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[9]

Den ganzen Tag über war Vater Jewtichij wie verloren seiner Tätigkeit nachgegangen. Die Eröffnung, die Sina ihm gemacht hatte, verfolgte ihn unablässig, leise Worte über sein Kind formten sich in ihm, dann dachte er still an die Verschiedene. Sie war gekommen und wieder gegangen, er wollte ihr Bild in sich zurückrufen, es auferstehen lassen in seinem Innern, aber statt seiner Lina erstanden die trüben winterlichen Straßen Petersburgs, seine Erkrankung, die Gesichte der weißen Nacht … Er wollte zu Vater Polykarp gehen – in seine Zelle treten, niederknien und sagen: »Lehrer, rette mich!« Doch er wußte, Vater Polykarps Augen würden ihn streng anblicken und seine Worte kurz sein – sie klangen ihm in den Ohren: »Du gehörst dem Leben und das Leben gehört dir.«

Er brachte eine Ordre auf Hafer in die Pferdeställe, und als er durch den Klosterhof zurückkehrte, sah er Vater Polykarp in seine Zelle treten. Er hätte ihm nachstürzen, ihn anhalten mögen, um ihm zuzurufen: »Lehrer, ich kenne dich nicht, ich weiß nicht, wer du bist. Sage es mir! Erschließe mir die Wahrheit, die du kennst. Ich bin blind und hilflos. Befreie meine Seele, reinige mich!«

Dann ordnete er an, man solle zwei Gräber ausheben; zusammen mit einigen Novizen schaufelte er auf dem Friedhof an der roten Ziegelmauer der Einsiedelei den Schnee fort. Auf den Fichtenzweigen lagen dicke, weiße Ballen. Er sah, wie ein Eichhörnchen auf solch ein Daunenkissen sprang, große, weiße Flocken rieselten herab, das kleine Tier drehte das Steuer, stieß sich mit den Pfötchen ab, und von der Tanne nebenbei sanken weiße Schneebälle knisternd von Zweig zu Zweig. Lange folgte er mit dem Blicke dem buschigen Pelztierchen und freute sich über die Unerschrockenheit und die Zierlichkeit des kleinen Geschöpfes.

Der schneereiche Winter hatte rings um das Kloster alles mit weißen Daunenpfühlen bedeckt; auch das Kloster schien ein riesiges weißes Pfühl, aus dem verschlafen die Kirchenkuppeln hervorlugten und nach der schwingenden Glocke blinzelten, deren Läuten eintönig durch die weiße Stille zog.

Der Sonnenuntergang malte orangefarbene und blutig rote Flecken an den niedrigen Himmel, unter dem Dohlenschwärme kreisten und dann als schwarze Wolken auf die Klosterdächer sanken. Feinflockiger, spitznadeliger Schnee begann zu fallen.

Vater Jewtichij kehrte in seine Zelle zurück, kniete am Betpult nieder, wollte beten und fand keine Worte. Ihm war, als sei er in einem Sarg eingemauert, aus dem es kein Entrinnen gab. Er dachte: Warum habe ich den Lehrer nicht gebeten, mir Blindem die Augen zu öffnen, mich Törichten Weisheit zu lehren …

Das Telephon klingelte. Erschrocken hob er den Hörer ans Ohr. Eine Stimme sagte summend und stotternd:

»Ein Transport Verwundeter ist eingetroffen, schickt Fuhrwerke.«

Geschäftig lief er im Zimmer hin und her, zog eine wattierte Kutte an; und plötzlich schlich ihm eine unbestimmte Unruhe ins Herz, die ihm unheimlich dünkte. Er lief zu den Pferdeställen, hieß Wagen und Schlitten anspannen, trieb zur Eile an. Daß er nach der schlaflosen Nacht den ganzen Tag nichts zu sich genommen hatte, daran dachte er nicht.

Die Samaritermönche baten ihn, beim Bahnhof anzurufen und zu bitten, man möge die Überführung der Verwundeten wegen des Schneetreibens auf den nächsten Morgen verlegen. Vater Jewtichij ging zum Chefarzt. Das ganze Lazarett war bereits mit den Vorbereitungen zum Empfang der Verwundeten beschäftigt; das Verbandzimmer und der Operationsraum wurden instand gesetzt. Vom Hofe her klang das Rattern der Dynamomaschine.

»Es läßt sich nicht machen, Vater, ich habe zum Bahnhof telephoniert, es sind Schwerverwundete dabei; übrigens scheint das Schneegestöber nachzulassen.«

Im Gang traf er Schwester Sina, die nach oben eilte. Er senkte die Augen und merkte, daß seine innere Unruhe noch zugenommen hatte.

 

Man hatte Laternen mitgenommen; tastend suchten sich die Fuhrwerke den Weg durch das einförmig weiße Dunkel. Die Pferde schritten schwer und behutsam aus. Klagend klang das Gebimmel der Schellen. Auf dem Bahnhof wurde gewartet, bis das harte Wehen des Windes ein wenig nachließ; der Schnee sank in großen Flocken herab. Zum Zuge wurde ein Pfad geschaufelt, aus den Wagenfenstern drang warmer Lichtschein, als aber die Verwundeten herausgebracht wurden, erklang Stöhnen und es schien, als dringe das Licht aus der Hölle.

Vater Jewtichij hatte in der Eile vergessen, seine hohen Filzstiefel anzuziehen; in den Lederstiefeln froren ihm heftig die Füße. Wie ein Automat ging er zwischen den Fuhrwerken und dem Zuge hin und her, die Unterbringung der Verwundeten überwachend. Als alle Wagen und Schlitten besetzt waren, gab er den Befehl zur Abfahrt.

 

Vater Jewtichij ging auf den Bahnsteig, um auf die Rückkehr der Fuhrwerke zu warten. Die Schwestern aus dem Zuge forderten ihn auf, in ihren Wagen zu kommen, um sich zu erwärmen und ein Glas Tee zu trinken; er lehnte ab und ging ins Bahnhofsgebäude in die Zelle des diensthabenden Mönches. Es war ein stickiges überheiztes Zimmer; ohne sich auszukleiden, setzte er sich auf einen Stuhl und lauschte in die Nacht hinaus in Erwartung des Schellengeläutes der zurückkehrenden Fuhrwerke. Seine Füße schmerzten nicht mehr, ihm war heiß geworden. Er ging auf den Bahnsteig hinaus. Unter dem überhängenden Dach pfiff der Wind und wehte ihm Schneewolken ins Gesicht …

Die Fuhrwerke kehrten zurück; es gelang ihm, alle Verwundeten unterzubringen.

»Alles fertig, fahrt ab!«

Schlitten und Wagen setzten sich in Bewegung. Die Schellen verklangen in der Ferne.

Aus dem Zuge ertönte eine helle Stimme, die im Winde erlosch:

»Halt, wartet! Einer ist noch zurückgeblieben – ein Schwerverwundeter!«

Da war guter Rat teuer. Vater Jewtichij trat heran.

»Nehmen Sie noch einen Mann und bringen Sie ihn auf einer Tragbahre hin. Er muß unverzüglich operiert werden.«

Vater Jewtichij überredete den Mönch, der Bahnhofsdienst hatte, ihm zu helfen. Sie wollten den Spuren der Fuhrwerke folgen, deren Schellengeläut zuweilen noch leise herüberklang.

Vater Jewtichij streifte den Lederriemen über die Schulter; durch den von Pferdehufen aufgewühlten Schnee stampften sie mit der Trage in den Wald hinein.

Der Verwundete, in seinen Mantel gehüllt – über die Decke hatte man auch noch seinen warmen Pelz geworfen – stöhnte dumpf.

An den Griff der Trage hatte Vater Jewtichij eine Laterne gehängt; das rote ovale Lichtauge der Laterne warf blutrote Flecke auf den Schnee. Kaum noch vernehmbar tönte das Schellengeläute in der Ferne, verstummte, erklang aufs neue. Ein Gedanke beherrschte die Tragenden – daß nur die Laterne nicht erlösche und das Schellengeläute nicht ganz verstumme.

Die roten Flecken auf dem Schnee zuckten und schwankten, aus einer Waldschneise fuhr pfeifend ein Windstoß; die Laterne erlosch.

»Vater Jewtichij, hast du Streichhölzer? …«

»Nein.«

»Warte, ich will mal nachsehen …«

Die Bahre sank tief in den Schnee, während der Mönch in seinen Taschen kramte.

»Keine da! Das kann schlimm enden!«

»Wir schaffen's schon …«

Sie hoben die Trage wieder auf. Bei der Erschütterung stöhnte der Verwundete …

»Wo sind wir jetzt wohl?«

»Die Schneise liegt nun schon weit hinter uns, bald müssen wir links abbiegen.«

Im Vertrauen auf ihren Ortssinn bogen sie nach einer Weile links in den Wald; weder war Schellengeläut zu hören, noch blinkten die Lichter des Lazaretts. Hände und Arme wurden starr, die Füße schwer und steif, mühsam schleppten sich die beiden vorwärts, das Empfinden der Zeit entschwand …

 

Im Lazarett stellte inzwischen der Chefarzt bei der Durchsicht der Listen fest, daß ein Mann fehlte, ein Schwerverwundeter.

»Der Leutnant Wladimir Belopolskij fehlt. Soll operiert werden!«

Sina hörte den Namen ihres Bruders; sie waren einander entfremdet, aber die Blutsbande und das Mitgefühl mit dem Leidenden erhoben ihre Stimmen.

»Herr Doktor, um Gottes willen, schicken Sie Leute hin, um ihn holen zu lassen …«

»Ist Leutnant Belopolskij Ihr Bruder?«

»Ja, aber es handelt sich nicht darum, es handelt sich um einen Schwerkranken.«

Erregung bemächtigte sich der Schwestern, alle erboten sich, Sina zu begleiten.

Auf einem zweirädrigen Wagen, mit Laternen ausgerüstet, hastete Sina mit einigen Mönchen nach dem Bahnhof. Hier erklärte ihnen der diensthabende Beamte:

»Sie haben ihn auf einer Bahre fortgetragen, der Arzt des Zuges wollte es so. Der Leiter der Sanitäter und der Mönch vom Bahnhof trugen die Bahre.«

Zurück ging's, im Schritt, zu beiden Seiten des Weges wurde der Schnee mit den Laternen nach Spuren abgesucht; über den roten Lichtstreifen dunkelten die schwarzen Kutten der Mönche und Sinas schmale Gestalt. Ihr Bruder und Vater Jewtichij befanden sich in Lebensgefahr – da waren sie ihr nah und teuer wie nichts anderes auf der Welt.

Die Spuren waren halb verweht, es sah aus, als wären die Tragenden auf den Knien gekrochen und oft gestürzt.

»Macht schnell, macht schnell! Sie können erfrieren.«

Fast unmittelbar am Kloster, hinter den Herbergen, hörten sie ein Stöhnen. Die Bahre war kaum noch sichtbar im Schnee. Der Mönch und Vater Jewtichij hatten erschöpft haltgemacht, um sich zu erholen, sich vor Müdigkeit in den Schnee gesetzt. Stunden waren vergangen, der Wind hatte sie in Schneemassen gehüllt.

»Tragt die Bahre ins Lazarett, die Mönche auf den Wagen!«

Die Laternen warfen schwanke Lichtstreifen ins Dunkel, die Bahre wurde emporgehoben; der Verwundete stöhnte wieder.

»Tragt ihn dem Wagen nach … Den Wagen her!«

Wie Weiberweinen knarrten die Räder im Frost, die Pferde versanken bis an den Hals im Schnee …

 

Sinas schmale Finger rissen behutsam dem Bewußtlosen die schweißdurchnäßte und dann hartgefrorene Wäsche vom Leibe, mit Spiritus rieben ihre Hände lange, unermüdlich den abgezehrten Körper des Mönches, bis seine Augen sich halb öffneten und das Bewußtsein zurückkehrte. Vater Jewtichij zuckte zusammen, in Stößen jagte das Blut durch seine Glieder, sein Körper bekam einen rosigen Hauch.

Unter dem weißen Häubchen war ihr eine Locke in die Stirn gefallen, schwebte über den struppigen Augen, die ihn heiß und selbstvergessen anschauten.

Er erkannte sie und wandte den Kopf ab in quälender Scham.

Die Stimme des schwarzen Mönches ertönte neben ihr.

»Lieg still! Gehen Sie, Schwester.«

Sina wußte nur eins: Sie mußte ihn retten, dem Leben zuführen, wünschte es so heiß, daß ihre Augen glühten; sie sah in ihm weder den Mönch Vater Jewtichij noch den Studenten Boris, sie fühlte nur, es war ein Kampf um Leben und Tod; selbst die Sorge um ihren Bruder trat im Augenblick zurück.

 

Vater Polykarp zog ihm frische Wäsche an, heizte den Ofen, ließ Wein und Tee bringen.

In der Nacht klapperten ihm die Zähne, er konnte sich nicht erwärmen, zog die Decke bis ans Kinn. Scham und Verzweiflung quälten ihn. Erst am Morgen schlief er ein, warf sich im Schlaf im Bette hin und her, redete irr, kam flüchtig zu sich, sank wieder in Fieberdelirien. Die Vergangenheit erstand, zog heran aus weiter Ferne, erwachte in verborgenen Winkeln des Hirns zu phantastischem Dasein, daß sein Herz aufzuckte wie unter Nadelstichen.

»Bringt meinen Sohn, bringt mir meinen Sohn her … Sie soll ihn bringen … Zu dem Weisen! Werft nicht mit Steinen nach meiner sündigen Seele … Sie hat die Weihen empfangen … und ist gestorben, gestorben! …«

Vater Polykarp lauschte auf die Worte des Fiebernden, warf Sina finstere Blicke zu; er selbst hatte sie wieder geholt, nachdem er dem Kranken frische Wäsche angezogen hatte.

Er sah ihr durchdringend in die Augen, fragte:

»Er hat ein Kind? Sind Sie …?«

Sina verstand nicht, sah ihn fragend an.

»... die Mutter, von der er spricht?«

Ihr war, als hebe er die Hand, die einen Stein hielt, zuckte zusammen, flüsterte, die Hände über der Brust gefaltet:

»Nein, o nein, ich bin es nicht! … Ich bin verlobt … Fragen Sie ihn nachher selbst, quälen Sie mich nicht! Er wird es Ihnen selbst sagen. Wir müssen ihn retten, retten …«

»Bestellen Sie: ich ließe den Arzt noch einmal bitten. Wachen Sie über sein Leben.«

 

Mehrere Tage lang lag Vater Jewtichij bewußtlos in seiner Zelle. Sein Gesicht war spitz und hager geworden, seine Augen riesengroß; wachsbleich, hilflos lag er da. Am Tage saß Vater Polykarp oft bei ihm und wurde von Sina abgelöst. Sie schlief fast gar nicht mehr; wenn sie durch Soßja am Bett ihres Bruders abgelöst war, eilte sie an das Lager des Mönches, wachte die Nächte durch, bald hier, bald dort. Sie atmete auf, als sich herausstellte, daß es nicht nötig sein würde, das Bein ihres Bruders abzunehmen, und widmete sich jetzt noch eifriger der Pflege des kranken Mönches …

Schließlich kehrte das Bewußtsein zurück, Vater Jewtichij bewegte die ausgetrockneten, blutlosen Lippen; sie richtete seinen Kopf auf, gab ihm zu trinken, er blickte sie an – wiedererwachendes Leben sprach aus seinem Blick –, kraftlos schloß er die Augen, fragte, schon wieder halb bewußtlos:

»Du, Fenja?!«

Dann sank er in Schlaf, in den langen traumlosen Schlaf des Genesens.

Am nächsten Morgen erkannte er Vater Polykarp, streckte ihm die Hand entgegen.

»Mein Lehrer …«

Vater Polykarp segnete ihn, zog seine Hand zurück, die der Kranke küssen wollte.

»Du gehörst dem Leben, und das Leben gehört dir …«

Vater Jewtichij stellte keine Fragen, sprach nicht, nur langsam schritt seine Genesung vorwärts. Am Tage besuchte ihn Vater Polykarp, am Abend kam Sina.

»Soll ich Ihnen nicht etwas vorlesen?«

»Bitte, das Evangelium …«

Er lauschte aufmerksam, vieles empfand er anders. Zuweilen war ihm, als lese die kleine Fenja ihm vor, dann machte er sich Vorwürfe, dachte: Darum hat mich der Herr gestraft …

 

Am Abend des Unglückstages fand Arischa Schwester Sina nicht in ihrem Zimmer. Im Gang trat der Herbergsvater Mißail auf sie zu.

»Was willst du hier?«

»Ich komme wegen der Milch zu Schwester Sina …«

»Mach', daß du fortkommst, hast hier nichts zu suchen. Wenn was nötig ist, wird man zu dir kommen …«

Der Abt hatte ihm vertraulich zugeflüstert: »Wirf sie raus, stört hier nur und bringt Schande über einen …«

Nikolka hoffte Soßja zu gewinnen. Infolge der langen Enthaltsamkeit gärte sein Blut, wollüstige Bilder verfolgten ihn, das blonde Mädchen neckte ihn im Traum und im Wachen, aber nun durfte er sich in der Herberge gar nicht blicken lassen, da ja Vater Polykarp immer bei diesem Jewtichij hockte.

Er fragte Vater Mißail:

»Was macht der Schwarze in der Herberge?«

»Sitzt immer bei Jewtichij, und des Nachts wacht die Schwarze bei ihm, starrt ihn an. So'n schamloses Geschöpf – reibt seinen nackten Körper mit Spiritus ein und wird nicht einmal rot dabei – keine Spur!«

»Hast du das gesehen? …«

»Das Fenster ist ja nicht verhängt.«

Nikolka rieb sich vergnügt die Hände.

»Wenn du was bemerkst, so sag' es mir …«

»Jewtichij hat ja ihren Bruder vom Bahnhof hergebracht, jetzt heißt es, er habe ihm dadurch das Leben gerettet. Die Soldaten reden begeistert von ihm, dem Lüstling, nennen ihn einen Helden … Die Karcevskaja macht sich jetzt bei diesem, dem Bruder der Schwarzen, niedlich …«

Der Abt ballte heimlich die Fäuste – da hatte sie ihn entflammt, mit ihm gespielt, und jetzt machte sie sich noch mit diesem Offizier über ihn lustig!

Das Gerücht verbreitete sich im Kloster:

»Den entlaufenen Studenten zieht die Schwarze nackt aus und reibt ihm den Leib mit Spiritus ein, hast du schon gehört, Vater?«

»Und der Schwarze ist auch dabei, der Scheinheilige! Welch ein Ärgernis! …«

 

Auf das Vorwerk kam Schwester Karcevskaja mit der Ordre.

»Schwester, sagen Sie mir bitte, ist es wahr, daß Schwester Sina etwas zugestoßen ist?«

»Der Schwester Belopolskaja? Ihr Bruder liegt schwer verwundet im Lazarett, er wäre um ein Haar im Walde erfroren.«

Arischas Knie wankten, sie fragte im Flüsterton:

»Belopolskij ist ihr Name? Er … ist ihr Bruder?! …«

»Wußten Sie das denn nicht?«

Arischa sagte gleichgültig, als ginge sie die Sache nicht viel an:

»Es sind ja viele Schwestern da, und ihr alle lauft in Weiß herum, eine sieht aus wie die andere … Ich habe immer Schwester Sina gesagt, ihren Familiennamen kannte ich nicht …«

 

Arischa verbrachte bange Tage; sie hätte jeden fragen mögen, wie es ihm, ihrem Wladimir, gehe, ob er wohl mit dem Leben davonkomme, hätte jeden anflehen können, sie zu ihm zu bringen – nur einmal wollte sie ihn wiedersehen, nur einen kurzen Blick auf ihn werfen … Schlaflos lag sie die Nächte in ihrem Bett, das Kind wurde ihr zur Qual. Seine Streiche, sein Lachen, sein Lächeln – alles erinnerte an seinen Vater, sie mochte ihn gar nicht ansehen. Die alte Mutter Arefia machte ihr Vorwürfe:

»So nimm dich doch deines Jungen an … Ganz verwahrlost läuft er umher! … Was kann denn das unschuldige Kind dafür …«

»Nimmt sich sein Vater denn meiner an?! Kommt er auch nur einmal her? …«

»Er ist Abt, Mönch … Du hast ihn durch das teuflische Blendwerk deines Leibes verführt …«

»Eine Qual ist das alles, eine Qual! …«

»Bist selbst daran schuld, meine Liebe, bist selber schuld daran …«

Die Alte wackelte seufzend mit dem Kopf, ging in ihre Zelle, nahm auch das Kind mit.

 

Das große Frühlingstauen hatte die weißen Mützen von den Fichten gestreift, im Sonnenschein rieselten Bächlein, braune Inselchen blickten hervor und krauses Moos. Frühmorgens war alles in Nebel gehüllt, gegen Mittag stiegen aus dem Walde Wolken zum Himmel wie weiße Vogelschwärme. Unter den warmen Sonnenstrahlen dunstete die Erde, glänzte golden die Rinde der Kiefern, strömte Harzgeruch durch die Luft.

Aus der Tür der Herbergen humpelten Genesende an Krücken, graue Soldatenmäntel und ein Mönch in schwarzem Käppchen hockten auf den Treppenstufen und wärmten sich an der Sonne, und das Grabgeläut, das die entschlafenen Kameraden zur letzten Ruhe geleitete, klang den Überlebenden wie das Jubellied des Lebens. Auf den Bänken an der Mauer glitzerten die Achselstücke von Offizieren, und in diesen goldenen Strahlen schmolz das Herz der Schwester Karcevskaja und ihrer Freundinnen.

Schwester Sina führte Vater Jewtichij in den Sonnenschein hinaus. Der schwarze Mönch kam vorüber, setzte sich zu ihnen.

 

Gegen Abend lebte es sich lustiger im Lazarett. Wenn die Oberschwester nicht da war, guckten in den Offizierszimmern kecke Löckchen unter den Häubchen hervor – blonde Ringellöckchen an Wladimirs Bett … Wie, wenn dies endlich Soßjas langersehnter Bräutigam wäre?!

Vater Jewtichij flüsterte in seiner Zelle hilflos dem Lehrer zu:

»Nehmen Sie mich zu sich in meine alte Zelle, fort von hier …«

»Du willst vor dem Leben fliehen?«

»Der Herr hat mich gestraft!«

»Er wies dir den Weg!«

»Ich will meinem Gelübde treu bleiben, auch wenn es ein Opfer ist! … Beten will ich … und büßen …«

»Wenn du die Hilfe der irdischen Ärzte verschmähst, wird dir der himmlische nicht helfen, dein Opfer nicht annehmen! Werde zuerst wieder gesund!«

 

Schwester Sina ging wieder mit der Milchordre zu Arischa auf das Vorwerk hinaus.

Die junge Nonne war ganz schmal geworden, hatte Sommersprossen um die Augen, die dunkel leuchteten, und das rotblonde Haar unter dem Tuch schimmerte wie Sonnenstrahlen.

Arischa bat Schwester Sina in ihre Zelle und brach in Tränen aus.

»Arischa, was haben Sie?«

»Sie sind in Sorge, Schwesterchen; ich habe davon gehört … Ihr Bruder soll so schwer krank sein.«

»Es geht ihm jetzt besser. Aber warum nehmen Sie sich das so zu Herzen?«

»Ich habe Sie so liebgewonnen, Sina, als wären Sie mein leibliches Schwesterchen, Ihr Leid lastet schwerer auf mir als mein eigener Kummer, darum bin auch ich um Ihren kranken Bruder in solcher Sorge … Gern würde ich seine Qualen auf mich nehmen …«

Weinend griff sie nach Sinas Händen, um sie zu küssen; Sina wehrte ihr ab.

»Dürfte ich ihn nicht einmal sehen? … Damit ich doch weiß, wie Ihr Bruder aussieht …«

»Kommen Sie doch einen Abend zu mir, Arischa … Aber mein Bruder ist ganz anders als ich. Wir sind uns fremd …«

»Ach nein, Schwesterchen – Sie merken es wohl nur nicht immer, wie teuer er Ihnen ist … Ich soll aber nicht in die Herberge kommen, der Vater Abt hat es verboten.«

»Dann komme ich einmal am Abend her, wenn es ihm besser geht, und hole Sie ab.«

»Ich danke, ich danke Ihnen, Schwesterchen, liebes Schwesterchen!«

Sina dachte bei sich: Da sagen die Menschen, ich sei sonderbar, aber auch diese junge Nonne ist zuweilen sonderbar, und so wird es wohl mit jedem stehen – die Menschen scheinen uns immer sonderbar, wenn sie ungehemmt der Stimme ihres Herzens folgen …

Ihren Bruder liebte sie nicht, traute ihm nicht, haßte ihn sogar, seit sie einmal Andeutungen darüber gehört hatte, daß er als Student ein junges Mädchen verführt und dann treulos verlassen habe. Sie war auch nach dem Tode der Eltern zuweilen in ihr Vaterhaus eingekehrt, aber das Zusammenleben mit ihrem Bruder hatte niemals lange gewährt.

»Na, was für Hirngespinsten hängst du jetzt nach, Sinotschka?« pflegte er spöttisch zu fragen.

»Du hast nichts als Hohn und Spott für die leidende Menschheit übrig, Wladimir!«

»Was sollte ich denn deiner Meinung nach tun – Vorlesungen von Sozialisten besuchen, oder mich über das Schicksal der Verbannten aufregen? Die werden dich einst bis auf die letzte Kopeke ausrauben, unseren Landbesitz unter den Bauern aufteilen, dann werden wir uns als Knechte bei ihnen verdingen müssen. Und Euer Gnaden gibt sich redlich Mühe, das mit hoheitsvoller Miene mit herbeizuführen! Zum Dank wirst du dich einst bei den sauberen Genossen als Aufwartefrau betätigen dürfen!«

»Wenn es wirklich so kommt, will ich auch das tun.«

»Ja, ja, du bist zu allem fähig! Verrücktes Mädel!«

Verletzt war Sina nach solchen Zusammenstößen wieder zu Frau Kostizina übergesiedelt und dann, nach dem Tode der unglücklichen Frau, Krankenschwester geworden.

 

Schwester Karcevskaja führte den Leutnant Belopolskij in den Sonnenschein hinaus, plauderte lustig und ohne Unterlaß, klapperte mit den Augen, suchte ihn zu berühren, leise und zärtlich; ihre gefärbten Lippen glühten warm und aufreizend wie Mohn.

Sie lief zu Sina ins Zimmer, umarmte sie, sagte erregt:

»Wie bezaubernd Ihr Bruder ist! … Seien Sie mir nicht bös, Sina, aber ich bin bis über die Ohren in ihn verliebt!«

Sina schwieg.

Als der Frühling kam, machte Wladimir seine ersten Gehversuche, ohne Krücken – in Soßjas Zimmer. Durch die dünne Zwischenwand hörte Sina Lachen, Küsse, Getümmel, floh aus ihrem Zimmer in Vater Jewtichijs Zelle und blickte stumm auf das in Andacht versunkene Gesicht des Kranken.

Eines Abends warf Sina einen warmen Schal um ihr Häubchen und lief zu Arischa auf das Vorwerk.

Der Himmel schimmerte in mattem Grün, im Walde duftete es köstlich nach Tannen, die Mondsichel hatte sich in einer Baumkrone verfangen, kam nicht mehr los und blickte hilflos herab.

Die Kühe brüllten, Milcheimer prallten rasselnd aneinander, es roch nach kuhwarmer Milch und Dung.

»Ich komme Sie abholen, Arischa, wie ich versprochen habe …«

Sie nahm Arischa an die Hand …

Der jungen Nonne war, als ginge sie auf einen Friedhof. Und es ging doch zu ihm, zu ihrem Wladimir! Sie wollte ja nichts von ihm, wollte ihn nur noch einmal sehen – mehr konnte sie ja jetzt auch nicht wollen. Die Erwartung machte sie schwach und hilflos. Sie wußte nicht, wie sie vor ihn hintreten sollte, wie ihn ansehen; er sollte nicht denken, sie käme, um ihm Vorwürfe zu machen! Sie wußte aber, warum sie hinging, sie wollte einmal noch ihr entschwundenes Glück wieder auferstehen lassen, sich auf einen Augenblick von allem befreien, alles von sich streifen, was nachher gekommen war! Ihr schien, daß sie ihn nur anzusehen brauchte, und ein Gefühl erlösender Freude und warmer Dankbarkeit für das Einst würde sie ihr Leben lang nicht mehr verlassen. Zum letzten Mal im Leben würde sie ihn sehen und diesen Augenblick festhalten auf immer …

Der kleine Wandteppich lebte plötzlich – aus jedem Fädchen blickte ihr ihre Jungmädchenseele entgegen.

Sie sah ihn mit einem verlorenen Lächeln an, richtete scheu die Augen auf Sina, kämpfte einen Augenblick mit sich, sagte:

»Da hängt noch immer mein kleiner Teppich! Ich hatte zuerst gemeint, Sie hätten ihn von Ihrem Verlobten zum Geschenk erhalten … Ich freute mich darüber – ich liebe ja nicht nur Sie, Schwesterchen, ich liebte einst auch den, dem ich diesen Teppich gestickt habe …«

»Sie, Arischa, Sie haben diesen Teppich für meinen Bruder gestickt, Sie waren das?!«

»Ja, Sina, ich … Ich brachte ihm das Sticken bei und habe dann die Arbeit beendet …«

Sina erinnerte sich – sie war damals noch ein kleines Mädchen gewesen –, wie ihre Mutter Wladimir Vorwürfe gemacht, ihn beschworen hatte, »die Arme« durch seine Liebe nicht unglücklich zu machen.

Dem jungen Mädchen schoß das Blut in die Wangen, ihre Augen funkelten böse.

»Auch das Kind ist sein?«

Bitter und weh stieg es in Arischa auf – die Freundin, Blut, Kindeswimmern und die Nacht der Bewußtlosigkeit … Sie brach in Tränen aus. Hinter der Wand erklang Soßjas Lachen und eine Männerstimme.

»Nein, Fräulein, das Kind ist nicht von ihm … Jenes starb gleich nach der Geburt, nur einen Augenblick habe ich sein schuldloses Weinen gehört … Dieser ist hier geboren, jener im Nonnenkloster, und dort ist mein Kleiner auch gestorben …«

Sina wandte sich um, hämmerte ungestüm gegen die Wand, rief:

»Wladimir, komm her!«

Das Lachen brach ab, eine unzufriedene Stimme sagte mißmutig: »Wieder Hirngespinste!«

Leutnant Belopolskij trat ein.

»Was willst du von mir?«

»Weißt du, wer das ist?«

In seinem Gedächtnis tauchte ein Gesicht auf, er löschte es aus, furchte die Brauen und sagte mit derselben mißmutigen Stimme:

»Was willst du von mir, Schwester?«

»Du kennst sie nicht mehr? Wer hat dir den Wandteppich gestickt? Du weißt es nicht mehr? Wo ist dein Kind? Das weißt du auch nicht? Frage sie! Arischa, sagen Sie ihm, wo sein Kind ist!«

»Fräulein, Schwesterchen, quälen Sie sich nicht! Ich wollte ihn ja nur einmal wiedersehen, ihn nur einmal anblicken! Ich wußte damals, was ich wagte, ich wollte es aber so, ich wollte einmal im Leben glücklich sein! … Jetzt brauche ich nichts mehr von ihm. Nur sehen wollte ich ihn noch einmal!«

Arischas Stimme klang bittend und klagend. Sie hatte den Leutnant wirklich nur einmal angesehen und darauf den Kopf gesenkt.

»Er kommt von dem feinen Fräulein nebenan, sie ist jung und hübsch – ich werde mich freuen, wenn er mit ihr glücklich wird.«

»Hm, ich hätte eigentlich nicht erwartet, in einem Männerkloster eine Nonne zu finden …«

»Wladimir! Ich bin deine Schwester nicht mehr. Geh!«

»Wieder mal Hirngespinste, Sinotschka!«

 

Hinter der Zwischenwand flüsterte es: »Sie ist verrückt, war es immer – setzt sich was in den Kopf und glaubt nachher selbst an den Unsinn …«

»Schwester, aber weinen Sie doch nicht! Ich bin ja schuld an allem, es war so töricht von mir, Sie um diese Zusammenkunft zu bitten …«

»Für ihn ist der Mensch ein Insekt, und sein Herz ist wurmstichig. Warum ist er gerade hierher gebracht worden! …«

»Um meinetwillen quälen Sie sich jetzt – daß es Ihnen nicht leid tut um Ihre samtenen Augen, um Ihre lichte Schönheit … Ach, ich schamloses Ding! Herkommen mußte ich, sehen mußte ich ihn! … Vergeben Sie mir, verzeihen Sie mir! …«

Beruhigend sprach Arischa auf Sina ein, schlicht und innig, ja sie ging erst, als Sina, ihrem Drängen nachgebend, sich entkleidet hatte und ins Bett geschlüpft war.

Als Vater Mißail die Tür hinter Arischa schloß, zischelte er:

»Alles will ich dem Abt erzählen, alles – in allen Einzelheiten!«

 

Schwester Sina war zusammengebrochen. Sie lag in ihrem Bett und hörte nichts mehr von dem Lachen, dem Getümmel, dem Geflüster nebenan. Seit dem Tage, da man Wladimir ins Lazarett gebracht hatte und Vater Jewtichij erkrankt war, hatte sie vergessen, daß auch sie nur ein schwacher Mensch war, ihr eigenes Leben war entwichen, entschwunden, ohne daß sie es empfunden hatte … Wochenlang hatte sie fast nicht geschlafen, wochenlang an zwei Krankenbetten gewacht und gebangt … Nun hörte sie nicht mehr, daß der März klingend durch den Wald zog, duftendes Harz von den Bäumen tropfte …

Dann stand sie wieder auf, schwach und verloren, bemerkte nicht, daß die Mönche im Kloster scheu und still geworden waren, sich in ihre Zellen zurückgezogen hatten.

Nikodims Briefe wurden immer kürzer, er schrieb, daß er in einer Kriegsschule sei, keine Zeit habe, ausführlicher zu schreiben. Dann hörten seine Briefe ganz auf. Sina half jetzt im Verbandzimmer, tat automatisch ihre Pflicht, sah nicht die veränderten Gesichter der Soldaten, bemerkte nicht, daß im Lazarett ein Soldatenrat waltete und daß immer seltener der Grabgesang der Mönche einen Entschlafenen auf den Friedhof geleitete.

 

Schwester Karcevskaja – ihre Augen waren verweint – brachte Sina einen Zettel von ihrem Bruder:

»Du kannst dich freuen und noch verrückter werden – ich habe Urlaub erhalten und fahre auf unser Gut. Deine Sozialisten haben eine Revolution vom Stapel gelassen, bei der du wohl bald Aufwartefrau sein wirst.«

Sie verstand nicht, was er meinte; verletzt fragte sie Soßja mit müder Stimme:

»Ist es wahr, daß er fortgefahren ist? Nun wird er mich nicht mehr quälen!«

Auf Anordnung des Chefarztes widmeten die Oberschwester und Schwester Karcevskaja der kranken Sina besondere Aufmerksamkeit. Der Arzt wiederholte immer wieder:

»Bitte sorgen Sie dafür, daß Schwester Sina möglichst viel an der frischen Luft ist!«

Soßja führte sie im Walde spazieren, ging geduldig neben ihr einher, wußte nicht, worüber sie mit der Schweigsamen reden sollte.

Die Mönche flüsterten:

»Die ist verrückt geworden, total verrückt!«

»Hat sich in den ausgerissenen Studenten verliebt, den Lüstling!«

»Ihren leiblichen Bruder hat sie aus dem Lazarett hinausgeworfen um der Viehmagd willen … So sind sie, die Weiber, so sind sie alle …«

»Ja, ja, die Studenten stecken überall dahinter – unserer hat sich jetzt wieder bei dem Schwarzen eingenistet …«

»Bei den Reliquien hockt er jetzt – man darf gar nicht an ihn heran … Sitzt da mit der Miene eines Heiligen – in Stücke müßte man ihn zerreißen – Herr, vergib!«

 

Aus der Stadt wurden Schwerverwundete herübergeschafft, die eine lange Kur brauchten; hier draußen lagen sie ruhiger.

Die Zeitungen kamen unregelmäßig und mit großer Verspätung im Lazarett an. Die Mönche fingen sie auf dem Bahnhof ab und verbargen sie; sie meinten, es sei alles nur ein kurzer Zwischenfall, der Zar hatte gewiß nur zum Schein dem Thron entsagt, um nachher die Gottesleugner, die sich gegen ihn erhoben hatten, mit seinem Zorn zu schlagen und mit seinem gerechten Gericht zu strafen.

Vater Polykarp schwieg und verfolgte eifrig die Wirtschaft. Dem Abt erklärte er:

»Wir wissen nichts; wir wissen weder Tag noch Stunde, da des Menschen Sohn kommen wird; wir müssen zu allem bereit sein und wachen wie die klugen Jungfrauen. Und die Bruderschaft muß für sich selbst sorgen.«

»Was wird denn nun werden?«

»Die Bruderschaft muß mit eigenen Kräften einen großen Gemüsegarten anlegen. Vor allem geben Sie gut acht auf die Wirtschaft. Sie sind der Hausvater, auf mir ruht die Sorge um das Lazarett.«

 

Die Klostertore wurden des Abends früh geschlossen; hinter den Steinmauern liefen die schwarzen Ameisen geschäftig umher. Wieder wurden ununterbrochen Andachten gehalten, und die alten Mönche verließen fast nicht mehr die Kathedrale.

Während der Messen wurde wie früher für die Gesundheit des Zaren Nikolai gebetet, und erst als der Soldatenrat des Lazaretts gemeinsam mit dem Chefarzt dem Abt Vorstellungen gemacht hatte, wurden statt der Fürbitte »für das Wohl des Herrscherhauses« die Worte »für das Heil des Russischen Reiches« gesungen.

 

Als die Maisonne einsetzte, warme Hauche durch den Wald zogen und die Wipfel der Fichten leise rauschten, erholte sich Sina wieder und half aufs neue der Oberschwester.

Noch ein Zettel kam von Wladimir, wurde aber auf Anordnung des Arztes dem jungen Mädchen nicht ausgeliefert; auf dem Zettel stand:

»Freue dich – die Bauern haben unser Gut zerstört und niedergebrannt –, du kannst dir jetzt eine Stelle als Aufwartefrau suchen.«

Sina gedachte des jungen Mönches; lange hatte sie Vater Jewtichij nicht gesehen; sie fragte Soßja nach ihm.

»Wo ist Vater Jewtichij?! Ist er jetzt wieder ganz gesund? Wo ist er geblieben?«

»Er wohnt bei dem schwarzen Mönch …«

Eine Schwester fügte hinzu:

»Am Tage sitzt er in der Kathedrale bei den Reliquien.«

Die mittlere Glocke rief zur Abendmahlzeit. Sina ging ins Kloster, sie wollte Vater Jewtichij sehen. Als sie durch die heilige Pforte schritt, warf der Pförtner Vater Awraamij einen mißmutigen Blick auf das weiße Häubchen der Schwester und murmelte zornig:

»Bis um Mitternacht treiben sich die hier umher!«

Aus der Kirchtür trat ein Skimnik, ein hochgewachsener Mönch, rasselte mit einem Schlüsselbund, schloß, als Sina gleich wieder herauskam, die gußeiserne Tür. Im Gänsemarsch zogen die Mönche aus ihren Zellen über den Klosterhof nach dem Speisesaal.

Sina kehrte zurück. Soldaten standen auf den Stufen vor den Herbergstüren. Sangen Lieder. Tief in den Wald hinein rollte das Echo, die Fichten warfen es von Stamm zu Stamm und rauschten mit den Wipfeln.

Sina seufzte und sagte leise:

»Warum ist er hier?!«


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