich stürzen, zertreten, vernichten – o dieses Grauen! Nein, nein, niemals!«

»Wie soll ich das machen?! Er ist auf seine Weise ehrlich. Ein wirklicher Proletarier. Er glaubt aufrichtig an die Gerechtigkeit seines Gerichts. Für ihn ist jeder ein Feind, der nicht ist wie er. Zugleich aber lebt seine Vergangenheit in ihm, ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen, darum ist er gar nicht imstande zu begreifen, wie sündhaft, wie verbrecherisch sein Handeln oft ist. Er ist ein ehrlicher Verbrecher. Und das geht so weit, daß vielleicht auch ich in seinen Augen bereits ein Feind bin. Und dann wird er sich keinen Augenblick besinnen, auch mich niederzuknallen.«

»Befreie dich von ihm.«

»Du siehst – ich habe keine Handhabe!«

»Aber so wächst ja der ungeheure Druck, den er auf uns ausübt, ins Maßlose! Er wird doch auch Boris nicht verschonen!«

»Das ist der zweite Makel, der mich verdächtig macht. Jeden Augenblick kann er Smoljaninow entdecken. Ich kann das nicht zulassen. Ich muß Smoljaninow entweder ins Kloster zurückschicken oder ihn den übrigen Verhafteten zugesellen.«

»Nie und nimmer!«

»Geh nun und sprich mit Smoljaninow. Nach einer halben Stunde schicke ich ihn ins Kloster zurück.«

»Ich gebe euch Boris nicht heraus! Boris – das ist mein Leben, und ich liebe mein Leben, und niemand soll es mir nehmen; umsonst gebe ich es nicht hin. Ich will frei sein von diesem Druck, frei von diesem Grauen. Ich will atmen und leben dürfen. Leben! Ich will leben!«

»Geh jetzt, sprich mit ihm.«

 

Boris saß stumm in dem dunklen Zimmer, drückte erregt Hand auf Hand, so daß die Knöchel leise knackten. Sein Käppchen hatte er abgenommen und auf die Knie gelegt.

»Weshalb will sie kommen? Weshalb mit mir sprechen! Was will sie von mir, dem Mönch?!«

Er gedachte der Arbeiten im Gemüsegarten, der sonnigen Tage, der goldenen Ähren auf den Feldern der Bauern, des stillen Himmels mit den großen Sternen, des plätschernden Flusses, der morgendlichen erfrischenden Kühle, und wie er – je straffer und kräftiger sein Körper wurde, je brauner der Sonnenbrand auf seinem Gesicht – immer heftiger neuen Lebensdrang in sich wachsen gespürt hatte, und wie zugleich Fenjas Bild, das er nicht eigentlich vor sich sah, aber immer in sich fühlte, ihn nicht mehr lassen wollte, so daß er sich des Morgens unter den heftigen Schlägen seines Herzens erschauern fühlte.

»Was ist das mit mir? … Und so unablässig? …«

Es war wie ein leises Erwachen über ihn gekommen, dessen er sich schämte, aber den ganzen Tag über hatte er das Gefühl, als sei er dem Leben zurückgegeben worden, und zugleich auch ihr – Fenja. Er erlaubte sich nicht, an sie zu denken, aber das half gar nichts, sie war da, überall, in allem, ob er auch nicht an sie dachte. Und das war schon lange so gewesen, erkannte er plötzlich. Er sah die goldene Rinde der Fichten, und sie war wie ein Glühen in seinem Herzen, so daß er die Stirn senkte. Die goldenen Sonnenflecken blendeten ihn, daß er die Augen schließen mußte. Der Sandboden des Flusses schien golden unter dem nach Harz und Waldkräutern und Moos und Farnen und braungelben Tannenwurzeln duftenden Wasser, und er badete in diesem flüssigen Gold, es rieselte an seinem Körper hinab, und ein goldenes Leuchten war in ihm, strahlend und lockend, so daß er verwirrt und verstört in seine Laubhütte floh …

Der eigentliche Kampf in ihm aber war erst entbrannt, als er sie heute wiedergesehen hatte, ihre Augen, ihr Haar, und langsam vor dem Kommissar zur Tür zurückgewichen war. Schmerzlich rang er mit sich selbst, bemüht, das Bild der Verstorbenen, der er ewige Treue gelobt, in sich zurückzurufen und von ganzem Herzen für ihr Seelenheil zu beten. Aber alles war umsonst, das Bild der anderen ließ ihn nicht, und in seinen Gliedern war ein Weh, und die Zunge klebte ihm trocken am Gaumen. Und dazu dies Unfaßliche: sie war mit ihnen, mit jenen, die der Meister »Nazarener« genannt hatte! …

Er wartete auf sie, erwartete sie – und rang gegen diese Erkenntnis, daß er sie erwartete!

Schnell und lautlos trat sie ein, schob den Riegel vor die Tür.

Dankbar empfand er die Dunkelheit; so würde er ihre Augen, ihr Haar nicht sehen.

Sie trat auf ihn zu; er stand auf und harrte stumm. Sie ergriff seine Hände; er sah sie nicht, aber er fühlte die Wärme ihrer Hände, fühlte ihre Gegenwart, den Hauch ihres Atems, und plötzlich merkte er, daß er nicht mehr klar zu denken vermochte, und die Angst überkam ihn, er könnte vergessen, daß er Mönch sei, daß er dem Leben für immer entsagt hatte, daß sein Glück – Buße, Gebet und Entsagung war! …

»Borja, ich bin gekommen, um Sie zu holen. Ich will leben. Ohne dich ist und war mein Leben kein Leben, es war nur Vorbereitung und Erwartung. Mein Leben liegt in deinen Händen – gib es mir.«

Ein Streichhölzchen flammte auf, sie zündete eine Kerze an.

»Sieh her – da bist du und dein Sohn.«

Sie zog das Medaillon aus dem Busen, öffnete es. Er erinnerte sich dieses Medaillons, trat näher. Ohne die Kette vom Halse zu lösen, legte sie ihm die Kapsel in die Hand. Das Gold war noch warm von ihrem Körper, und ihr unbestimmter süß-herber Duft hauchte ihn berauschend an. Seine Hand zitterte, die Wärme teilte sich ihm mit, prickelte in seiner Hand, rieselte in Funken durch seinen Leib.

»Sieh doch hin!«

Erschrocken schaute er auf die kleinen Bilder, erblickte sich in Studentenuniform und auf der anderen Seite das Gesicht eines Knaben. Sinas Worte fielen ihm ein. Fenja hatte den Kopf gesenkt, ihr Haar kitzelte ihm Stirn und Ohr. Er wich zurück, in seinen Schläfen hämmerte das Blut. Er atmete den warmen Hauch ein, der bei dem Heben und Senken ihres straffen Busens aus dem Kleidausschnitt aufstieg, erschauerte; ihm wurde heiß und unheimlich, er meinte zu ersticken.

»Was hast du denn?«

Er schwieg, senkte den Kopf.

Fenja ließ das Medaillon auf die Bluse fallen und trat ans Fenster. Sie erblickte den schwachen Lichtschein einer Laterne und Afonkas hinkende Gestalt. Da eilte sie auf Boris zu, legte ihm die Hände auf die Schultern, sah ihm mit einem besorgten Blick, aus dem tiefste Liebe strahlte, ins Gesicht und flüsterte hastig:

»Rühre dich nicht. Warte auf mich. Ich muß dein Leben retten, Borja!«

Sie löschte das Licht aus, lief in den Gang hinaus, schloß die Tür mit dem Schlüssel ab, den sie in den Halsausschnitt gleiten ließ, und zog aus der Tasche den Schlüssel zu ihrem eigenen Zimmer nebenan. Der Laternenschein schwankte heran – Fenja schritt Afonka entgegen und lächelte ihm zu.

»Wir haben lange mit dem Tee auf Sie gewartet, Genosse Kaljabin.«

»Ich bin aufgehalten worden. Hab' einen Weißgardisten abgefangen. Aber Tee würde ich auch jetzt noch sehr gern bei Ihnen trinken.«

Fenja überlegte schnell – der Petroleumbrenner würde summen – es ging.

»Schön, Petrowskij schläft schon. Also kommen Sie denn in mein Zimmer.«

Der Petroleumkocher summte. Von den Wänden des staubigen, unsauberen Zimmers blickte der heilige Simeon herab, über der Tür dunkelte in einem Glasrahmen die Gesamtansicht des Klosters, die Mauern und die neue Kathedrale schimmerten als weiße Flecke aus dem Grau.

Der grob gezimmerte Tisch schaukelte unter Afonkas schweren Ellenbogen, und bei jeder Bewegung im Zimmer knarrte das alte Holzbett. Es roch nach Spinngeweben und nach Weihrauch und Wachskerzen – ein Geruch, der auch durch anhaltendes Lüften nicht zu vertreiben war. Zusammen mit dem Tisch schwankte auch die Laterne, so daß Afonkas klobiger Schatten hin und her zuckte. Er hatte die Laterne auf den Tisch gestellt, zwischen sich und Fenja, und im Lichtschein flimmerte seine Lederjoppe; das Gitter aus dünnem Draht um die Scheiben der Laterne warf schmale, dunkelbraune, sich kreuzende Schattenstreifen auf die Joppe.

Fenjas Haar – sie war ohne Joppe und Kappe – schimmerte golden, langsam und schwer hob sich ihre mädchenhaft pralle Brust. Afonka wandte kein Auge von Fenja.

In den Klostertassen mit den blauen Rändern dampfte der Tee.

Afonkas Erregung legte sich allmählich, seine Wut verrauchte, ein Lächeln erschien auf seinem breitknochigen Gesicht.

»Da sind wir nun wieder zusammen im Kloster, Fjokla Timofejewna!«

»Und trinken auch wieder Tee zusammen. Sehen Sie – es sind noch immer dieselben Tassen …«

»Hier ist vieles geblieben, wie es war … Nur wir haben uns verändert.«

»Würden Sie es vorziehen, noch Mönch zu sein?«

»Wissen Sie, wenn Sie nicht Fjokla Timofejewna, sondern Fenja für mich wären …«

Eine Erinnerung überkam ihn, er seufzte.

»Nun, was wäre dann?«

»Dann würde ich mit Ihnen Boot fahren! …«

Die Erinnerung war nicht mehr schmerzlich; lächelnd sagte er:

»Übrigens, Ihr Nikolka hat sich erhängt.«

Die Tasse in Fenjas Hand zuckte, doch hatte sie sich gleich wieder in der Gewalt.

»Wann?«

»Heute abend. Aus lauter Angst vor mir.«

Mit einem Scherz wollte sie das Grauen abschütteln, das sie überkam; lächelnd sagte sie:

»Ich habe auch Angst vor Ihnen, Kaljabin.«

Afonka fuhr in seinem Bericht fort:

»Mit denen habe ich abgerechnet, mit den Müllern …«

»Was für Müller meinen Sie?«

»Na, die Mönche. Der kleine, rothaarige, mit dem gedunsenen Bauch, hat die ganze Zeit geweint, Akindin, der Klosterkrämer, hat mir unterwegs immerfort mit dem höllischen Feuer gedroht, bloß Mißail war ein Kerl – im letzten Augenblick hat er mich heruntergeschimpft, was das Zeug hält. Da hat er mir sogar leid getan …«

Ruhig, ein kaltes Lächeln um die Lippen, blickte sie ihn an. Der Schatten eines jähen Gedankens lief über ihr Gesicht und erstarrte in ihren Augen.

»Sie wollen also durchaus erreichen, daß ich wieder zu Petrowskij übersiedle? …«

Keuchend stieß Afonka hervor:

»Fjokla Timofejewna, die Mönche haben mir doch mein ganzes Leben vergällt! In diesem Lasterpfuhl bin ich aufgewachsen, als grüner Junge mußte ich die Lüste von Kaufmannsfrauen befriedigen – Sie wissen es ja selbst; dadurch ist dann mein ganzes Leben vor die Hunde gekommen … Wenn Sie nicht gewesen wären, so hätte ich wohl im Zuchthaus geendet … Sie sehen, Sie sind wirklich mein Stern von Bethlehem! Und Sie haben mir gesagt: Ich gehe mit Ihnen bis ans Ende der Welt! So quälen Sie mich nicht länger, sagen Sie mir nur ein einziges Wort – auf meinen Armen will ich Sie tragen …«

»Wissen Sie, dazu bin ich zu schwer, Kaljabin.«

»Sie setzen sich mit Scherzworten über alles hinweg, Fjokla Timofejewna, und wissen nicht, daß diese Mönche, dieser Nikolka Predtetschin, der Abt des heiligen Klosters … meiner Schwester das Leben zur Hölle gemacht hat!«

»Wie? Ihrer Schwester?«

»Der Nonne Arischa. Sie ist meine leibliche Schwester, die einzige! Hat seinen Spaß mit ihr gehabt und sie dann verlassen. Ha, mit dem ganzen elenden Kloster räume ich auf, das sage ich Ihnen!«

Er blickte sie durchdringend an und fügte im gleichen Ton hinzu:

»Sie geben ja auch Ihnen keine Ruhe, diese elenden Mönche! … Wie einst Nikolka …«

Fenja stand hastig auf und begann an dem Petroleumkocher zu pumpen. Die Flamme in dem rotglühenden Ring rauschte stärker, und stärker brodelte das Wasser im Teekessel.

»Sie wollen wohl, daß ich sie alle laufen lasse?!«

»Sie sollen nicht so grausam sein!«

»Sind Sie denn nicht grausam gegen mich?! Mein Leben lang hänge ich an Ihnen. Quälen Sie mich denn nicht?«

»Ich will Sie nicht länger quälen!«

»Fjokla Timofejewna! … Und Sie … gehen mit mir bis ans Ende der Welt?«

»Bis ans Ende der Welt, das ist etwas zu weit, aber einen Spaziergang im Walde mache ich gern. Und allein fürchte ich mich – die Zeiten sind nicht danach.«

»Also gehen wir zusammen! Morgen, morgen früh! Und dann sagen Sie es mir?«

»Was denn?«

»Daß Sie … daß Sie bis ans Ende der Welt mit mir gehen?!«

Fenja lachte, stand auf.

»Jetzt ist es aber an der Zeit, schlafen zu gehen, die Uhr geht auf zwei! … Ich will morgen frisch, froh und fröhlich sein. Sonst kann ich überhaupt nichts sagen.«

»Fjokla Timofejewna, Sie werden es mir also sagen?«

»Wenn Sie zu hören verstehen …«

»Ich? Das Herz versteht zu hören!«

Er stülpte die Lederkappe über seinen roten Zottelkopf, nahm die Laterne vom Tisch und humpelte, selig lächelnd, in den dunklen Gang hinaus.

Fenja ging zu Bett und lag lange lauschend wach – ob er nicht am Ende versuchen würde, in ihr Zimmer einzudringen? Klangen nicht schlürfende Schritte auf dem Gang? Sie konnte nicht schlafen, bei dem geringsten Geräusch fuhr sie aus ihrem unruhigen Halbschlummer auf. Am Morgen erhob sie sich früher als alle anderen.

Beim gemeinsamen Morgentee verfolgte sie jede Bewegung Kaljabins. Er saß da, schlürfte gierig den Tee von der Unterschale, biß mit seinen Pferdezähnen Stückchen Zucker ab und sah die kleine Fenja die ganze Zeit erwartungsvoll an.

Der Untersuchungsrichter Nowikow ordnete die Protokolle, Petrowskij rauchte. Fenja stand auf und trat auf die Freitreppe, Afonka schob seine Tasse zurück, stülpte die Kappe über und folgte ihr.

»Genosse Kaljabin, gehen wir zum Verhör.«

»Zum Verhör? Ich habe sie gestern abend auf meine Weise verhört!«

»Sie haben die Verhafteten erschossen?!«

»Ich sollte sie mir wohl bloß angucken? Sie kamen mir gerade in einem hitzigen Augenblick unter die Hand.«

Petrowskij zuckte angeekelt die Achseln. Nowikow schloß hinter Afonka die Tür und wandte sich an Petrowskij.

»Na, da sehen Sie ja!«

»Gleichviel, Pjotr Petrowitsch, wir müssen die Untersuchung fortsetzen und die Aussagen der übrigen Mönche zu Protokoll nehmen. Wir müssen zeigen, daß wir der Sache auf den Grund gehen. Dadurch beruhigen und gewinnen wir die Bauern, was vor der Untersuchung der Reliquien von besonderer Wichtigkeit ist.«

 

Fenja war auf dem Treppenabsatz neben der Säule stehen geblieben. Der Nebel stieg in die Höhe, durch die zerrissenen Wolken blickte zuweilen die Sonne. Fenja bemerkte nicht gleich, daß Afonka hinter sie getreten war. Sein Atem streifte ihren Hals, als er sagte:

»Fjokla Timofejewna! …«

Sie gingen rechts um das Kloster herum, kamen am Viehhof vorüber.

»Kommen Sie, sehen wir uns den See an.«

Bei der Mühle waren Bauern mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt. Die hohen Ufer waren abgebröckelt, aus dem Wasser ragten Pfähle empor, eine Tanne hatte sich in ihnen verfangen, über dem bis an die Wurzeln freigelegten Schilf kreisten schreiend Wildenten, an den vielen seichten Stellen war das Wasser getrübt; wie grüner Schimmel traten Wasserpflanzen hervor, welke, weiße und gelbe Wasserrosen schwammen an langen dunklen Stengeln in den Tümpeln. Der Spiegel des Sees lag glanzlos da, über den Untiefen am Ufer schimmerten in der Sonne die umgekehrten Spiegelbilder vorgeneigter Fichten. Düster blickte der Wald, verfinstert und vereinsamt; die Klagerufe der Kiebitze, die ihrer Nester beraubt waren, zogen durch die Luft.

»Wieviel Schönheit hier mutwillig zerstört worden ist!« Afonka seufzte. Schwer hing sein Blick an dem See. »Und wir können jetzt gar nicht mehr Boot fahren!«

Die Lippen der kleinen Fenja lächelten, während ihre Augen gespannt jede Bewegung Kaljabins, jeden Ausdruck seines Gesichts verfolgten.

Er stand ruhig und sicher da, ein Bild ungezügelter Kraft. Wartete auf seine Stunde.

»Gehen wir am Ufer entlang, um uns den Schaden anzusehen …«

Mit festen Schritten schritt Fenja voran; jener Gedanke, der ihr am Abend vorher gekommen war, straffte ihre Glieder. Die dichte Reisig- und Nadelschicht unter den Füßen knisterte, dann wieder versank der Fuß in nassem Moos. In den letzten Jahren war der Wald nicht mehr von Unterholz gesäubert worden, Sträucher und junge Tannen waren emporgeschossen, deren feuchte Nadeln leise kratzend über die Haut strichen.

Afonka wußte nicht, wie er sich Fenja nähern sollte; eine ihm unverständliche Scheu hielt seine schwer herabhängenden Arme gefesselt; doch je weiter sie gingen, je dunkler und kälter es im Walde wurde, desto sicherer fühlte er sich werden.

»Jetzt entrinnt sie mir nicht mehr! … Freiwillig ist sie zu mir gekommen … Mein Stern von Bethlehem!«

Sie zwängte sich durch das Dickicht am Ufer und blieb unmittelbar am Rand einer waldumschlossenen Untiefe stehen; das Wasser strömte, trübe Wirbel aufwühlend, aus einer breiten Rinne ungestüm in das Becken, das wohl weiter unten einen Abfluß hatte. Fenja blieb wartend stehen und blickte in die Fluten.

Afonka trat von hinten an sie heran, legte seine riesige Hand um ihre Hüfte, fühlte Fenja, ihren straffen Leib in seinem Arm, und erschauerte. Es drehte sich alles vor seinen Augen.

»Fjokla Timofejewna! … Meine kleine Fenjitschka!«

Er preßte ihre festen Schenkel zusammen, drehte sie zu sich und suchte irren Auges nach ihrem Mund. Keuchend stieß er hervor:

»Fenja! …«

»Sie drücken mich tot!«

»Ja, Fenja, ja …«

»Lassen Sie mich los – ich habe ja noch gar nichts gesagt!«

Er lächelte glücklich, gab sie frei. Fenja lachte.

»Gott, ich kann ja gar nicht mehr atmen!«

Er stand mit gespreizten Beinen am Ufer und blickte in das trübe Wasser. Er wollte nicht hastig, nicht ungestüm sein, wollte diesen seligen Augenblick genießen, ihn hinausziehen, daß er ewig währe: sein Leben lang hatte er diesen Augenblick herbeigesehnt – nun wollte er sich in langen, langsamen Zügen an ihm berauschen. »Jetzt ist sie mein, nun kann sie nicht mehr fort. Ich lasse sie nicht, es sei denn als Tote!«

Er fühlte noch ihre prallen, trockenen Lippen auf den seinen und schloß die Augen, um nach einem weiteren Augenblick – der erste berauschende Schluck hatte sich wie flüssiges Feuer durch seinen Körper ergossen – um nach einem weiteren köstlichen Augenblick des Genießens, wenn dieses sengende Feuer ihn ganz durchströmt haben wird, daß sein wildes Blut aufflammt in Gier und Verlangen, sich auf sie zu stürzen, sie niederzureißen und seinen Durst in keuchenden Zügen zu stillen.

Sie fühlte mit ihrem ganzen, wie eine Bogensehne gestrafften Wesen, daß ihr nur eine Minute, nur ein Augenblick blieb – nachher würde es zu spät sein, dann würde sie sich nicht mehr vor ihm retten können; also mußte sie unverzüglich etwas tun, um den Rausch des ersten, beglückenden Zuges hinauszuziehen, zu verlängern. Sie schmiegte sich, hinter ihm stehend, an seine Seite, den linken Ellenbogen auf seine Schulter gestützt, und sprach langsam und leise, mit verhallender, vor Erregung bebender Stimme auf ihn ein; ihr Blick verfolgte verschleiert den wechselnden Ausdruck seines Gesichts, alle ihre Sinne lagen gespannt auf der Lauer.

Reglos, wie benommen, lauschte er ihren leisen Worten; ihre Stimme berauschte ihn, langsam wogte die Verzückung der ersten Berührung durch seine Adern, als wollte sie kein Ende nehmen. Er fühlte ihren warmen Atem unter dem linken Ohr an seinem Hals, und Rausch und Seligkeit machten sein Herz stürmisch pochen.

»Wie schön ist es hier! …«

»Wie schön!« hallte es durch sein ganzes Sein. »Wie schön!«

»Schön und unheimlich … In solchen Augenblicken wird es dem Menschen immer etwas unheimlich ums Herz … Wie über einen Abgrund geneigt … Es zieht einen hinab … Und dann …«

Leise, ohne daß die geringste Bewegung ihre Stellung erschüttert hätte, hatte sie im Sprechen die freie Hand in die rechte Tasche ihrer Joppe gesenkt. Es war, als wäre es nicht ihre Hand, sondern ein von ihrem Körper abgetrenntes Glied, das nur durch den feinen Faden des Willens mit ihr verbunden war und das sich langsam und vorsichtig zu seinem Nacken emporschob. Noch betörender tönten ihre Worte an sein Ohr, noch heißer strömte ihr Atem über seinen Hals, noch gespannter verfolgten ihre Augen jeden Ausdruck seines Gesichts.

Dann – in ein und demselben Augenblick, fast schon bewußtlos – drückte sie ab, stieß ihn in den schwarzen Strudel hinab und rief ihm nach:

»... bis ans Ende der Welt!«

Sie schloß die Augen, lehnte sich an den Stamm hinter ihr, den sie mit dem Arm umschlang, um nicht umzusinken, und hörte gleichzeitig das Aufschlagen seines Körpers auf dem Wasser. Sie regte sich nicht, öffnete die Augen nicht, lauschte nur.

Der Wald schwieg dumpf, über den seichten Stellen im See kreischten die Wildenten und klagten die unterkunftslosen Kiebitze.

Nach einer Weile öffnete sie die Augen, atmete langsam und tief.

»Welch eine Last das war! … Mein Leben lang!«

 


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