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4

Draußen vor der Stadt im früheren geistlichen Seminar saß der Stab der roten Garde. Vom frühen Morgen an kochten hier Teekessel, wurden Gewehre klirrend gegeneinander gestellt; in den Wandelgängen standen zu beiden Seiten Maschinengewehre in Schutzhüllen, die grau-grünen Mäuler stumpf und gleichgültig vor sich hin gerichtet; Kisten mit Bomben, Haufen von Gewehren, Patronenbänder lagen umher. Posten standen an allen Toren, Türen, auf der Haupttreppe. Der Stabskommandant war der stämmige, gedrungene, sehnige Soldat Titoff, Frontsoldat von altem Drill, dessen breite Kinnbacken die Faust so manchen Unteroffiziers, Feldwebels, Kompanieführers gespürt hatten – einmal hatte er zwei untere Zähne ausspeien müssen. Sein Schreibtisch – aus der Wohnung des ehemaligen Rektors herbeigeschafft – war aus massivem Eichenholz, alt und zuverlässig, der würde noch drei Generationen überleben.

»Genossen, von neun Uhr an werden die Offiziere vorgelassen. Und acht gegeben, daß sie sich im Hof nicht in Gruppen versammeln!«

In den breiten Rachen des gartenähnlichen Hofes des Seminars strömten Fähnriche, Rittmeister, Oberste, eine folgsame Herde, um sich von dem roten Kommandanten Titoff registrieren zu lassen.

»Ohne Durchlaß wird niemand hinausgelassen!«

Ein Schreiber der früheren Militärkanzlei ist Titoffs Sekretär; aus zahllosen Blättern besteht die lange Namenliste eingezogener ehemaliger Studenten, Rechtsanwälte, Bankangestellten und der aktiven Berufsoffiziere aller Stufen und Ränge. Auf den Gesichtern spiegelt sich edle Entrüstung und hündische Ergebenheit. Aus der ganzen Stadt haben sie kommen müssen, bei zweitausend Mann. In langen Reihen stehen sie an.

Unter ihnen fielen auf ein Oberst des Generalstabes mit gestutztem Schnurrbart, ein hochgewachsener Mann in wattiertem, elegantem Halbpelz, und seine Gattin, eine brünette Dame in hoher Kosakenpelzmütze, dazu trug sie Tscherkessenkittel und Baschlyk, einen die Taille eng umspannenden Silbergürtel mit Patronen und Dolch, lange Reitstiefel mit englischen Absätzen, und über dem Herzen am üppigen Busen das Bändchen des Georgenkreuzes »das Bändchen des Georgenkreuzes«: Das Georgenkreuz entspricht dem deutschen Eisernen Kreuz.; die kriegerische Dame galt als Zierde und Gegenstand der Verehrung des Armeestabes und war der Stolz des Schlachtenleiters – ihres Vorgesetzten und Gemahls.

Fröhlich pflegte die unternehmungslustige Dame altadligen Geschlechts auf ihrem eigenen rassigen Paßgänger dahinzujagen; sie grüßte militärisch, polierte des Abends ihre rosigen Fingernägelchen, blickte bewundernd zu ihrem stattlichen Gemahl auf und kippte Gläschen auf Gläschen duftigen schwerflüssigen Likörs hinunter. An Herbstabenden, wenn ein Stillstand in dem Schlachtengetümmel eintrat, schrieb sie erhabene patriotische Gedichte, die ihr Gatte seinen Kriegsaufsätzen beifügte und die in Anerkennung seiner militärischen Verdienste in den vornehmsten Zeitschriften erschienen; das Honorar verwandte sie als Nadelgeld und zu Tabak für die »prächtigen Soldaten«.

»Habe die Ehre, Herr Oberst!«

Die Dame im Tscherkessenanzug erhielt einen ehrerbietigen Kuß auf das schmale Händchen.

»Ah, auch Sie sind erschienen, Leutnant Belopolskij?«

»Zu Befehl, Herr Oberst! Welches Affentheater!«

Am Tisch des Kommandanten Titoff drückte der Oberst dem roten Befehlshaber freundschaftlich die Hand.

»Ah, Genosse Oberst?! Lassen sich auch registrieren?«

Der Oberst lächelte schlicht und verbindlich.

»Selbstverständlich, Genosse.«

»Und sogar mit der Gnädigsten?«

»Ist an Disziplin gewöhnt – Soldatenweib.«

Der Oberst erhielt einen Registrationsschein, der ihm Bewegungsfreiheit sicherte.

»Vergessen Sie nicht, Genosse Oberst – heute abend zur Sitzung des Sowjets!«

Der Oberst nickte zustimmend, nahm seine Frau unter den Arm und schritt in Begleitung des Leutnants Belopolskij in den Wandelgang hinaus.

»Sie, Herr Oberst, geben diesem Kerl die Hand? … Der Bandit! Wenn Sie wüßten, was er aus unserem Gutshof gemacht hat …«

»Läßt sich nicht umgehen, Herr Leutnant – Sie sind noch sehr jung.«

So besuchte der Oberst denn auch die Sitzungen des Soldatenrats – als Vertreter der linken Sozial-Revolutionäre –, um über die bevorstehenden Maßnahmen unterrichtet zu sein und sie nach Möglichkeit zu beeinflussen.

Seine Gattin lud Leutnant Wladimir Belopolskij auf den Abend ein.

»Besuchen Sie uns heute, Herr Leutnant, nach der Sitzung.«

Im Salon seiner Frau, den Felle selbsterlegter Tiere und zierliche Kunstgegenstände schmückten, ging der Oberst, in einem neuen, seidig glänzenden French, schneidig auf und ab, blickte seine Frau in ihrem Tscherkessenanzug, ihre blitzenden Ringe an und sagte selbstsicher und nachdrücklich – den Ton hatte er sich im Stab angewöhnt –: »Wir müssen auf dem laufenden bleiben, Herr Leutnant; meine Beteiligung an den Sitzungen dieser Bande bringt uns große Vorteile. Unsere Organisation muß streng konspirativ aufgebaut werden, in kleine Gruppen von je drei Mann eingeteilt, die voneinander nicht wissen. Wir müssen aus der Erfahrung lernen.«

Der Leutnant antwortete mit einem dienstbeflissenen Blick.

»Der Mittelpunkt hier« – er sah seine Frau an – »sind wir drei; jeder von uns spinnt das Netz weiter. Die Base liegt im Süden, von dorther erhalten wir Weisungen. Die Mittel kommen aus Moskau. Wir müssen die Verbindungen zwischen Süd und Nord aufrechterhalten; die Intellektuellen werden ans Gängelband genommen; ideelle Grundlage für sie – jene der ersten, der Februarrevolution. Zwischen hüben und drüben – konspirativer Nachrichtendienst. Neuer Zustrom wird in kleinen Gruppen nach Süden abgeschoben. Jede lokale Gruppe muß jederzeit schlagbereit sein. Verbindung mit hier ansässigen vaterlandstreuen Elementen ist herzustellen.«

 

Inzwischen wurden alle Männer von den Roten registriert, Haussuchungen fanden statt, alle Waffen mußten abgeliefert werden; die Gefängnisse füllten sich.

Auf dem flachen Lande brachen Aufstände aus; die roten Abteilungen, die Lebensmittel und Waffen requirierten, wurden überfallen und vernichtet; diese Abteilungen bestanden aus hungernden Jugendlichen, Gymnasiasten, Arbeitern, ihrer Heimstätten durch den Krieg beraubten Soldaten.

Als der Frühling mit Tauwetter und Schmutz einsetzte, dekretierten die Roten die allgemeine Mobilmachung in die rote Armee. Büroschreiber, Ärzte aus all den leer gewordenen Lazaretten, alle möglichen Kommissionen wurden dazu herangezogen. Im Hofe des ehemaligen Seminars drängten sich, ihrer Achselstücke beraubt, die eingezogenen Offiziere der alten Armee von neun Uhr morgens bis spät in die Nacht.

Die Ärzte suchten vorsichtig, die ihnen bekannten Offiziere zu befreien oder ihnen wenigstens einen Aufschub auszuwirken – auf sechs Monate – oder sie zur Nachprüfung ins Hospital zu bestellen; Krankheit, Kontusion, Wunden – kaum war jemand wirklich gesund.

Im Hofe, im Gedräng, flüsterten Erschrockene und Schreckende:

»Seht ihr denn nicht, in welcher Aufregung sie sich befinden?! Wenn wir alle nach Süden flüchten, halten sie sich keine zwei Monate mehr!«

»Wer in die rote Armee eintritt, geht seiner Orden, seines Titels und Rangs verlustig …«

Leutnant Belopolskij wanderte von Gruppe zu Gruppe, warf Bemerkungen ein, suchte Gesinnung und Zuverlässigkeit festzustellen.

»Verhöhnung der Offiziers- und Menschenwürde! … Niemand darf sich fügen, hört doch nur, was sie in Moskau anstellen!«

Aus Moskau über Tula war ein Fähnrich geflüchtet – auf dem Puffer eines Eisenbahnwagens – und am Abend vorher eingetroffen; er war zur Registration gekommen, um hier zu agitieren.

»Kaum kamen wir noch fort – in Moskau haben sie eine allgemeine Razzia nach Offizieren gemacht und die abgefangenen in die Manege gesperrt.«

»Da sehen wir es in Tätigkeit, das freie Volksregiment!«

Obdachlose Flüchtlinge trafen von überallher ein, ganze Familien wohnten in einem einzigen Zimmer, der Bürger saß auf einer Hungerration, und alles wartete auf ein Wunder, das Erlösung bringen sollte. Um nicht Hungers zu sterben, arbeiteten alle – Männer, Frauen, Kinder – in den zahllosen Kommissariaten, Kommissionen, Verteilungspunkten, saßen über Haufen von Papieren, und jeder dachte – sinn- und zwecklosen Papieren, die zu nichts führten, und nach höchstens zwei Monaten würde ja doch alles zu Ende sein – von Süden her nahten ja die Erlöser!

Die Flüchtlinge waren nur auf eins bedacht – sich still zu verhalten und zu warten; man dürfe auch der Mobilmachung Folge leisten und in die rote Armee eintreten, müsse sich aber stets bereit halten …

Verbitterte Menschen – aus den Adelsnestern, aus eigenen Steinhäusern an den Hauptstraßen, Besitzer von Geschäften, Fabriken, Werken, zogen als neuzeitliche Nomaden flüchtend von Haus zu Haus, von Dachboden zu Dachboden, von Kammer zu Kammer, auf Belopolskij bauend, von zahllosen Drei-Mann-Gruppen angetrieben – verkleidet, oder sie hatten sich den Bart stehen lassen, oder Schnurrbart und Brauen rasiert, trugen schäbige Soldatenmäntel, besaßen Soldatenpässe – die eigenen Ausweispapiere waren irgendwo in der Kleidung eingenäht. So flohen sie bei der ersten Gelegenheit weiter nach Süden, Ritter des Leidens.

Männer aus vornehmen Häusern mit liberalen Anschauungen, Anhänger von Demokratie, Kultur, Fortschritt, Evolution, suchten zu entkommen, um gegen die entfesselte Bestie, den Terror, die Tscheka zu kämpfen, im Namen eines einheitlichen, in seinem Territorium ungeschmälerten Rußland.

Wer nicht fort konnte, mußte wehen Herzens vor die Kommission am Sammelpunkt; zuweilen bot ein bekannter Arzt die rettende Hand.

»Was fehlt Ihnen? …«

»Sechs Monate zur Erholung.«

»Ihre Nummer?«

»985.«

»Der Nächste.«

In die Kommission am Sammelpunkt zur Arbeit und zur Registrierung durch diese Kommission begab sich Petrowskij im Auto, das ein goldlockiger Chauffeur mit großen blauen Augen, in Lederjoppe und Lederkappe, geschickt führte. Gewandte Hände drehten das Steuer, die Hupe fauchte, und der Wagen rollte in den Hof des Seminars. Die anstehenden Scharen der Mobilisierten traten auseinander, und ein Flüstern rann durch die Reihen.

»Der war Fähnrich im Reserveregiment – hängen müßte man solche Bürschchen!«

Der ehemalige Hauptmann von Petrowskijs Kompanie wandte sich ab, als dieser vorüberfuhr und flüsterte:

»Fährt überall mit seiner Konkubine herum – übrigens Drakins Nichte, des Ingenieurs!«

»Den Onkel haben sie als Geisel verschickt, und die Nichte fährt mit eben denselben Kommissaren im Auto spazieren!«

»Sie hat ihn wohl auch angegeben! Ein bildschönes Weib – und so ein gemeines Luder!«

Von den Ärzten und der Kommission wurde Petrowskij freundschaftlich begrüßt.

»Kommen Sie in die Kommission, Genosse?«

»Nein, heute vor die Kommission – ich bin ehemaliger Fähnrich. Sie brauchen mich aber nicht zu untersuchen, meine Herren, ich bin gesund und habe zum Kranksein keine Zeit.«

 

Kaljabin hatte sich in Drakins Arbeitszimmer einquartiert und gestattet, die Möbel – »Meinetwegen alle« – auszuräumen. Um ihn zu ärgern, hatte die kleine Fenja das auch wirklich getan und ihm bloß einen Küchentisch, einen Schemel und ein einfaches Holzbett mit einer Strohmatratze hineinstellen lassen. Afonka sah lächelnd zu.

»Wie eine Mönchszelle richten Sie mir das Zimmer ein.«

»Das sind Sie ja gewohnt – Sie waren ja Mönch.«

Ihre Mutter Antonina Kirillowna sprach warnend:

»Gib acht, Fenja, daß du die Sache nicht noch verschlimmerst …«

»Ach, Mama – Sie haben ja keinen Schimmer! …«

»Du hast recht, ich bin schon zu alt, um mich in diesen Dingen zurechtzufinden und Ratschläge zu geben, ich meine bloß so – ihr seid ja jetzt die Herren hier.«

Afonka begegnete der alten Dame mit Ehrerbietung, er erinnerte sich ihrer noch vom Kloster her als einer ruhigen, strengen, zuweilen etwas geschwätzigen Frau, die den Mönchen aber niemals irgendwelche Freiheiten gestattet hatte. Er strebte danach, von ihr einer menschlichen Behandlung gewürdigt zu werden, und suchte sogar ihr entgegenzukommen. Es war eine harte Zeit, die Bürger saßen ohne Tee, ohne Zucker da, auf ihre Hungerrationen angewiesen – da brachte er hin und wieder requirierten Zucker, Speck, Weizenmehl. Die kleine Fenja fragte zuweilen:

»Wo hast du das her, Mama? …«

Das listige Lächeln alter Leute, den alles besser wissenden Jungen ein Schnippchen geschlagen zu haben, spielte um die Lippen der alten Dame.

»Afanassij Timofejewitsch bringt mir zuweilen eine Kleinigkeit …«

»Die Tschekisten haben jemand vielleicht den letzten Bissen fortgenommen, und Sie machen sich das zunutze!«

»Ja, sollen wir denn hungern? … Du verdienst nichts, und Kirill haben sie nach Moskau geschafft …«

Fenja ließ empört ihr Mittagessen im Stich, irrte durch die Zimmer, vernahm voll Ekel schwere Schritte auf der Treppe, Kaljabin kehrte zurück – sie flüchtete in ihr Zimmer. Ihren Jungen hatte sie wieder bei der Mutter untergebracht, um ihn vor Überraschungen zu schützen und weil das Kind so quälende Fragen zu stellen begann:

»Wo ist mein Vati?«

Die kleine Fenja zog das Medaillon aus dem Busen und zeigte ihm das Bild seines Vaters.

Beim Einschlafen dachte sie immer an ihn, an ihren Boris – wo mochte er jetzt wohl sein in diesen harten Tagen? Vielleicht weilte er gar nicht mehr unter den Lebenden … Wenn sie dann Kaljabin im Nebenzimmer rumoren hörte, gedachte sie des Klosters und ihrer ersten Universitätsjahre in Petersburg. Und die ganze Zeit, all diese Jahre verfolgte sie immer und überall, hartnäckig und unablässig, ohne sie je aus den Augen zu lassen, jener rothaarige, lange, verunstaltete Mann, mit dem sie sich wahrhaftig ungefährdet bis ans Ende der Welt wagen könnte; doch war der Weg dahin schauerlich und blutüberströmt, ging über Leichen hinweg.

Zuweilen tauschte sie ein paar Worte mit Kaljabin. Dann gedachte er immer der Zeit, da er im Hospital lag und von ihr gepflegt wurde.

»Fjokla Timofejewna, da bin ich ja erst zum Menschen geworden – und das verdanke ich Ihnen allein; Sie haben mich aus dem Sumpf gezogen, sozusagen.«

Sie blickte auf seine Hände, und zusammenschauernd mußte sie daran denken, wieviel Menschen diese Hände hingeschlachtet hatten, ihr wurde unheimlich, sie wagte sich nicht zu rühren, hörte ihm stumm zu.

»Ist es denn nicht Schicksal – meinen Stern von Bethlehem nannte ich Sie, und nun trage ich selbst diesen Stern »nun trage ich selbst diesen Stern«: Anspielung auf den roten fünfzackigen Sowjetstern.!« Er lächelte, schob den lahmen Fuß zurecht. »Und allen leuchtet er jetzt, allen Ländern der Welt, dieser Stern von Bethlehem, und in meinem Herzen – da lebt er. Sie, Fjokla Timofejewna, leuchten mir und führen mich …«

An den Tagen, an denen die kleine Fenja sich mit Kaljabin unterhielt und, von Grauen erfaßt, wie hypnotisiert seinen Worten – immer denselben Worten – zuhörte, wurde Afonka heiterer, weicher, kehrte früher nach Hause zurück, und in der Tscheka wurde es stiller. Das Gefängnis atmete auf und wartete in Angst und Grauen auf den Tag, da Kaljabin aufs neue wüten würde.

Eines Tages schien es ihm, daß die kleine Fenja ihm freundlich zulächelte; er streckte die Arme nach ihr aus – Fenja prallte zurück, jäh pochte ihr Herz in heißem Haß, sie sprang auf. Er faßte ihre Hand, zog sie schwer atmend zu sich heran, sein Körper erzitterte vor Anspannung, stumm, mit eiserner Tatze zog er sie immer näher zu sich, langsam die andere Hand hebend, um sie zu umschlingen, in krampfgeschüttelter Gier den Ring zu schließen, aus dem es kein Entrinnen gab, nie mehr. Blitzschnell, noch bevor die Bärentatze sie ergriffen hatte, steckte Fenja die freie Hand in die Tasche und riß den Revolver heraus.

Ihre körperliche Nähe verschlug ihm den Atem, seine Augen, blutunterlaufen, hingen mit verzehrendem Verlangen an den ihren, und je heißer der Haß aus den Blicken des jungen Mädchens sprühte, um so ungestümer begehrte er sie; in heiserem Flüsterton stieß er hervor:

»Na, na, Fenja! …«

Vor seinen Augen blitzte die Waffe, und Fenja flüsterte haßerfüllt:

»Lieber erschieß ich mich!«

Ihre Worte, ihr Blick entfachten sein Blut noch stärker; stieren Auges beobachtete er sie, lauerte mit allen Sinnen in gespanntester Wachsamkeit auf ihre geringste Bewegung, den Blick in wilder, tierischer Verzückung auf ihr Gesicht gerichtet. Langsam bog er die Hand mit der Waffe zurück, führte sie ihr hinter den Rücken und umschlang jäh ihre Taille. Ihr war, als hätten seine knorrigen Finger ihre ganze Gestalt umklammert, sich in eisernem Griff geschlossen und als würde sie nun gleich zerdrückt, zerquetscht, zerfleischt werden – gleichzeitig aber fühlte er ein Zucken ihrer halb freigelassenen Hand; ein Stoß, und diese Hand fuhr hilflos empor, ein Schuß krachte, und die Waffe fiel zu Boden.

In diesem Augenblick, da Fenja sich ihm schutzlos ausgeliefert fühlte, schlug ihr Haß noch mächtiger empor, und zugleich durchströmte sie eine ungeahnte Kraft – ihr ganzer Körper wurde hart wie Stahl. Die Bärentatzen schlossen den Ring um sie – vor ihren Augen flimmerten rote Kreise, Haare kitzelten sie – er küßte sie, löste einen Arm, um sie emporzuheben, eine Bärenklaue schlang sich um ihren Hals … Da grub sie die Zähne hinein und preßte sie langsam zusammen, fühlte Blut auf ihren Lippen; er hielt es nicht aus, stöhnte schwer auf und ließ sie los. Das alles hatte nur eine Minute gewährt – eine dumpfe, lautlose, endlose Minute voll animalischer Spannung von Begierde und Haß in jeder Bewegung, in jedem der Blicke, die sich ineinander verbissen und sich nicht mehr auseinanderlösen konnten, in lauernder Wachsamkeit die leiseste Regung im Gesicht des Gegners verfolgend.

Afonka sagte nur – es war ein heiseres Ächzen –:

»Verdammte!«

Sie wandte den Blick von ihm ab und starrte auf den Revolver. Kaljabin verließ, an der Wunde saugend, schweren Schrittes das Zimmer.

Fenjas Mutter stürzte aufgeregt herein.

»Fenja, Kind, was geht hier vor, was ist geschehen?!«

»Nichts, Mama, ich lud meinen Revolver, und zufällig ging ein Schuß los.«

»Wozu brauchst du das Ding, es geschieht noch ein Unglück; gib es weg, hör' doch einmal, was deine Mutter sagt!«

»Lassen Sie, Mama, ich weiß, was ich tue.«

Antonina Kirillowna ging hinaus, und gleich darauf stürmte Afonka wie ein wildes Tier aus seinem Zimmer, schlug krachend die Tür zu, und sein schwerer Körper humpelte die Treppe hinab. Da erst verließen Fenja nach der großen Anspannung jäh die Kräfte; mit Mühe hob sie den Revolver auf, betrachtete ihn, ließ ihn in die Tasche gleiten und trat ans Fenster. Sie sah seine riesige, vornüberhängende Gestalt sich hinkend entfernen; vor Schwäche ließ sie die Arme müde hängen, ihre Füße schienen zentnerschwer, und schlaff und träge kreiste das Blut. Das kalte Fensterglas erfrischte ihre Stirn; irgendwo tief innen regte sich zum ersten Male die Empfindung, daß vielleicht weniger Blut fließen würde, wenn sie ihm nachgegeben hätte, ja, es überkam sie plötzlich, als sei sie mit schuld an seinen Grausamkeiten – kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn … Dann aber dachte sie wieder daran, was soeben geschehen war, zuckte schaudernd zusammen und trat vom Fenster zurück. Der Gedanke kam ihr, Schutz bei Petrowskij zu suchen. Da lebte sie wieder auf, zog sich rasch an, tastete gewohnheitsgemäß nach ihrem Revolver in der Tasche und ging in die Stadt.

In Petrowskijs Zimmer stritten sich die Genossen.

»Man muß gleichzeitig in der ganzen Stadt eine Razzia veranstalten!«

»Ihr habt ja gesehen, wie viele ihrer da waren zur Registrierung und alle im Schafsfell.«

Titoff schlug lachend vor:

»Eine Bartholomäusnacht – das wäre das richtige, um mit der ganzen Bande aufzuräumen!«

Petrowskij bemerkte die kleine Fenja, die schweigend an der Tür stehengeblieben war, nickte ihr zu und sagte:

»Warte, wir sind gleich zu Ende.«

Er wandte sich den Streitenden zu.

»Genossen, wenn wir keine militärischen Fachleute haben, können wir kein Heer aufstellen, und nicht alle Offiziere der alten Armee sind Feinde der Revolution, viele von ihnen können sich als nützlich und unersetzbar erweisen. Heute müssen wir ihre Dienste zur Ausbildung der roten Armee benutzen; später, wenn das Proletariat aus seinen Reihen Generalstäbler und Militärinstruktoren herangebildet hat, befreien wir uns allmählich von allem unnützen Ballast. Heute dürfen wir uns ihrer Dienste nicht berauben; wir werden sie zwingen, mit uns zu arbeiten, und ihnen streng auf die Finger sehen. Die politische Leitung und Überwachung muß systematisch eingeführt werden, neben dem militärischen Instruktor steht der politische Instruktor – er ist unser Auge und Ohr im Heer. Wer sich als unser Feind erweist, wird isoliert. Daß von Süden her Gefahr im Anzug ist, dürfen wir nicht außer acht lassen; im Gegenteil, wir müssen zu allem bereit sein. Ihr sprecht von einer gegenrevolutionären Offiziersorganisation, die aus dem Süden geleitet wird – auch ich zweifle nicht daran, daß dem so ist, und befürworte darum den Antrag, Verhöre und Haussuchungen vorzunehmen, ich beharre aber auf der Forderung, nur die verdächtigsten Leute zu isolieren, den anderen darf keine Gefahr drohen. Wenn wir eine Bartholomäusnacht veranstalten, so durchsägen wir den Zweig, auf dem wir sitzen, denn wir brauchen eine Armee; wer sich in dieser als Freund oder Feind erweist, werden wir bald merken und die schädlichen Elemente rechtzeitig entfernen.«

Die Sitzung war zu Ende; vor dem Aufbruch wurde noch von der Aufteilung der Stadt in Bezirke gesprochen; an Hand der Registrationslisten sollten gleichzeitig in allen Bezirken Haussuchungen vorgenommen werden.

Petrowskij kehrte ins Zimmer zurück und öffnete das Fenster; die frostkalte Luft wirkte erfrischend.

»Kommst du in Geschäften? Von deinem Onkel habe ich einen Brief erhalten, den Zettel darin an dich hatte ich noch nicht Zeit dir abzuliefern – er ist frei und bleibt in Moskau, um mit uns zu arbeiten.«

Die kleine Fenja fühlte, daß es lächerlich wäre, über ihre eigenen Angelegenheiten zu reden, wo hier doch jede Minute zählte und Nikodim mit großen, für ihn und seine Partei wichtigen Dingen beschäftigt war. Ihm mit dem Anliegen zu kommen, er möchte sie vor Kaljabins Liebe schützen – das schien ihr jetzt eine Zumutung, über die sie sich schämte.

Verlegen sagte sie obenhin:

»Nein, ich wollte mich bloß nach Onkel Kirja erkundigen.«

Petrowskij spürte ihre innere Unsicherheit und warf ihr einen scharfen, prüfenden Blick zu.

»Sprich, ist zu Hause etwas geschehen?«

Unerwartet kam ihr ein Gedanke, über den sie sogar lächeln mußte; sie sagte:

»Nikodim, ich will kein Tagedieb sein, ich möchte eine Stelle annehmen.«

»Nun, wo hapert es denn? Soll ich für dich bürgen?«

»Hast du einen Chauffeur?«

»Chauffeur willst du werden? Was sind das für Phantasien?!«

»Ich möchte immer in deiner Nähe sein, das ist sehr wichtig für mich.«

»Sprich offen, was ist los?«

»Ich möchte Kaljabin aus dem Wege gehen! …«

Zur ersten Mobilmachung der roten Armee brachte Fenja Petrowskij zum Sammelpunkt in den Ausschuß. Jeden Tag vom frühen Morgen an in der frischen Luft sein, ein Leben führen, gedankenlos, nur dem heutigen Tag geweiht, essen, wo es gerade kommt, in einem leeren Raum neben Petrowskijs und Karassiks Zimmern auf einem Sofa schlafen, immerfort das vertraut gewordene Wort »Genosse« hören, und Afonkas schweren Blick nicht mehr auf sich ruhen fühlen – das alles empfand Fenja als Glück und Freiheit. Zu Hause tauchte sie zu unvorhergesehenen Stunden auf. Von ihrer Mutter erfuhr sie, daß Kaljabin mehrere Tage nicht nach Hause gekommen war, auch nicht des Nachts, und jetzt zuweilen nach Mitternacht ins Haus hereintobe, die Türen krachend ins Schloß schmettere und, in seinem Zimmer eingeschlossen, lange vor sich hin murmele. Unversehens traf sie einmal mit ihm zusammen. Er blieb stehen, fragte dumpf:

»Versteckspiel?!«

»Ich will nicht sterben, Kaljabin; ich liebe das Leben, Sie aber stören mein Leben.«

»Sie fürchten sich?!«

»Ich habe nichts zu fürchten, aber ich will leben.«

»Zum Genossen Petrowskij sind Sie geflüchtet? …«

Sie antwortete nicht, ging stumm, mit eiligen Schritten, in die Dämmerung hinaus.

Afonka ballte die Fäuste, tobte und raste in der Tscheka, dachte während der Verhöre an die kleine Fenja – die hatte ja auch Bourgeoisblut in den Adern! – wagte es aber nicht, sie anzurühren, und hoffte doch, sie noch zu gewinnen. Selbst der Gedanke kam ihm, sie zu verhaften, durch Hunger zu schwächen, durch Drohungen einzuschüchtern, vor allem zuerst ihren zähen Willen zu brechen – und sie dann mit Gewalt zu nehmen.

Er dachte immer an sie, und je deutlicher er ihren abweisenden Blick vor sich sah, um so wütender tobte er während der Verhöre, und ein jeder dieser Wutausbrüche kostete Menschenleben, schuldige und unschuldige; wer ihm gerade in die Hände fiel, um den war es geschehen.

In der Razzianacht flüsterten ihm seine Kameraden zu:

»Im Nonnenkloster müßte man mal nachschauen, bei den Nonnen verbergen sich welche …«

Der Gedanke gefiel ihm, er ballte vergnügt die Fäuste und schüttelte sich.

Es war nach Mitternacht, als die Pförtnerin, das Kreuz schlagend und den Namen des Herrn vor sich hermurmelnd, das Tor einem Lastauto mit Rotgardisten öffnete.

Afonka sprang herunter, befahl die Zellen zu umzingeln und ließ den Nonnen durch die Pförtnerin sagen, daß jeder, der während der Haussuchung im Hofe erscheinen oder einen Fluchtversuch wagen sollte, an Ort und Stelle erschossen werden würde.

 

Seit den ersten Tagen des Umsturzes war es still geworden im Kloster; ängstlich hielt alles den Atem an.

Während des Krieges hatten die Nonnen Wäsche für die Intendantur genäht und ihren Gönnern und Gönnerinnen wie immer Besuche abgestattet.

Mutter Jewdokia, rosig und pausbäckig, früher Dunja genannt, hatte nach Arischas Abzug deren Freundin Warenka als Dienstschwester zu sich genommen. Warenka war sich ihrer Vorzüge bewußt und hielt Mutter Jewdokia fest in der Hand und ihre sinnlichen Gelüste in den Grenzen der Mäßigkeit, und für jede »Labung« mußte Dunja die kleine Warenka mit in die Stadt nehmen, ihr Geschenke machen, Süßigkeiten kaufen – Fruchtmarmelade und Pfefferkuchen vom Krämer Kalaschnikow.

So machten sie denn zusammen Besuche, und Mutter Jewdokia sprach in salbungsvollem und zugleich weinerlichem Tone:

»Ich komme mit Schwester Warenka, um mich nach dem Befinden unserer Gönner zu erkundigen.«

In den Häusern, die sie besuchte, nannte man sie die Kaufmannsfrau und spöttelte, wenn sie wieder fort war:

»Die hat ein Vermögen auf der Bank liegen, klagt aber immer …«

Unter ihren verschwimmenden, blauumränderten Augen hingen Säckchen, sie hatte ein Doppelkinn, und die üppigen Brüste drängten aus ihrer Umschnürung, aber sie jammerte immer:

»Bin ganz herunter – mein Rheuma setzt mir so zu, ich kann gar nicht schlafen.«

Und endlos wiederholte sie:

»Gott steh uns bei!«

Sie aß alles, was ihr die Hausfrau vorsetzte, ob es nun Fastenzeit war oder nicht, legte sich ausgiebig Fruchtkonfitüre auf den Teller und trank, sich die Arme oft in dem faltigen Überwurf verwickelnd, stark gezuckerten Tee von der Unterschale; sie schwitzte, ächzte, fächelte sich Luft zu, trank aber ihre sechs Tassen glatt hinunter. Der kleinen Warja häufte sie Konfitüre auf den Teller, wußte sie doch nur zu gut, daß Warenka sonst tagelang maulen und sich des Nachts in ihr Kämmerlein einschließen würde.

In jedem Frühjahr erging sich Warenka mit Seminaristen auf dem Klosterfriedhof. Mutter Jewdokia nahm gottergeben diese Fastenzeit auf sich und schwieg, bis die Seminaristen endlich in die Sommerferien gingen und Warenka trauerte. Im Frühherbst wiederholte sich dasselbe Spiel, wenn es aber dann täglich zu regnen begann und das ausgedörrte Gras auf dem Friedhof, wie ein Bastbesen durchnäßt, sich auf die Seite legte, erinnerte Mutter Jewdokia Warenka an einige dunkle Flecke in ihrer Vergangenheit, kaufte ihr Süßigkeiten und »labte« sich an der jungen Novize.

Während dieses erzwungenen Fastens im Frühjahr gedachte Dunja ihrer Vergangenheit, holte aus der erinnerungsreichen Truhe das Kistchen mit Ringen und anderen Geschmeiden und freute sich über den Strahlenglanz von Frau Klimowas Eigentum; davon erfuhr selbst Warenka nichts. Des Nachts erschien der Dunja die selige Marja Karpowna Klimowa zuweilen im Traum; dann sprang sie entsetzt aus dem Bett, lief in ihrer Zelle erregt hin und her, öffnete das Fenster und sank auf die Knie, um bis zur Frühmesse zu beten.

Während des Krieges kletterten Fähnriche und Rekonvaleszenten aus dem Lazarett nebenan im ehemaligen Seminar über den Zaun und schlichen sich in die Zellen der jungen Nonnen und Novizen, und der Sohn des Oberpriesters am Nonnenkloster, zuerst Student, dann Fähnrich, entführte sogar eine Novize, die Dienstschwester der Äbtissin, ein bildschönes Mädchen aus dem Adelsinstitut; die Nonnen sahen sie nachher in der Tracht einer Krankenschwester und beneideten sie.

Die Äbtissin war nun so alt geworden, daß sie sich um die Zustände im Kloster nicht mehr kümmerte; die Nonnen genossen ihre Freiheit, soweit ihr Gewissen das zuließ. Als der Äbtissin mitgeteilt wurde, daß es keinen Zaren mehr gäbe, stöhnte sie und stand nicht mehr von ihrem Lager auf.

Soldaten aus den Reserveregimentern – die Militärbaracken befanden sich ja gleich hinter dem Kloster – kletterten in den Klostergarten, stahlen Obst und Gemüse, wobei Zweige abgebrochen, Blumenbeete mit Astern und Georginen zerstampft wurden. Die Nonnen schoben die Riegel vor die Tür ihrer Zellen und verbrachten bange Nächte.

»Herr, wir flehen zu dir um Schutz und Gnade!«

Bauern kamen in Wagen aus den Dörfern, um ihre Schwestern und Nichten aus dem Kloster heimzuholen.

»Was sollt ihr noch hier – es kann euch an den Kragen gehen, dann ist's zu spät.«

Sie holten sich die Nonnen als Arbeitskraft.

»Wir haben jetzt Land genug, kommen schon durch! Früher hieß es freilich, das Mädchen stecken wir ins Kloster, um den hungrigen Mund loszuwerden – die Zeiten sind vorüber!«

Die Nonnen städtischer Herkunft beneideten ihre glücklicheren Gefährtinnen, redeten ihnen ab:

»Warum willst du fort von uns? Hier ist es still und ruhig, wer sollte uns Nonnen was anhaben, wem könnten wir Unglücklichen im Wege sein?! …«

Im Oktober, als in den Seminargebäuden statt des Lazaretts der Stab der Roten Armee saß, und die Posten des Nachts zum Vergnügen ihre Gewehre knallen ließen, und so manche zufällige Kugel gegen die Klostermauern klatschte, wagten sich die Nonnen nicht mehr aus ihren Zellen heraus, und solche, die noch ein Zuhause hatten, bisher aber noch nicht fortgefahren waren, flüchteten eilig, ihr Hab und Gut im Stich lassend.

Nach der Registrierung der Offiziere der alten Armee überredete der Sohn des Oberpriesters zusammen mit seinem Vater die Nonnen, einige der Offiziere, denen Gefahr drohte, im Kloster zu verbergen. Da wurde es wieder lustiger in den Zellen, und die abgemagerten Nonnen mit Hängekinnen und gelblich gewordenen Wangen fanden Trost bei ihren Schützlingen und flüsterten einander geheimnisvoll zu:

»Die Verteidiger von Thron und Vaterland vor Unheil zu schützen, ist ein gottgefälliges Werk – der Herr selbst weist uns die Pfade klösterlicher Barmherzigkeit.«

Warenka willigte ein, ihr Kämmerlein abzutreten, und schlief auf dem Fußboden neben Dunjas Bett; beide sahen ihren Vaterlandsverteidiger mit schmachtenden Blicken an.

Und als das Lastauto der Tscheka im Klosterhof ratterte und die Rotgardisten zur Einschüchterung einige Schüsse abgaben, ging ein Stöhnen durch die Zellen, und Nonnen, die Schützlinge zu verbergen hatten, wußten nicht, wohin mit ihnen – unters Bett, unters Daunenpfühl, in die Speisekammer? Über Kaljabin waren aus der Stadt allerlei Gerüchte ins Kloster gedrungen; Dunja erinnerte sich seiner, hatte auch Erkundigungen eingezogen und tuschelte nun ihren Gefährtinnen zu:

»Ach, Liebste, wenn es derselbe Mann ist, der bei dem seligen Kaufmann Klimow lebte, so ist es ein richtiger Unhold, ein Ungetüm …«

»Er soll rothaarig sein und eine verunstaltete Nase haben …«

»Dann ist er's – jener hatte auch ein gebrochenes Nasenbein und rote Haare!«

Von Zelle zu Zelle ging die Jagd; zwei Offiziere wurden entdeckt, einer von ihnen suchte zu fliehen, pfeifend eilten die Kugeln ihm nach, er brach zusammen. Die Tschekisten näherten sich Dunjas Zelle. Mutter Jewdokia schaute hin – da kam er, stand vor ihr – Kaljabin!

Er erkannte sie nicht gleich.

»Ist hier jemand verborgen?«

In halb singendem Tonfall jammerte Dunja:

»Wo denkst du hin, Genosse – in der Zelle einer Nonne?! …«

»Na, zwei haben wir ja bereits gefunden … Ich sehe selbst nach, zeige mir deine Vorratskammern und Wandschränke.«

Kaum in ihre Zelle getreten, erblickte er das hochaufgeschlagene Daunenpfühl, warf es zurück und befahl, den darunter liegenden Offizier festzunehmen. Er wandte sich um, Dunja stürzte ihm zu Füßen.

»Afonja … Habe Mitleid mit mir – verschone mich!«

»Wieso kennst du mich?«

»Wir waren ja beide bei Marja Karpowna Klimowa angestellt, Afonja, Liebster!«

»Dunja?«

»Ja, Afonja! Erbarme dich meiner, Liebster.«

»Hast du mit der Klimowa Erbarmen gehabt?«

Sie kroch ihm auf den Knien nach, klammerte sich an seine Schaftstiefel.

»Und jetzt verbirgst du Offiziere bei dir? Ein Luder warst du und ein Luder bist du geblieben!«

Mit einem Fußtritt stieß er sie von sich und befahl, sie zusammen mit Warenka zu verhaften.

Am nächsten Morgen rief die Begräbnisglocke des Klosters klagend zur Totenmesse für die Nonnen und Novizen, die für ihre Liebe zum Vaterland als Märtyrerinnen unschuldig dahingeschlachtet worden waren.

Auf dem Rückwege brummte Afonka vor sich hin:

»Die schwarzen Krähen! Diese Spelunke hebe ich aus!«

Die Verordnung wurde erlassen, das Kloster als Herd der Gegenrevolution aufzulösen. Den alten Nonnen, die niemand in der Welt hatten, wurde erlaubt, ihre Tage im Kloster zu beschließen; die jungen fanden Unterkunft bei Gönnerinnen.

In den nächsten Tagen verhörte Kaljabin die bei der Razzia in der ganzen Stadt verhafteten verdächtigen Offiziere. Manja Lossewa mußte die Aussagen zu Papier bringen, er entließ sie bis in die Morgenstunden nicht – sie tranken zusammen; betrunken, weinte das junge Ding über ihr verlorenes Leben.

Als die letzten fünf Mann verhört wurden, erwähnte einer Lossews Namen.

Afonka sprang auf, warf dem Mädchen einen vernichtenden Blick zu und trat an den Verhafteten heran.

»Welcher Lossew?«

»Der Rechtsanwalt an der Bürgerstraße, Iwan Matwejewitsch.«

Die kleine Manja erblaßte, dann bedeckte sich ihr Gesicht mit roten Flecken.

Afonka unterbrach das Verhör, ließ die Verhafteten abführen, verschloß die Tür und ging mit hinkenden Schritten – vor Aufregung schleppte das verwundete Bein schlürfend nach – auf Manja zu, beugte sich nieder und schrie, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug:

»Zusammen mit deinem sauberen Vater hast du sie verbergen helfen?!«

Grell erstanden in seinem Gedächtnis: Klimows Wirtshaus, Lossew, ihr Versuch, Drakins Fabrik in Brand zu stecken, die kleine Fenja – und wieder verkrampfte Wut seine Arme.

»Nun, sprich.«

Sie schwieg, und dicke Tränen rannen über ihr Gesicht. Sie haßte ihren Vater, ihre Mutter, ihr verlorenes Leben. Sie hatte Haß und Mißachtung ihrer Schulfreundinnen ertragen müssen, die sie zu Hause willkürlich bezichtigte und verleumdete, um von ihrem Vater gelobt zu werden, ihretwegen waren Töchter armer Eltern aus dem Lyzeum ausgeschlossen worden. Ein einziger lichter Augenblick war ihrem Leben beschert gewesen, die kurze Zeit, da sie an Tschapygins Liebe glaubte, hungrig nach dem Leben haschte, aus Liebe alles tat, was er von ihr verlangte; ihm zu Gefallen hatte sie trinken und tanzen und sich beim Tanz entblößen gelernt, im Glauben, daß sie Freude bereite; dann war sie mit Afonka dahingetaumelt, dem Abgrunde zu, aus Angst, ohne Dach über ihrem Haupte, ohne Unterschlupf zu bleiben, auf die Straße hinaus zu müssen, und hatte begonnen Goldsachen zu sammeln als Sicherung vor dem Untergang.

»Nun, sprich! Also gemeinsam habt ihr den Offizieren geholfen? Und du bist hier eingedrungen, um zu spionieren?«

Stockend, Wort für Wort, und bei jedem Wort zusammenschauernd, so als geißelten sie nicht Kaljabins Blicke, sondern ihre eigenen Worte, berichtete Manja die Wahrheit.

»Sprich, wer ist ihr Hauptmacher?«

»Belopolskij.«

»Ist er auch jetzt noch unter dem Schutz deines Vaters?«

»Ich weiß nicht.«

Er schloß sie in seinem Zimmer ein, befahl, sie zu bewachen, und stöberte auf frischen Spuren die ganze Nacht in der Stadt umher, auf der Suche nach Belopolskij und seinen Helfern. Er holte sich Lossew in die Tscheka, der, zusammengekrümmt, mit zwinkernden Augen Kaljabin ansah, als duckte er sich vor Schlägen. In Kaljabins Arbeitszimmer erblickte er Manja und richtete sich plötzlich hoch auf – er wußte nun, daß sein Schicksal entschieden war – und sah voll Haß auf seine Tochter.

»Du hast mich verraten?«

Das Mädchen fuhr auf; vor dem Tode wichen Scheu und Angst.

»Du hast mich zugrunde gerichtet, seit meiner Kindheit gezwungen, meine Freundinnen zu belauern, so daß mich schließlich alle wie eine Pestkranke mieden, hast mich zu deinem Werkzeug gemacht durch Drohungen, mich aus dem Hause zu jagen, durch Hunger, durch Geschenke. Mein Leben hast du mir geraubt! Du, du, du!«

»Schlange, Reptil, unnatürliche Tochter!«

Schweigend, die Brauen gefurcht, beobachtete Afonka Vater und Tochter; seine eingeschlagene Nase zuckte, seine Gesichtszüge verzerrten sich, seine Hände wühlten in den Haaren. Er trat hart an Lossew heran.

»Nun, sprich, ich begnadige dich.«

Der alte Mann sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an und sagte voll Würde:

»Die wahren Diener des Vaterlandes und des Thrones verstehen es, stumm zu sterben.«

Kaljabin stieß ein Röcheln aus, seine Finger umklammerten Lossews Gurgel.

Lossew zwinkerte mit den blutunterlaufenen Augen und brachte pfeifend hervor:

»Willst du mich erwürgen, wie damals die Kaufmannsfrau?«

»Sprich!«

Lossew begann wieder mit seinen Mätzchen, während er sich unter dem eisernen Griff von Afonkas Hand hin und her wand.

»Ich weiß von nichts, Afanaßij Timofejewitsch, von nichts … Tja … Fragen Sie doch Ihre Herzensfreundin …«

Afonka ekelte plötzlich vor der Berührung Lossews, er schleuderte ihn von sich; der alte Mann stürzte zu Boden, rollte ein paar Schritte weit und schlug mit der Stirn gegen den Türrahmen. Kaljabin riß die Tür auf und schrie hinaus:

»An die Wand, alle! Die ganze Bande niedergemacht! Bis auf den letzten Mann.«

Mit schweren Schritten kehrte er nach einiger Zeit in sein Arbeitszimmer zurück, blickte das Mädchen verstört mit irren Augen an, fragte:

»Und was mach' ich mit dir?!«

Er versuchte nachzudenken, setzte sich auf den Diwan, starrte auf den Fußboden. Die kleine Manja stand reglos am Tisch und blickte, ohne die Lider zu senken, auf die Tür. Wieder sagte er:

»Nun, sprich!«

Schließlich erhob er sich, schloß auf und sagte, an der Tür stehend:

»Mach, daß du fortkommst von hier!«

Mit eingezogenen Schultern und schlaff herabhängenden Armen schritt Manja durch das Empfangszimmer und ging, immer noch mit gesenktem Kopf und ohne sich umzusehen, an dem sitzenden Wachtposten vorbei auf die Straße.

Sie irrte ziel- und gedankenlos durch die Stadt, kam aufs Feld hinaus, an den Fluß, ging das Ufer entlang. Es war eine helle Mondnacht, die Stadt schlummerte in einem blaugrauen Spinngewebe. Der Eisenbahndamm lag quer über den Weg, sie stieg hinauf; ganz nah, an der Brücke, blinkte das grüne Auge des Bahnsignals; sie schritt darauf zu. Der Posten auf der Brücke rief sie an, sie hörte es nicht.

Sie beugte sich über das Brückengeländer und starrte in die Tiefe, lange, reglos, bis ihr schwindelig wurde … und so leicht … Es zog sie hinab … Dahinfliegen und das Leben nicht mehr fühlen! Der Posten rief sie noch einmal an – das Flintenschloß schnalzte, ein Schuß krachte. Ein dunkler Schatten sank auf das Geländer, glitt hinüber und schoß, ein schwarzer Vogel, in die Tiefe hinab. Klatschend spritzte das Wasser auf …

Belopolskij wurde nicht gefunden. Auch der Oberst war zusammen mit seiner Frau aus der Stadt verschwunden. Wenig später setzten im benachbarten Waldgebiet Eisenbahnkatastrophen ein; Militärzüge, die rote Truppen nach Süden brachten, entgleisten in den Kurven und stürzten den hohen Bahndamm hinab in Walddickicht und Sumpf.

In der Stadt wurde es still; Afonka war abgespannt. Die Listen der mobilisierten Offiziere wurden veröffentlicht, rote Regiments- und Divisionsstäbe gebildet.

Noch lange wurde über die Auflösung des Nonnenklosters gesprochen, und dann entstand das aufregende Gerücht über die Ernennung eines Ausschusses, der den Sarkophag mit den Reliquien im Waldkloster öffnen sollte.

 


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