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4

Als Petrowskij Fenjas Frage hörte: »Wohin willst du denn gehen? Du hast niemand auf der Welt als mich!« wurde ihm zum ersten Male klar, daß es wirklich so war; er hatte bisher immer nur bis zu diesem Augenblick gedacht, bis zu dem Augenblick, da er Fenja »die Hauptsache« sagen und dann auf immer von ihr gehen würde. Hier hatten seine Gedanken immer haltgemacht. Und nun war es so gekommen, daß nicht er, sondern Fenja »die Hauptsache« gesagt hatte: »Du bleibst bei mir.«

Er senkte den Kopf, sank ganz in sich zusammen, ließ sich auf den Diwan nieder, doch sogleich wieder entluden sich Fetzen seiner großen Anspannung von vorher in erregten Worten.

»Nein, ich bleibe nicht hier, ich kann nicht bleiben …«

Unmerklich ging auch er auf das vertraute Du über:

»So begreife doch, daß gar kein Anlaß vorliegt, weshalb ich bei dir bleiben sollte, bleiben könnte! …«

»Es ist bald elf, Nikodim. Bevor du dich auf der Polizei gemeldet hast, findest du nirgends Unterkunft. Wohin willst du also?«

»Ich weiß nicht …«

Sie setzte sich zu ihm, nahm wieder seine Hände in die ihren.

»Dazu bist du ganz krank, kannst dich kaum auf den Füßen halten. Zuerst mußt du wieder zu Kräften kommen, dann sehen wir weiter …«

Sie sprach lange auf ihn ein, und je länger sie sprach, desto mehr wich sein Widerstand und zugleich seine Erregung. Er konnte wieder klar denken.

»Ja, Fenja, ich bin eben schwach und allein; unsere Partei ist zertrümmert, aber ich glaube fest daran, daß unsere Idee trotzdem lebt. Sie liegt in der Luft, und es braucht nur etwas Ungewöhnliches zu geschehen, etwas, was die Massen erschüttert, aus ihrer Stumpfheit aufrüttelt, und unsere Idee wird in diesen Massen aufleben … Da wird von dem Halleyschen Kometen erzählt, daß sein Schweif die Erdatmosphäre streifen könne, dann würden alle Menschen verrückt werden. Das ist fast das gleiche wie mit unserer Idee: es braucht nur eine Naturkatastrophe einzutreten, ein Erdbeben, ein großer Krieg, und aus dem Leiden der Menschheit wird ein Durst nach einem besseren Leben, ein Durst nach Gerechtigkeit und Wahrheit erwachen, so, als hätte ein Kometenschweif die Menschheit gestreift; ein reinigendes Feuer wird die Menschen läutern …«

»Ein reinigendes Feuer wird die Menschen läutern – das wäre schön, Nikodim!«

»Ja, läutern – nur durch Leid und Blut wird Reinigung erworben, wird der Ruf nach Gleichheit und Freiheit wiedererstehen, und wenn das geschieht, so wird unsere Idee zahllose Helfer unseren eben gelichteten Reihen zuführen, denen wir bloß Führer zu sein brauchen auf den neuen Wegen, um mit Millionen Händen unsere Idee zu verwirklichen! Eben sind wir zertreten, und ich bin obdachlos, aber ich weiß: das kann nur eine kleine Weile dauern, dann aber wird die Saat, die wir gesät, aufgehen. Daran glaube ich aus tiefster Überzeugung … Unsere Niederlage ist bitter, und bitter, bitter war der Weg zu dir. Ich habe deine Briefe ungelesen verbrannt – vielleicht, weil ich dich fürchtete, weil ich fürchtete, daß … Mir fehlen heute die Worte, verzeih … Und ich fürchtete, daß ich bei einem Wiedersehen mit dir nicht würde widerstehen können … Ich wollte in eine Nachtherberge, ein Armenhaus, aber ich habe ja nicht einmal die wenigen Kopeken dazu … Und wie mühsam war der Weg zu dir, ich schleppte mich kaum noch, ich hatte Angst, daß ich auf der Straße zusammenbrechen könnte oder – das war das schlimmste –, daß du vielleicht nicht zu Hause seist und ich vor deiner Schwelle hinsänke und in Tränen ausbräche … Diese Vorstellung war das schlimmste … Du bist jetzt ganz anders, ich weiß noch nicht, was es ist, aber es ist etwas Neues, Unfaßbares an dir … Mir kommt eben der Gedanke, daß die Menschen nach der Reinigung so lebensfreudig und glücklich sein werden …«

»Nach der Reinigung?«

»Ja, nach der Reinigung durch Leid und Feuer! Die Revolution wird die Menschen reinigen, von den Schlacken der Selbstsucht befreien. Leid wird die Menschen enger zusammenschließen, die Menschheit zu einer Wiedergeburt führen. Vielleicht werden wir nur den Anfang davon erleben und die junge Generation heranwachsen sehen, die unsere Idee einmal verwirklichen wird, und uns an ihrer Freude freuen … Ich bin jetzt schwach und hilflos, aber wenn ich dich ansehe, ist mir, als gesunde ich an deiner Schönheit, deiner Gesundheit, deiner Kraft. Vielleicht bist du schon der neue Mensch und dabei ganz anders, als ich mir diesen vorgestellt habe … Eigentlich kenne ich dich jetzt gar nicht, weiß nicht, wer, was du bist … Eins aber weiß ich: der neue Mensch wird ebenso stark und in sich gefestigt sein wie du …«

Es war, als könnte er ohne Ende sprechen. Die Wärme, das stille Zimmer, die ruhigen, großen Augen unter den ebenmäßigen Brauen und dem goldenen Haarkranz taten ihm wohl, daß ihm ganz warm wurde ums Herz, und der Fluß seiner eigenen Worte beruhigte ihn, entlastete ihn nach den Jahren des Schweigens und der Vereinsamung in der unwirtlichen Fremde.

Fenja warf einen Blick auf die Uhr, löste ihre Hände aus den seinen, stand auf.

»Es ist ein Uhr! Wir müssen schlafen gehen.«

Sie sagte es schlicht und unbefangen. Während er sprach, hatte ihn der Gedanke beunruhigt, wie er hier in ihrem Zimmer übernachten sollte, als sie ihn jetzt aber in so selbstverständlicher Weise zum Schlafengehen aufforderte, schien es das natürlichste Ding in der Welt.

»Laß, ich will die Betten machen.«

Er stand auf, ging an den Tisch und blätterte in einem Buch.

»Das wäre gemacht! Also ich schlafe auf dem Diwan und du in meinem Bett.«

»Aber warum denn?! Ich kann doch auf dem Diwan schlafen! Darauf gehe ich nicht ein.«

»Du bist krank, und ich bin gesund, also kommst du ins Bett! Setz' dich ans Fenster. Ich drehe das Licht ab und ziehe mich aus, nachher gehst du dann zu Bett.«

Sie trat an den Tisch und zog den Stecker heraus. Er war gar nicht zu einer Entgegnung gekommen, und sie wäre auch nicht angebracht gewesen, fühlte er. So blieb er denn im Dunkel folgsam am Tische sitzen.

Als Petrowskij im Bett lag, begann er im Dunkeln wieder zu sprechen; das warme Bett, Fenjas Nähe hatten ihn beruhigt.

Fenja hatte bei Petrowskijs Ausführungen zum ersten Male die große Seele gespürt, die in diesem asketischen Körper im heißen Glauben an ihre Sendung flammte. Bei Boris war das anders, er war ein Mensch, der in seinem reinen Glaubenseifer vielleicht imstande war, in fanatischer Verzückung zu verbrennen – in der Spannung, mit der er auf die Erscheinung der Verstorbenen gehofft und Fenja für seine Braut gehalten hatte und einen Augenblick lang in verzehrender Leidenschaft erglüht war, lag eine ungeheure Kraft, unter deren versengendem Einfluß Fenja eine seelische Wiedergeburt erlebt hatte. In jenem Augenblick wäre es schwer gewesen zu entscheiden, wer der Empfangende, wer der Gebende war – Fenja, die ihn beglückte, oder Boris, unter dessen Glut ihr Körper verbrannte und ihre Seele in erlösender Befriedigung ihre Reinigung fand. Nikodim aber war von einem blinden Glauben an ein Etwas beseelt, er war unerschütterlich von der Lebenskraft seiner weltbeglückenden Idee überzeugt, davon, daß diese Idee sich durchsetzen müsse und werde, da die Welt sonst an ihrem inneren Widerspruch zugrunde ginge … Und seine Worte, daß nur durch Läuterung, durch Blut, durch Leid diese lichtere Zukunft erringbar sei, hatten sie tief ergriffen, war doch auch sie durch Fall und Qual hindurch zu Klärung und Läuterung gelangt. Seine Worte, daß der neue Mensch, die kommende Generation, auf die er so große Hoffnungen setzte, ihr vielleicht in manchem ähnlich sein würde, freuten sie und stärkten ihren Glauben an sich selbst. Er hatte sie mit heimlicher Wehmut und Begeisterung angeschaut, als hoffte er aus ihrer Berührung neue Kräfte für seinen Kampf um eine geläuterte Zukunft der Menschheit zu schöpfen.

»Weißt du, oft wenn ich unter meinem Mantel zusammengekauert dalag, habe ich an dich gedacht – wie du jetzt wohl sein magst – dieselbe oder eine andere? Dein erster Brief hat mich verwundert, der zweite, den ich ja auch gelesen habe, noch mehr. Ich fragte mich, ob wirklich du das geschrieben habest, ja mir schien sogar, ich täuschte mich oder du täuschtest mich, um besser zu erscheinen, als du wirklich bist … Ich kann dir das jetzt sagen, weil ich weiß, daß es dich nicht verletzen wird …«

»Wissentlich habe ich dich nicht getäuscht, Nikodim …«

»Jetzt sehe ich das selbst … Ach, wenn du wüßtest, was Einsamkeit ist! Ich war einsam unter den anderen, denn ich sah, daß sie bereit waren nachzugeben, ein Kompromiß einzugehen, und das war so niederdrückend! Ich entfernte mich immer mehr von ihnen, und so kam es, daß meine Vereinsamung immer tiefer wurde …«

»Wenn ich nur geahnt hätte, wie es um dich stand – ich wäre zu dir geeilt …«

»Als ich nach Petersburg reiste, weißt du, da habe ich im tiefsten Innern gewußt, daß ich deinetwegen kam, wollte es mir aber aus Eigenliebe nicht eingestehen … Meine Vereinsamung war vielleicht auch darum so zermürbend, weil ich deine Briefe verbrannte, denn immer noch …«

Er stockte … Er hatte wohl sagen wollen, daß er sie immer noch liebe, spürte Fenja – seine Stimme hatte gebebt. Fenja unterbrach sein Schweigen nicht; sie wollte hören, was er sagen würde.

»Immer noch …«

Er brach wieder ab, grübelte, begann aufs neue:

»Und immer noch bin ich einsam …«

Und, schon am Einschlafen, sagte er, die erlöschenden Worte leise dehnend:

»Wenn ich nur wüßte, was inzwischen mit dir vorgegangen ist …«

Sie lauschte auf die Atemzüge des Schlafenden und spürte, spürte es körperlich, daß ein Mann in ihrem Schlafzimmer war. Es erschreckte sie nicht. Ihre Gedanken kehrten nach innen. Langsam vertiefte sich das Empfinden seiner Nähe, erregte sie. Sie konnte nicht einschlafen.

Als sie, ganz in sich versunken, ihr Kind erwartet hatte, war sie nicht Weib gewesen, kein sinnliches Verlangen war während dieser Zeit über sie gekommen; nachher, nach der Geburt, hatte sie sich ihrem Kinde gewidmet, durch dessen Dasein sie ganz ausgefüllt und alles andere verdrängt worden war; nach Petersburg zurückgekehrt, hatte sie sich eifrig in ihr Studium vertieft und für nichts anderes Sinn gehabt als für ihre Arbeit, um sich und ihres Kindes willen. Und jetzt erst, zum ersten Male, von ihrem Kinde getrennt, empfand sie, daß zusammen mit ihrem Mitleid mit dem erschöpften Manne ein anderes in ihr erwacht war; sie fühlte sich wieder Weib – nicht mehr als jene von Aufruhr und Unruhe erfaßte –, fühlte sich als ruhige, lebensfreudige und liebeshungrige Frau. Das Empfinden seiner Nähe durchströmte den ganzen Körper des wieder erwachenden, gesunden, starken jungen Weibes und war wie ein Hungergefühl – ebenso unerwartet und verlangend. Ihr Kopf war klar, nur über ihren Körper war eine Unruhe gekommen – ein leises Erbeben überrieselte sie von den Armen bis in die Füße hinab. Sie wollte sich strecken und dehnen, tiefer die Luft in sich atmen … Sie schlief kaum … Als ein Wecker im Nebenzimmer schnarrte, stand sie auf.

Sie bereitete Tee, wartete auf Nikodims Erwachen, schlug ein Buch auf, konnte aber nicht lesen, versank in Sinnen …

Nikodim regte sich, blickte Fenja erschrocken an.

»Ziehe dich an, ich gehe inzwischen zur Wirtin hinunter, um mit ihr zu sprechen. Fürs erste bleibst du hier bei mir …«

Heißhungrig fiel er über das Frühstück her. Fenja saß zufrieden neben ihm, ebenso ruhig und schlicht, nur im Kopf hatte sie ein dumpfes Gefühl. Während Nikodim noch schlief, hatte sie beschlossen, daß er einige Tage bei ihr bleiben sollte, bis er wieder zu Kräften gekommen wäre; nachher sollte er entweder zu Onkel Kirja reisen oder in Boris' früheres Zimmer übersiedeln – an das letztere dachte sie mit Widerstreben –, es würde ihr Überwindung kosten, jenes Zimmer zu betreten, wenn Nikodim darin wohnte.

Gleich nachdem er seinen Hunger gestillt hatte, sagte sie:

»Siehst du nun, wie einfach es ist? … Und du wolltest nicht an meine Freundschaft glauben!«

»Ich weiß nicht, ich bin auch jetzt nicht ganz sicher … Es fällt mir doch schwer, der Nehmende zu sein …«

»Und früher? … Damals warst du vernünftig, und dir kamen keine dummen Gedanken, so muß es auch jetzt wieder sein. Aber machen wir es so, daß du mich nicht zu fragen brauchst, sondern selbst nimmst, was du nötig hast. Geld liegt im Tisch, nimm soviel du brauchst, frage nicht und zähle nicht. Es ist unser gemeinsames Geld …«

»Früher war das leichter, damals …«

Er stockte wieder und sah Fenja traurig an. Und wieder beendete sie in Gedanken seinen Satz: Damals liebtest du mich … Er strich sich, wie es seine Gewohnheit war, über das Haar und sagte:

»Damals waren wir andere …«

Sie lenkte ab, fragte:

»Was gedenkst du zu tun?«

»Ich will mein Studium fortsetzen. Ich will suchen, wieder in die Hochschule aufgenommen zu werden …«

»Ich bitte dich – erhole dich zuerst eine Weile!«

»Dazu habe ich keine Zeit, ich muß arbeiten. Ich habe soviel Zeit verloren, und vor mir liegt viel Arbeit!«

»Ich wollte dir vorschlagen, zu meinem Onkel zu fahren. Du sagtest gestern, du müßtest von neuem anfangen, es anders beginnen … Onkel Kirja würde dir helfen …«

»Was? Dein Onkel? Er würde seinem Feinde helfen?!«

Sein Gesicht flammte auf, aufgeregt stieß er hervor:

»Auch das noch! Verstehst du jetzt, daß es mir schwer fällt, deine Hilfe anzunehmen? Dein Onkel saugt die Menschen aus, und seine Nichte macht sich ein Vergnügen daraus, aus Nächstenliebe und edlem Mitleid seinen geschworenen Feind mütterlich an ihren Busen zu drücken und zu füttern …«

»Gott, Nikodim – Onkel hat doch deine Befreiung erwirkt!«

»Großmut des Siegers gegen den zertretenen Feind … Kennen wir …«

Fenja sprang von ihrem Stuhl auf, mit zornfunkelnden Augen fuhr sie ihn an:

»Nikodim! Wie unterstehst du dich, so über einen Menschen zu sprechen, den du nicht kennst und der dir Gutes getan hat?!«

Er stand auf, machte ein paar Schritte im Zimmer, sagte mit dumpfer Stimme:

»Verzeih, Fenja, das ist mir so entfahren, es tut mir leid.«

 

Einige Tage waren vergangen.

Fenja lag in der Dämmerstunde ausruhend auf dem Diwan. Petrowskij kehrte heim, setzte sich zu ihr.

»Hast du heute etwas erreicht?«

»Ja, ich werde wieder immatrikuliert.«

Seine Stimme klang belegt, als er fortfuhr:

»Es hat sich manches verändert in der Hochschule … Dasselbe Gewimmel, dasselbe erregte Hin und Her, aber es steckt keine Seele mehr darin. Von meinen alten Studienfreunden ist fast niemand mehr da, und die wenigen verschont gebliebenen begnügen sich mit schönen Redensarten. Sie behaupten, sie begännen wieder, sich zu organisieren, brauchten erfahrene, zuverlässige Führer. ›Dir wird man folgen, du hast eine lange Praxis hinter dir!‹ Verbannung nach Sibirien, das gilt ihnen als Praxis! Phrasendrescherei, können ohne Dekoration nicht auskommen! Beamte in Studentenjoppen sind diese Leute, Kolleg, Prüfungen, Arbeit im Laboratorium, das ist ihr Horizont. Wir haben ja auch in Laboratorien gearbeitet und Prüfungen abgelegt, aber wir nahmen auch teil an dem Wohl und Wehe der Allgemeinheit, wir brannten und loderten, jeder Atemzug des großen Lebens fand einen Widerhall in uns Jungen, wir litten mit den anderen, wir kämpften und rangen! Nein, mit den Leuten kann ich mich nicht zu sozialer Arbeit verbinden. Diese Arbeit muß jetzt von unten herauf beginnen, von den niederen Volksschichten aus – wir sind ja aber zerstreut, geschlagen, zertreten! … Von Parlamentarismus faseln sie … Von Evolution … Bilden sich zu ehrsamen Beamten eines Parlaments aus! Und statt geistiger Interessen – Sportvereine, Fußball, Schneeschuhe … Dazu Bierabende mit sinnlosem Gerede und Zank, die bei Dirnen ihren Abschluß finden … Das wollen Studenten sein! Diplomjäger! Da geh ich wirklich noch lieber zu deinem Onkel. Bearbeite die Arbeiter. Die Werkstätten, die sind jetzt Keimzellen der Revolution, und wenn sie kommt, so kann sie nur von da unten ausgehen, von da unten aus alles durchtränken und entflammen. Ich sagte an jenem ersten Abend, es liege in der Luft, darum muß es um sich greifen, jeden erfassen. Es kommt nicht mehr aus den Universitätslaboratorien oder aus den Wandelgängen des Parlaments, es steigt von unten herauf und wird einmal entflammen, ganz von selbst, und dann wollen wir sehen, wo unsere Führer von gestern bleiben werden! Mit ihrem Parlamentarismus werden sie vor zerbrochenen Krügen stehen, vom Leben selbst über Bord geworfen. Jetzt heißt es für jeden, der einmal am Steuer stehen will: arbeiten! Arbeit und keine Schonung Verrätern gegenüber, denn unser Ziel ist ein höheres als der Einzelmensch, da ist Nachsicht nicht am Platz. Und wenn jeder dem anderen scharf auf die Finger sieht, so wird es keine Verräter mehr geben …«

»Gott, das ist doch schrecklich, das ist doch Spionage! Einer soll hinter dem anderen her sein, schnüffeln und spionieren …«

»Nichts dergleichen. Aber Kontrollosigkeit führt zum Zusammenbruch, das eben haben wir ja an uns erfahren. Wenn jeder weiß, daß jeder seiner Schritte kontrolliert wird, so wird er sich zusammennehmen und sich keine ungerechtfertigten Handlungen und Reden erlauben, denn er wird nicht nur die moralische Verantwortung tragen, sondern mit seinem Kopf für seine Taten einstehen müssen …«

»Also – töten wollt ihr auch?!«

»Kampfunfähig machen. Wie – das wird von den Umständen abhängen, vielleicht werden wir auch töten müssen. Dann wird die Partei fest und geschlossen dastehen, tatkräftig sein, ihren Willen und ihre Kampffähigkeit beweisen! Dann weiß ein jeder: Es gibt kein Schwanken und Zaudern mehr: du siegst oder stirbst; wähle! In einer solchen Partei ist die Möglichkeit von Kompromissen ausgeschlossen – eiserne Disziplin stärkt den Glauben an sich selbst und an die Sache, für die du dein Leben einsetzt …«

»Das ist ja Fanatismus – du willst Fanatiker schaffen!«

»Ja, Fanatiker, die grenzenlos an die Wahrheit und das Recht ihrer Idee glauben.«

»Dann wird eure Idee zu einem toten Dogma werden, das zu keiner lebendigen Entwicklung, die den wechselnden Forderungen des Lebens entspricht, mehr fähig ist … Nein, niemals laß ich das gelten!«

»Du irrst! Wir werden dem Leben nicht taub gegenüberstehen. Wer eine Idee im Leben verwirklichen will, der muß auf die Stimme dieses Lebens lauschen und sich ihm anpassen, doch darf er dabei nie außer acht lassen, daß sein Endziel die vollkommene Verwirklichung seiner Idee in ihrer ganzen Tiefgründigkeit ist, und muß auf dieses Ziel unbeirrt hinsteuern. Wenn der Mensch Flüsse in Stahl und Granit fassen und ihren Lauf regeln kann, so können wir das auch mit dem Leben machen. Disziplin von oben bis unten!«

»Onkel Kirja sprach auch von Disziplin, von Disziplin in der Arbeit, aber es klang anders … Das, was du sagst, klingt unheimlich … Etwas Grauenhaftes geht davon aus für mein Gefühl.«

Sie stand auf.

»Komm, laß uns Tee trinken.«

Während Petrowskijs Ausführungen verflüchtete sich Fenjas Annahme, seine Verbitterung spreche aus ihm, und sie fühlte etwas Neues auf sich eindringen, was sie früher, vor seiner Verbannung, nicht an ihm wahrgenommen hatte. Vielleicht war er damals auch noch nicht so, vielleicht hatten seine Verbannung und die einsamen Tage der Betrachtung und Selbstversunkenheit in der Fremde diese strenge Idee von der Parteidisziplin in ihm geweckt. Der trockene, heiße Glanz, der beim Sprechen in seine Augen trat, ließ sein hageres Gesicht noch zugespitzter erscheinen. Sie spürte die Kraft in ihm, dies Unheimliche und zugleich Faszinierende, von dem er gesprochen hatte, durchzuführen. Sie lehnte sich innerlich ungestüm gegen diese vorbedachte, kalt berechnende Grausamkeit auf, und doch lag etwas Verlockendes, Entwaffnendes in seinem Zukunftstraum. Sie wäre nicht fähig gewesen, teilzunehmen an diesem Kampf um eine bessere Welt, spürte aber, daß Petrowskij, sehr tief geschaut, irgendwie in der Hauptsache recht hatte. Sie mußte vieles von dem, was er gesagt hatte, innerlich ablehnen, ihrer lebensfrohen Weltauffassung war das fremd, darum wies sie seine Worte zurück; rein verstandesgemäß aber lehnte sie sie nicht ab, sondern gab ihm recht.

 


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