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6

Durch alle Straßen Petersburgs zogen in Paaren Studentinnen und Studenten und boten Ähren zum Verkauf an; den ganzen Tag über herrschte ein festliches Getriebe in der Stadt. Die jungen Leute stiegen in die Straßenbahn und riefen: »Helft den Hungernden – hier eine Ähre!« Jeder Mensch auf der Straße hatte an der Brust ein Sträußchen mit einer Kornblume, viele zwei oder drei, wenn aber ein neues Paar herantrat, tönte doch wieder das Klingen von Kupfer- und Silbermünzen in den Büchsen, die immer schwerer wurden.

An jeder Sammelstelle herrschte fieberhafte Tätigkeit wie in einem Bienenstock; Schilder wurden mit neuen Ähren besteckt, Büchsen geleert und ihr Inhalt gezählt. Gleich emsigen Bienen flatterten lebhafte Paare herein, geschäftig und freudig angeregt, nahmen ein neues Schild, eine neue Sammelbüchse an sich und eilten wieder davon.

Fenja trat gemessen auf die Vorübergehenden zu, steckte dem Stehenbleibenden ruhig ein Sträußchen an die Brust und blickte ihn durchdringend an, bevor er seine Spende hervorholte. Unter diesem Blick entschloß man sich nicht leicht, bloß ein Fünf- oder Zehnkopekenstück in die Büchse zu stecken – es wurden Fünfziger oder gar Rubel. Doch das tat Fenja nur wohlhabend erscheinenden Leuten gegenüber; bei ärmlich gekleideten fügte sie hinzu:

»Spenden Sie, soviel Sie können; jede Kopeke zählt.«

 

Nach dem Mittagessen fuhren die drei mit der Straßenbahn, neue Büchsen und Schilder in den Händen, nach der militärärztlichen Akademie und wanderten über die Litejny-Brücke den Prospekt hinab.

Aus dem Arsenal kam eine Schar Arbeiter. Petrowskij trat mit der Sammelbüchse auf sie zu.

»Genossen, eine Spende für die hungernden Bauern!«

Ein breitschultriger, finster blickender Meister in einer ölbefleckten Kappe, der an Petrowskijs demokratischem Äußern wohl den Sozialisten erkannt hatte, entgegnete:

»Sie, Genosse, sollten sich schämen, da mitzutun.«

»Wieso?«

»Das unterstützt die Regierung, ist also gegen unsere Interessen.«

Petrowskij trat schweigend zurück. Das war das, worüber er zu Fenja gesprochen hatte, das, was alle ergreifen sollte, und natürlich vor allem die Arbeiter!

Ein hagerer Drechsler mit schwindsüchtigem Gesicht funkelte ihn mit entzündeten Augen böse an und schrie:

»Lieber versaufe ich den Fünfer, als ihn herzugeben …«

Sina stieg das Blut in die Wangen; fast flüsternd – vor Erregung versagte ihr die Stimme – sagte sie:

»Sie tun unrecht, Sie müssen etwas spenden, Sie müssen! …«

Petrowskij zerrte sie derb am Ärmel, sie blickte ihn verwundert an und verstummte.

»Fahren wir weiter!«

Er wies mit dem Kopf den Prospekt hinab.

Sie bestiegen die Straßenbahn. Als sie nach einigen Haltestellen wieder aussteigen wollten, blitzte Sina Petrowskij mit ihren schwarzen Augen an und rief:

»Wir waren noch auf keinem Bahnhof. Fahren wir auf den Nikolai-Bahnhof – da bringen wir gewiß viel zusammen …«

Sie wanderten die Wartesäle ab, die Bahnsteige, die Züge, schritten von Wagen zu Wagen durch die wimmelnde Menge.

Sina war über das Gedränge hier entzückt; mit großer Kunstfertigkeit verstand sie es, gewandt an die hastenden Menschen heranzutreten und ihnen Spenden zu entlocken.

»Verzeihung, Sie reisen wohl nach Hause?«

Der Fahrgast sah das junge Mädchen verwundert an und warf, in Gedanken mit seinem Gepäck, dem Träger, dem Wettlauf um einen bequemen Platz beschäftigt, hastig hin:

»Ja, ja, nach Hause …«

»Also brauchen Sie kein Geld mehr; legen Sie sich ein paar Groschen für Träger und Droschke zurück, den Rest tun Sie hier in die Büchse.«

Um sie los zu werden, zog der Fahrgast seinen Geldbeutel heraus, schüttete das Kleingeld in die Büchse und machte sich eilig daran, seine Koffer in dem Netz zu verstauen.

Ein Träger stieß mit dem über seine Schulter hängenden Gepäck an Sina.

»Sie sollten lieber auf dem Bahnsteig sammeln … Hier stehen Sie nur allen im Wege …«

»Warum haben Sie denn noch kein Sträußchen?«

»Keine Zeit … Und die Koffer reißen sie einem immerfort ab … Da stecken Sie mir wieder eins an – ich sage Ihnen doch …«

Der Träger räusperte sich, suchte nach Geld in seiner Tasche, stellte das Gepäck auf den Boden, während irgendwo aus dem Wagen der gereizte Ruf erklang:

»Träger hundertfünfundvierzig, hundertfünfundvierzig! Wo bleiben Sie denn mit meinen Sachen? Träger!«

Die Fahrgäste, die bereits glücklich einen Platz erobert hatten, lachten belustigt.

»Strammes Mädel! Die läßt sich nicht unterkriegen! …«

Jemand fügte hinzu:

»Und hübsch dazu! …«

Petrowskij, der mit der Büchse hinter ihr stand, lächelte und dachte auch, die ließe sich nicht unterkriegen; ihr kamen immer Einfälle, zuweilen wohl ganz unsinnige, aber immer so eigenartige, daß man sich wunderte; es war wie ein Brennen in ihr, das sich einem mitteilte, wenn man an ihrer Seite weilte …

 

Fenja war mit den beiden durch mehrere Eisenbahnwagen gegangen, fühlte sich aber dann ermüdet.

»Ich mache nicht mehr mit. Ich will im Speisesaal auf euch warten, macht aber schnell!«

Sina und Petrowskij stiegen in einen anderen Zug.

Während sie sich in dem Gedränge bemühten, möglichst viel zu verkaufen – die Büchse war fast schon voll, Petrowskij steckte das einlaufende Kleingeld in die Tasche – setzte sich der Zug weich gleitend in Bewegung.

»Sina, kommen Sie schnell!«

Der Schaffner des Schlafwagens vertrat ihnen an der Tür den Weg.

»Sie können jetzt nicht mehr aussteigen, Fräulein. Ich lasse das nicht zu …«

»Aber wir müssen doch raus!«

Petrowskij fragte ruhig:

»Wo halten Sie?«

»In Ljuban halten wir nicht, erst in Bologoje, Punkt zwölf.«

Sinas schwarze Augen unter den struppigen Wimpern blitzten auf.

»Herrlich! Seit dem Herbst bin ich nicht mehr in einem Schnellzug gefahren!«

Der Schaffner schloß sein kleines Abteil auf, forderte sie auf einzutreten und ging in den Wagen, um die Fahrkarten zu prüfen. Nach einer Weile kehrte er zurück, holte unter der Bank einen Kessel mit heißem Wasser hervor, bereitete sich Tee und begann zu essen – es roch appetitlich nach Teewurst und Roggenbrot.

Sina sah ihm mit hungrigen Augen zu und platzte schließlich heraus:

»Ich glaube, Ihre Wurst muß sehr gut schmecken – wo kaufen Sie die?«

Der Schaffner sah sie verdutzt an, lächelte, schnitt eine Brotscheibe ab, legte zwei Stück Wurst darauf und reichte sie ihr.

»Den ganzen Tag auf den Beinen – da sind Sie wohl hungrig geworden, Fräulein? … Wurst kauf ich, wie's gerade kommt, mal hier, mal da – diese ist von der Ligowka, aus einer Delikatesswarenhandlung …«

Sina brach die Schnitte in zwei Teile und reichte eine Hälfte Petrowskij.

»Versuchen Sie mal, ich habe noch niemals so köstliche Wurst gegessen.«

Als der Schaffner sein Glas geleert hatte, spülte er es aus, goß das Spülwasser in den Spucknapf und reichte das Glas Sina.

»Wenn es Ihnen nicht unangenehm ist, aus meinem Glase zu trinken … Schenken Sie sich selbst ein …«

Kurz vor Bologoje gingen sie auf die Plattform hinaus. Petrowskij starrte in Gedanken versunken vor sich hin, sagte zu Sina:

»Mit solchem Genuß habe ich nur noch in der Verbannung Tee getrunken, wenn ich von der Arbeit müde nach Hause kam.«

»Gott, warum haben Sie mir das nicht früher gesagt?«

»Was, daß ich gern Tee trinke?«

»Ich habe bisher noch nie einen Verbannten gesehen.«

Sinas Gedanken gingen immer ihren eigenen Weg, durch Fragen ließ sie sich nicht beirrren, sondern sprach weiter von dem, was sie im Augenblick bewegte. Sie war bisher noch nicht mit politisch tätigen Studenten in Berührung gekommen, und die Begegnung mit Petrowskij erregte ihre lebhafte Aufmerksamkeit.

Als sie in Bologoje den Zug verließen, bemerkte Sina den wachthabenden Stationsgendarmen, dachte daran, daß dieser von Amts wegen Petrowskijs geschworener Feind sei und funkelte mit den Augen.

»Gleich, Nikodim, ich will ihm nur ein Sträußchen anstecken …«

Bevor Petrowskij Zeit gehabt hätte, etwas zu entgegnen oder sie zurückzuhalten, sprach sie den Gendarmen bereits an:

»Hören Sie mal!«

Der Gendarm grüßte militärisch.

»Mein Kollege und ich haben uns gedacht, daß Sie heute bestimmt hier auf dem Bahnsteig sein würden, und darum beschlossen, herzukommen und Ihnen ein Ährensträußchen an die Brust zu stecken, wie wir sie zugunsten der Hungernden verkaufen, doch von Ihnen nehmen wir kein Geld …«

Vor Überraschung verschränkte der Gendarm die Arme über der Brust in der Annahme, das junge Mädchen, das ihm das Sträußchen ansteckte, beabsichtige ein Attentat auf sein Leben, wurde krebsrot und riß den Mund auf, um zu sprechen oder zu schreien, als Petrowskij herantrat und erklärend sagte:

»In ganz Petersburg ist nämlich heute eine Sammlung zugunsten der hungernden Bauern im Wolgagebiet veranstaltet worden, und wir sammelten gerade Spenden in den Eisenbahnwagen, als der Zug abging; erst hier, auf der ersten Haltestelle, konnten wir aussteigen. Wir müssen nun für die Nacht eine Unterkunft suchen wo gibt es hier ein Hotel oder sonst etwas Ähnliches?«

Der Gendarm, der schließlich begriffen hatte, wies ihnen den Weg.

Dann musterte er Petrowskij und Sina noch einmal mißtrauisch und rief den sich Entfernenden unwirsch nach:

»Diese Studenten … zum Narren halten sie einen! …«

 

Lange pochten sie vergeblich gegen die Tür des Gasthauses, bis endlich ein verschlafenes Weibsbild erschien, das mürrisch öffnete und nach oben ins Treppenhaus, offenbar zum Wirt hinauf, schrie:

»Hier sind zweie, wollen ein Zimmer haben … Soll ich sie einlassen oder nicht?«

Von oben schnarrte ein heiserer Baß:

»Landstreicher werden nicht hereingelassen, sie stehlen nur wieder Teller!«

Sina wandte sich beschwörend an das verschlafene Weib:

»Wir kommen bestimmt nicht Ihrer Teller wegen und werden ganz gewiß nichts stehlen.«

»Was sind Sie denn für Leute?«

»Studenten aus Petersburg.«

»Warum treiben Sie sich denn bei nachtschlafender Zeit herum? …«

Sie führte die beiden in ein Zimmer, in dem es durchdringend nach etwas Säuerlich-Bitterem, Stickig-Trockenem roch und in dem ein zweischläfriges Bett und ein schadhafter Diwan standen. Aus dem Diwan stak eine verrostete Feder heraus, an der Fetzen zottiger Watte oder etwas Ähnliches hingen, so daß es aussah, als gucke ein Teufelskopf aus dem roten Plüsch hervor.

Ein Streichholz flammte auf, das Weib zündete ein stearinbeträufeltes Kerzenstümpfchen an, das an eine Tonscherbe angeklebt war, und fragte:

»Brauchen Sie was?«

Petrowskij bat um Trinkwasser und eine Kerze.

Kaum hatte das Frauenzimmer das Gewünschte gebracht und sich wieder entfernt, als Sina auf Petrowskij zulief – ihre Locken hatten sich gelöst, ein Haarringel hing ihr hartnäckig in die Stirn, ihre struppigen Augen leuchteten.

»Ich hatte gedacht, Sie seien bloß ein gewöhnlicher Student wie die anderen, aber Sie sind ja ein Verbannter! Ich muß mir Ihr Gesicht ordentlich ansehen … Wissen Sie, ich will nicht schlafen und werde Sie auch nicht schlafen lassen; Sie müssen mir alles über sich erzählen. Alles, alles, alles …«

Petrowskij blickte Sina verwundert an und fragte sich, ob das junge Mädchen ganz normal sei.

»Mein Familienname ist Belopolskaja, unser Stammgut heißt Belopolje. Die Bauern bei uns bauen Buchweizen, so daß die Felder auch im Sommer weiß sind. Wissen Sie, wie sie säen? Das ganze Dorf tut sich zusammen, und es wird ein langer Strich besät, immer am Wege entlang, im nächsten Jahr aber die andere Seite, darum ist eine Seite des Weges immer weiß, und die dichten Bienenschwärme machen so ein Gesumm, daß es klingt wie Schneegestöber. Und wieviel Honig es bei uns gibt! Besuchen Sie mich, ich muß Ihnen Buchweizenhonig vorsetzen – um des Honigs willen führen unsere Bauern den Spitznamen ›Honiggrützler‹, weil sie immer Honig mit Grütze essen. Sie werden das alles selbst sehen, wenn Sie uns besuchen! …«

»Wie sollte ich dazu kommen Sie zu besuchen? …«

»Alle meine Bekannten müssen mich unbedingt besuchen, sonst gebe ich die Bekanntschaft auf. Und solch einen Bekannten wie Sie habe ich noch nicht gehabt. Sie müssen kommen und mich besuchen, Sie müssen, ich will es so!«

Petrowskij runzelte die Stirn und entgegnete ärgerlich:

»Sie sprechen so, als legten Sie sich aus Ihren Bekannten eine Raritätensammlung an … Es drängt mich nicht, diese Sammlung zu vergrößern. Und weshalb sollte ich mir Ihre Buchweizenfelder ansehen!«

Das junge Mädchen erglühte jäh, errötete über und über, machte ein paar tiefe Atemzüge, legte ihre Hände Petrowskij auf die Schultern, ganz nah an seinem Halse, so daß er ihre kalten, trockenen Finger fühlte, und sagte hastig – ihre Worte überstürzten sich förmlich –:

»Ich will nicht, daß Sie so sind wie die übrigen, ich will es nicht, will es nicht! Immer ärgern sich die Menschen über mich, weil ich nicht zu sprechen verstehe! Ich spreche aber doch nur ehrlich aus, was ich denke, und darum habe ich überhaupt keine Bekannten.«

Petrowskij ergriff ihre Hände, nahm sie behutsam von seinen Schultern herab und schaute ihr lange in die struppigen, mattglänzenden Augen, aus denen ein tiefes Weh sprach, so daß er fürchtete, dicke schwarze Tränen würden gleich aus diesen seltsamen Augen rollen.

Sina hatte nicht aufgehört zu sprechen, doch sprach sie jetzt leiser und langsamer.

»Warum wollen Sie nicht mit mir verkehren? Ich habe nur einen Bekannten, aber der ist so abscheulich, daß ich ihn nicht ausstehen kann und fast niemals in mein Zimmer lasse.«

Um das junge Mädchen zu beruhigen, sagte Petrowskij:

»Schön, ich will bei Ihnen verkehren – aber wie merkwürdig Sie sind, Sina!«

 

Auf dem durchlöcherten Diwan saßen sie die ganze Nacht hindurch beisammen. Aus dem Gang tönte, bald anschwellend, bald abgerissen, rollend oder pfeifend, ein dumpfes Schnarchen herüber. Die Nacht schien endlos, weil etwas Unheimliches in Petrowskijs Worten lag, wie damals, als er in der halb geöffneten Tür zu Fenjas Zimmer stand.

Er wußte nicht, wie es kam, daß er, dem Wunsche des jungen Mädchens entsprechend, sein ganzes Leben vor einer Unbekannten enthüllte … In ihren Augen war ein Dämmerschein, und in der Dämmerung, bei Kerzenlicht, spricht es sich leichter. Das gelbliche Flämmchen der Kerze schwankte, weiße Tropfen rannen herab, und ein Schwanken war auch in ihm – sollte er von sich sprechen oder nicht? Vielleicht drang sie nur aus Neugier in ihn, aber wenn er in ihre Augen blickte … Eine tiefe Trauer lag in diesen Augen, und es waren verständnisvoll aufhorchende Augen, in denen der Widerschein der gelben Kerzenflamme blinkte … Ein Beben überrieselte sie, und sie sagte im Flüsterton:

»Gott, welche Qual! Warum sind Sie denn nicht aus dieser Hölle geflohen?«

»Die trübseligen Herbsttage, und man kann nirgendshin … Kein Mensch, mit dem man ein vernünftiges Wort wechseln konnte, keine Zeitung, kein Buch … Zuletzt vermag man selbst nicht mehr zu denken. Dann kommt einem in den Sinn: Dort, in der Ferne, viele tausend Werst weit, da leben Menschen, kämpfen, und leiden, und schaffen … Ich habe weder Vater, noch Mutter, noch Geschwister, niemand … Einem nahestehenden Menschen hätte man schreiben können, vielleicht bringt das Erleichterung. Aber denkt man dann wieder daran, daß jede Zeile, die man schreibt, von den unsauberen Händen, den unsauberen Gedanken des Zensors beschmutzt wird, so schweigt man doch schließlich lieber …

Zuweilen wirft es einen um, man sinkt in Verzweiflung. Vielleicht bin ich dadurch erkrankt; mußte wochenlang liegen. Sie wissen nicht, was das heißt, wochenlang liegen, ohne einen Menschen um sich zu haben. Zuweilen spricht ein Gefährte vor, bringt ein Stück Brot, das er sich vom Munde abgespart hat; nun hat er selbst nichts. Man kann es nicht zurückweisen, man kann auch nicht mit ihm sprechen – er ist ebenso schlimm daran und leidet dieselbe Qual … Sie sagen, fliehen! Wissen Sie, was das ist, der sibirische Urwald, die Taiga?! Eine Flucht an sich ist nicht schwer, die Gefahr, wieder eingefangen zu werden, nicht groß; aber da ist man einen Tag durch den fast undurchdringlichen Wald gewandert, zwei, drei Tage – man bricht durch die Strapazen und durch den Hunger entkräftet zusammen – und ist froh, wenn man noch die Möglichkeit hat, sich selbst seinen Feinden zu stellen. Aber nur einen Augenblick – das höhnische Feixen, die geifernde Schadenfreude der frohlockenden Feinde, denen man ausgeliefert ist wie ein Stück Vieh, das ist das schlimmste und kaum noch ertragbar … Es kommt auch vor, daß jemand im Sommer flieht, sich in den Wäldern versteckt hält, des Nachts nach den Sternen seine Schritte richtet, auf einen Weggenossen trifft, auch einen Flüchtling, einen Schwerverbrecher, der sich ebenso hungernd durch das Dickicht schlägt. Sie liegen nebeneinander auf dem Boden und keiner wagt zu schlafen aus Angst, der andere könnte ihn totschlagen. Vielleicht um des besseren Schuhzeugs willen oder wegen der paar Kopeken, die der andere noch in der Tasche haben mag und die vom Hungertod erretten könnten. So belauern sie einander, Tag und Nacht. Das zermürbt. Im Urwald einen Menschen töten – wer erführe jemals etwas davon! … Nicht Feigheit ist es, was einen von der Flucht zurückhält, sondern … man will eben am Leben bleiben. Sie wissen noch nicht, was das heißt, wenn ein Mensch, der am Untergehen ist, sich sagt: Ich will leben! …«

Sein Leben vorher in Sibirien und nach der Rückkehr aus der Verbannung war vor ihm erstanden und ihm war, als hätte er noch gar nicht angefangen zu leben, als wäre alles nur Leid und Entsagung und Erwartung gewesen, weil eins gefehlt hatte, das, was das Dasein erst zum Leben macht – die hingebungsvolle Liebe eines Menschen, dem fremdes Leid und fremde Freude eigenes Erleben ist, der mit leidet und mit brennt, der zum Kampf entflammt. Vielleicht brauchte er von solch einem Menschen nichts weiter, als daß er an ihn, an seine Idee glaubte, er sehnte sich nach einem Gefährten, dem er sich anvertrauen, vor dem er sein Innenleben restlos auftun könnte. Fenjas Leben war klar und einfach, sie wußte, wofür sie lebte; sie war innerlich frei, aber ihn entflammen, ein stetes Feuer in ihm sein, in dem sich sein ganzes Sein zur höchsten Steigerung entfaltete, das konnte sie nicht. Die abgeklärte Ruhe, die Fenja ihm gab, war nicht das, was er brauchte, ja, war bedrückend, daran konnte er sich nicht zu seinem Kampf entflammen. Nicht aus der Ruhe, nicht aus einer geschlossenen Weltanschauung konnte er Kräfte schöpfen, nein, nur aus Leid. Wer mit sich selbst und der Welt ringt, kann nur im Ringenden Begeisterung, wer an sich selbst und der Welt leidet, nur im Tragischen Erlösung finden …

Petrowskij sprach leise; zuweilen schaukelte sein Oberkörper, wenn das Sprechen ihm schwer wurde, und er strich sich oft mit seiner großen, breiten Hand das Haar aus der Stirn.

Das junge Mädchen hörte ihm stumm zu, die mageren, fast noch kindlichen Arme um die Knie geschlungen, den Blick der struppigen Augen vor sich gerichtet, und wenn aus Petrowskijs Worten krankhafte Qual sprach, zuckten ihre Schultern. Bei seinen letzten Worten konnte sie nicht länger an sich halten, sie sprang ungestüm auf, nahm Petrowskijs Kopf in ihre kalten Hände und küßte ihn kurz auf die Stirn. Gleich darauf sank sie, als fiele sie, auf den Diwan zurück, wandte sich ab, bettete den Kopf auf die Polsterrolle, und ihre Schultern erbebten in lautlosem Schluchzen.

Petrowskij wollte aufstehen, etwas sagen, etwas tun, aber bei seiner ersten Bewegung rief sie ihm mit brechender Stimme zu, schrie es fast:

»Rühren Sie mich nicht an! Rühren Sie mich nicht an!«

Das gelbe schwankende Licht glitt durch das Dunkel tastend über die Wände, warf einen gelben wogenden Kreis auf die Decke, flammte einen Augenblick heller auf, wenn ein Tropfen Stearin an der Kerze herabrann, trübte sich wieder. Petrowskij saß schweigend auf dem Diwan und fühlte noch immer Sinas Kuß auf seiner Stirn brennen – diesen kurzen, geizenden, zugleich aber so heiß durchdringenden Kuß, daß ihm war, als sei ein glühendes Siegel auf den Grund seiner Seele gesunken, als hätte eine Stichflamme sie jählings versengt. Seine Gedanken umwoben sie. Sina! – wie seltsam und ungestüm sie war … Solch ein Mensch war wohl imstande, seine Seele einem anderen hinzugeben, wenn sie einmal in ihr erschauerte und sich auftat …

Sina richtete sich empor, und wohl aus Angst, daß er – in dem Gefühl, durch ihren Kuß nun mit ihr verknüpft zu sein – sie umarmen oder sonst einen Annäherungsversuch machen könnte, stand sie in ihrer Ecke des Diwans auf und kreuzte, den Rücken an die Wand gelehnt, die Arme über die Brust, als verteidige sie sich vor ihm, so daß ihre schmalen, ganz schmalen Finger auf ihre Schultern zu liegen kamen, sich in diese Schultern, die sie vorgebeugt hielt und die noch immer bebten, einzubohren schienen. Die schmalen Finger auf dem schwarzen Kleide schienen ungewöhnlich lang und weiß und machten einen kindlich hilflosen Eindruck. Ihre Augen, in denen noch Tränen standen, blickten tief und so traurig, daß Petrowskij fürchtete, sie würde gleich wieder in Schluchzen ausbrechen. Ihr kastanienbraunes Haar schimmerte im schwanken Kerzenlicht wie nachgedunkelte Bronze.

»Ich wollte, daß Sie die Berührung meiner Seele spürten, und das ließ sich nur so tun, wie ich es getan habe, schien mir … Nicht wahr, Nikodim? Nicht war, Sie Lieber?«

Ergriffen antwortete er:

»Ja, Sie liebes Menschenkind, ja!«

»Kind sagen alle zu mir … Vielleicht bin ich wirklich noch ein Kind, ich kenne ja das Leben noch gar nicht … Es ist so groß … Aber gut, und ich fürchte mich gar nicht vor ihm … Es tut mir nur immer so weh, so schrecklich weh, wenn ich sehe, daß die Menschen am Leben leiden, und wenn ich das fühle – und das kommt immer so unerwartet – so kann ich nicht anders als mit ihnen leiden … Mir scheint zuweilen, ich müsse meine Seele für das Leid der Menschen hingeben, und das ist so schwer, Liebster … So nenne ich jene, die meine Seele berührt haben … Sie müssen aber nicht glauben, daß das so leicht kommt und daß ich jemals vorher einem Menschen seelisch so nahe getreten wäre wie heute Ihnen. Es ist sehr schwer, so seine Seele einem anderen hinzugeben, Sie wissen gar nicht, wie schwer das ist … Heute aber hat meine Seele eine andere Menschenseele berührt, Ihre Seele, zum ersten Male, und es ist ganz von selbst gekommen, und darum habe ich weinen müssen, weil es mich so erschüttert hat, und jetzt bin ich ganz erschöpft, und mich friert, mich friert sehr. Jetzt habe ich auch einen Menschen auf Erden, der mir nahe steht, der mir ganz, ganz nahe steht … Aber ich friere so, ich habe noch niemals so gefroren …«

Petrowskij nahm ihren schwarzbezogenen Eichhornpelz, der weich und warm war, und legte ihn ihr behutsam über die Schultern, bemüht, sie nicht zu berühren. Sie hüllte sich fröstelnd in den Mantel ein, zog ihn über der Brust zusammen und sah nun ganz klein aus, wirklich wie ein Kind, nur das glimmende Leuchten ihrer großen schwarzen Augen verriet eine große Seele.

Ein grauer, eher an Abend- als an Morgendämmerung erinnernder Lichtschimmer drang durch die Scheiben, und das gelbliche, zuweilen golden aufleuchtende Kerzenflämmchen verblaßte allmählich.

Das junge Mädchen war eingeschlummert oder saß vielleicht nur still und in sich versunken da, dem Erleben dieses Tages und dieser Nacht nachhängend, da sie zum ersten Male tief in eine leidende Menschenseele geblickt hatte.

Um sie nicht zu beunruhigen, sie nicht aus ihrer stillen Versunkenheit aufzuschrecken, wagte Petrowskij nicht, sich zu rühren.

Er grübelte; die beiden Gestalten, Fenja und Sina, erstanden vor ihm. Die eine ein abgeschlossener, auf seine Art vielleicht vollkommener Mensch, dessen ganzes Wesen das Leben freudig bejahte; die andere fast noch ein Kind (als solches empfand er Sina), dessen schwache Hände Leben und Mensch noch nicht berührt hatten, das wie eine sprießende Pflanze der Sonne vertrauensvoll entgegenträumte, sich an ihren glühenden Strahlen noch nicht versengt hatte. Oder vielleicht konnten sie diese Strahlen gar nicht versengen, weil auch ihre Seele in verborgener Tiefe in einem gleich heißen, zuweilen jählings aufflammenden Feuer brannte? Vielleicht war ihr expansives, kindlich unmittelbares Wesen auch ein Ausdruck einer eigenartigen Lebensfreude, die aber tiefer verborgen, noch knospenhaft verschlossen in ihr schlummerte und sich nach außen hin nur in spontanen Bewegungen, tastenden Gedanken und Gefühlen äußerte.

Dabei mußte er immer denken, wie merkwürdig und gut sie sei! …

Das junge Mädchen machte eine Bewegung, sah Petrowskij mit großen Augen an und lächelte.

»Ich hatte gedacht, Sie seien nicht da – Sie saßen so still …«

»Haben Sie geschlafen?«

»Nein, ich habe nachgedacht …«

»Woran haben Sie gedacht?«

»An Sie und an mich … Wie seltsam das ist, daß ein Mensch plötzlich einem anderen so nahe, so vertraut werden kann! … Das kommt wohl daher, weil unsere Seelen sich berührt haben … Und mir war, als hätte ich meine Seele verloren, und nun lebe Ihre Seele in mir … Ich kann das nicht sagen, noch viel weniger erklären, es ist nur so ein Gefühl.«

Sie verstummte, sann nach, fuhr fort:

»Ich wollte Ihnen zuerst meinen Familiennamen nicht nennen – was hat es auch für einen Sinn? … Dann, als ich erfuhr, daß Sie verbannt waren, wollte ich Sie näher kennenlernen. Jetzt aber nehme ich nicht darum Anteil an Ihnen, Sie sind jetzt einfach der mir nächste, vertrauteste Mensch auf Erden … wie Vater oder Mutter … Wie Sie, habe ich keine Eltern mehr, sie sind gestorben … Seitdem bin ich erwachsen … Sie müssen nicht denken, daß ich noch ein Kind bin, ich bin ja auch schon groß genug …«

Petrowskij sah sie prüfend an; tatsächlich, sie war fast ebenso groß wie er. Sie machte noch den Eindruck eines Kindes, weil sie noch nicht ganz entwickelt, mager und eckig in ihren Bewegungen war. Der Pelzmantel war ein wenig über die Schultern zurückgeglitten, wodurch sich ihr Kleid über dem Busen straffte; ihre Brüste konnte man kaum erspüren, sie mußten ganz klein sein, nicht wie bei Fenja – zwei kleine Hügelchen, zwei Äpfel, kaum wahrnehmbar unter dem Kleide, und das rührte Petrowskij besonders, denn so schien sie noch ein kleines Mädchen zu sein, das man noch gar nicht als Weib betrachten konnte, selbst der Gedanke daran war unmöglich! Im Herzen konnte man nur die Erinnerung an ihre Augen und an die großen Haarringel über Stirn und Ohren bewahren. Überall, wo sich eine Haarsträhne löste, waren gleich die Ringel da. Diese und ihre Augen würden im Gedächtnis bleiben …

Im Gang ertönten schlürfende Schritte von Füßen, die nackt in Männergaloschen stecken mußten.

Petrowskij fuhr auf.

»Wir müssen zum Zuge … Aber wo nehmen wir Geld her?! Ich habe keine Kopeke bei mir!«

Sina schlug die Hände zusammen und lachte fröhlich und ausgelassen.

»Ich habe auch nichts mit, Nikodim … Bleiben wir eben hier, und ich schreibe einer Freundin, sie möchte uns Geld herbringen … Bei mir zu Hause im Schreibtisch liegt welches … Zu einer Briefmarke langt noch, was ich bei mir habe.«

»Nein, Sina, das geht nicht, wir müssen den Ertrag unserer Sammlung abliefern. Ich habe das Geld, das nicht mehr in die Büchse hineinging, lose in der Tasche – wir nehmen davon, soviel wir brauchen, und ich erstatte es nachher zurück …«

»Darauf gehe ich nicht ein, niemals! Ich bezahle für mich; Sie kommen eben zu mir heran – sowieso müssen Sie ja wissen, wo ich wohne –, und am Sonnabend besuchen Sie mich, besuchen mich unbedingt! Sonnabends bin ich immer zu Hause …«

Auf dem Bahnsteig stand derselbe Gendarm, vierschrötig, dick, mit langem Schnurrbart und, wie es schien, ein wenig kurzsichtig, und musterte sie aufmerksam. Sina blickte ihn verwundert an, er wandte sich halb ab, und man sah, wie er schmunzelnd grinste – sein langer Schnurrbart zuckte, und um die Augen herum bildeten sich hüpfende Fältchen.

Im Zuge plauderte Sina munter und unablässig, als hätte sie Petrowskij eben erst kennengelernt und Interesse an ihrem einsilbigen Reisegefährten gefunden.

 


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