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7. Buch.
Das Meer des Lebens


1

Die goldenen Haarsträhnen waren ihr ins Gesicht gefallen, die müden, tränennassen Hände hatte sie an die Stirn gedrückt – es waren dicke, ungestüm hervorquellende Tränen, die in dünnen Bächlein an den Händen hinabrieselten und auf den Handrücken ein scharfes Kältegefühl hervorriefen; allmählich aber ebbten die Tränen ab, die feuchten Handflächen schmiegten sich eng an das Gesicht, und ein seltsamer, leichter Schwindel ergriff sie. Mit den Tränen war auch das Gefühl der Bedrückung entschwunden; sie hatte geweint, weil sie allein geblieben war – vielleicht für immer, fühlte sie. Sie warf sich das Hemdchen auf die Knie, saß zusammengekauert, leise schaukelnd da – ihr Körper war noch nicht ganz erwacht, die Wärme des Schlafes wogte noch als warme Welle durch Herz und Seele; es war wie ein Schaukeln im Nachen der Seligkeit – unter der rosigen, heißen Hülle ihres Leibes empfand sie noch die durchdringende Nähe des Geliebten, der die ganze Nacht in ihrer Umarmung im Liebeskrampf gebebt hatte.

Die gelbe, fast goldene Sonne hing schon lange über den Dächern – die weiße Nacht hatte sie nicht ins Meer sinken lassen, und die erste Straßenbahn, die durch die Straße ratterte, hatte die kleine Fenja geweckt. Allmählich kam es wie ein zweites Erwachen über sie; verständnislos ließ sie die Blicke durch das Zimmer schweifen; da erstand die Erinnerung, sie sprang vom Bettrand auf, warf die Haare zurück – die Blumen, ihre Liebesgabe an Boris, standen noch immer auf dem Tisch, doch das Bild seiner Braut war verschwunden; vor dem Lehnstuhl am Schreibtisch lagen auf dem Fußboden der weiße Fleck ihrer Wäsche und ihr Kleid; die schwarzen Schuhchen waren hilflos auf die Seite gekippt. Hastig streifte sie das Hemd über, raffte ihre Sachen zusammen, schloß Boris' Zimmertür ab und lief über den Gang in ihr eigenes, gegenüberliegendes Zimmer. Sie warf die Sachen auf den Diwan und streckte sich lang in ihrem Bette aus – das feine, frische Linnen wirkte beruhigend; zuerst war sie zwar unter der kühlen Berührung zusammengeschauert, dann aber verschränkte sie die Arme unter dem Kopf, schloß die Augen und fühlte wonnig, wie aufs neue Wärme durch ihre Glieder strömte und auch die Laken warm wurden. Sie empfand noch immer ein leises träumerisches Schaukeln in der Seele, doch leicht und gleichmäßig hob und senkte sich die Brust, immer tiefer und voller atmend. Sie spürte den Geliebten noch in sich und wagte nicht, sich zu regen, um dieses Gefühl nicht zu verlieren. Langsam, noch schlafbefangen, flüsterte sie ihre Gedanken vor sich hin, und ihr erster Gedanke war, daß sie durch den unbefleckten Geliebten ihre reinigende Erlösung empfangen hatte. Nicht er, ihr Erleben und ihr Verlangen hatte diese Stille geboren, der sie noch in ihrem Pulsschlag nachlauschte. Die Spannung, mit der sie ihr Glück genossen hatte, wortlos jede Bewegung seines Leibes in sich schlürfend, war in die Tiefe gesunken, ins innerste Herz, als nimmer erlöschende Liebe. Sie sah ihn nicht in Gedanken vor sich, sie spürte Boris in sich – mit seiner Sehnsucht nach seiner gestorbenen Braut, seinen gespannten Augen, seiner leisen, singenden Stimme.

 

Ihm würde ihre Liebe gehören ihr Leben lang, das wußte sie, ihm, der jetzt ins Unbekannte entwichen war, ihm, den sie nie würde herausreißen können aus Herz und Seele, aus Leib und Blut, aus dieser geheimnisvollen Tiefe, wo das Glück wohnt. Und der andere, Nikodim? Die ersten Schritte ihres selbständigen Lebens waren mit ihm verknüpft, gemeinsam mit ihm hatte sie gehofft, den Weg zu ihrer Zukunft zu finden, und nun war er ihr wert und teuer und unentbehrlich wie ein Bruder, ein Freund und mehr noch wie ein großes Kind, das dem Leben hilflos gegenübersteht. Er besaß ihr ganzes Mitgefühl in seinem Unglück, sie mußte ihm helfen, mußte dafür sorgen, daß er zu essen und zu trinken hatte, auch für seine Kleidung mußte sie sorgen. In ihm, in Nikodim, war eine Kraft, die die Bedeutsamkeit ihrer Reinigung noch vertiefte. Oder täuschte sie sich hierin, war diese Kraft jetzt nicht vielmehr in ihr selbst? Ein Tag, eine Nacht, die ihr Wille ihr gegeben, hatten diese Kraft in ihr geweckt. Ihr müder Körper war still geworden, ihre Glieder frei und fest, und eine selbstsichere Ruhe hatte sie ergriffen. Ohne Hast kleidete sie sich an, brachte nach dem gestrigen lustigen Abend ihr Zimmer in Ordnung, und dabei fiel ihr ein, daß sie auch in Boris' Zimmer aufräumen müsse. Ihre Blumenspende stellte sie auf ihren Tisch, Boris' Wäsche, Anzüge, Bücher packte sie in seinen Korb, verschloß ihn, zog ihn in ihr Zimmer herüber und ging zur Wirtin.

»Smoljaninow ist heute früh nach Hause gereist.«

»So plötzlich? Er hat mir kein Wort gesagt …«

»Er hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, daß er sein Zimmer für das nächste Semester nicht mehr belegt. Er geht nach Moskau auf die Universität.«

Die Wirtin sah Fenja ein wenig sonderbar an, doch vor Fenjas ruhigem, entschiedenem Ton schwand ihr Mißtrauen, und sie sagte bloß, daß Smoljaninow ihr fünf Rubel schuldig geblieben sei.

»Ja, das hat er mir gesagt und mir das Geld für Sie gegeben, hier ist es. Mein Zimmer behalte ich auch für das nächste Semester …«

Dann sprachen ihre Studiengenossinnen Shurawlowa und Iwina vor, um zu erfahren, was sich zwischen Fenja und Boris abgespielt hatte.

»Wir sind von dir geradeswegs auf die Inseln gefahren und bis zum Morgen spazierengegangen, haben die aufgehende Sonne begrüßt …«

»Wir waren schon einmal da und wollten dich abholen …«

Shurawlowa konnte nicht länger an sich halten:

»Wo ist denn Boris?«

»Nach Hause gereist …«

»Was?!«

»Heute früh ist er abgereist, einen Teil seiner Sachen hat er mir bis zum Herbst in Verwahrung gegeben.«

»Ach, und wir dachten, wir würden dir gratulieren können! …«

»Ihr seid kleine Schwärmerinnen! Ja, ich muß herausbringen, wohin Petrowskij verschickt worden ist. Karpow wird es wohl wissen.«

Fenjas ruhige Stimme und die Gleichgültigkeit, mit der sie von Smoljaninow sprach, machten die Freundinnen irr. Walja Shurawlowa war bereits vor einigen Stunden dagewesen, hatte in Smoljaninows Zimmer geblickt – die Tür war von innen nicht verschlossen gewesen –, die Unordnung im Zimmer bemerkt, Fenja nackt und allein in Smoljaninows Bett liegen sehen, nun war sie wie vor den Kopf gestoßen. Hatte sie sich geirrt? Verwirrt starrte sie Fenja an, scheute sich aber Fragen zu stellen und begann hastig zu sprechen.

»Karpow wird seine Adresse schwerlich wissen, aber er kann dir behilflich sein, sie bei seinen Kollegen zu erfragen. Wenn du willst, laß uns zusammen hingehen – man wird ihn zuerst aufrütteln müssen, er ist ein schrecklicher Bär wie alle Bergbaustudenten. Du willst also Petrowskij schreiben?! Ich hatte eigentlich angenommen, daß ihr bereits in Briefwechsel steht.«

»Gut, Walja, gehen wir zusammen zu Karpow. Ich muß noch heute Petrowskijs Adresse erfahren.«

Den Großen, dann den Kameneostrowskij-Prospekt entlang und durch den Sommergarten kamen sie auf den Newskij hinaus. Der lebhafte Menschenstrom, der ihr früher gleichgültig oder nur insofern von Interesse gewesen war, als sich Gelegenheit bot, vorübergehende Studenten mit den Augen anzublitzen, erschien Fenja jetzt in einem ganz anderen Licht. Sie meinte eine ihr noch unklare, aber strenge Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Menschen und Fahrzeuge zu spüren, dieses vielköpfigen mächtigen Wesens, und fühlte sich dabei kraft ihres Erlebens doch jedem Einzelnen, der ihr entgegenkam, überlegen und darum auch stärker als dies ganze vieläugige Wesen in seiner Einheitlichkeit. Das hatte ein einziger Tag, eine einzige Nacht vollbracht, da sie, nicht dem Wunsche eines anderen gefügig, sich demütig hingegeben, sondern selbständig dem Leben ihr Glück abgerungen hatte. Eine innere Wandlung, eine Wiedergeburt war erfolgt, hatte sie zu einem anderen Menschen gemacht; die Kraft, selbständig zu leben und sich ihr Leben selbst zu gestalten, indem sie ihre Leidenschaften beherrschte, war in ihr erwacht. Sie fühlte keine Furcht mehr vor einer Begegnung mit Afonka, die Erinnerung an ihre Vergangenheit war ihr nicht mehr peinlich; jetzt würde sie bei einer Zusammenkunft mit Petrowskij sich nicht mehr in der Erwartung eines unbekannten Glücks quälen, sondern wenn es darauf ankam, selber vom Leben nehmen, was sie im Augenblicke brauchte. Ihre großen Augen, durch die blauen Schatten der Nacht hinter ihr und den Frühlingshimmel über ihr vertieft, blickten über das Menschengewimmel hinweg, klar, von Lebenslust und Lebensmut durchstrahlt. Die goldenen Garben ihrer Haare wanden sich in zwei prallen Zöpfen kranzgleich um ihren Kopf, so wie Boris es träumerisch gewünscht hatte; unter dem grauen Hut mit dem weiten offenen Rande und dem breiten Bande guckte der Haarkranz hervor; ihre Bewegungen waren ruhig und sicher. Männeraugen folgten ihr, entzückt und erstaunt über ihre überraschende Schönheit. An der Fontanka-Brücke blieb ein Herr wie verloren stehen, hob die Hand an den steifen Hut und ließ sie verlegen wieder sinken; halblaut murmelte er ihr nach: »Gott, wie reizend!« Walja sah die Freundin immerfort an, wunderte sich im stillen über die mit ihr vorgegangene Veränderung und war entzückt über Fenjas neue Frisur, über die strahlenden vertieften Augen, als sähe sie Fenja zum ersten Male. »Fenja, du hast heute etwas ganz Besonderes an dir!«

»Ich habe heute Petersburg liebgewonnen, Walja. Etwas Besonderes ist diese Stadt, nicht ich. Früher sah ich sie nicht recht, aber die weißen, durchsichtigen Nächte haben ihr herbstliches Halbdunkel hinweggeweht, und die Stadt erscheint mir wie neu, ganz neu. Schade, daß Onkel Kirja nicht hier ist! Halt, weißt du, das ist ein Gedanke: Ich telegraphiere ihm, daß er herkommen soll … Ich will ihm Petersburg zeigen – das neue Petersburg!«

Karpow war verschlafen, erst halb angekleidet und äußerst verwundert über den frühen Besuch. Die jungen Mädchen zogen ihn auf die Straße hinaus und liefen zusammen mit ihm mehrere Studentenbuden ab, ehe sie schließlich einen Parteigenossen Petrowskijs aufstöberten, der seine Adresse kannte, aber sich weigerte, sie zu nennen.

Die kleine Fenja sprach hitzig auf ihn ein.

»Ich muß ihm schreiben, ich bin seine Braut – verstehen Sie das?«

»Warum hat er Ihnen dann nicht selbst seine Adresse gesandt? …«

»Wir haben uns gerade vor seiner Verhaftung gezankt, und da hat er wohl gemeint, es sei alles zu Ende zwischen uns und wollte aus Eigenliebe nicht schreiben. Ich muß ihm aber schreiben, es hängt sehr viel davon ab … Es ist sehr wichtig für ihn … Ich kann Ihnen doch das alles nicht erklären!«

Der in sich gekehrte, schweigsame Student musterte die kleine Fenja anfangs mißtrauisch mit gefurchten Brauen, als er aber die aufrichtigen, warm aufwallenden Töne in ihrer Stimme vernahm, holte er ein paar Briefe aus seinem Schreibtisch heraus und las einige Zeilen vor.

»Wenn Sie seine Braut sind, will ich Ihnen einiges vorlesen … Hier … er schreibt: ›Es ist unmöglich, hier irgendwelche Arbeit zu finden, vor allem im Winter, wir schlagen uns so durch. Im Herbst nährten wir uns von rohen Fischen, jetzt müssen wir zuweilen auch hungern … Hilfe tut not. Es gibt unter uns Schwindsüchtige, besonders unter den Frauen. Eine verschickte Sanitäterin hat drei Kinder mit, ist schwanger, wir bemühen uns allesamt, ihr zu helfen … Überhaupt, es ist grauenhaft … In meinem dünnen Studentenmantel friere ich.‹ Na, und so weiter, es folgen Parteiangelegenheiten.«

Während der Student las, stieg der kleinen Fenja das Blut ins Gesicht; nervös umklammerte ihre Hand den Griff des farbigen Sonnenschirms. Sobald sie die Adresse erhalten hatte, machte sie sich zusammen mit Karpow und Walja ungestüm auf die Suche nach einem Postamt, um an Petrowskij Geld aufzugeben. Sie bat Karpow, das Geld als Wertbrief von sich aus zu senden, schüttete aus ihrem Täschchen alles Geld, was darin war, auf den Schalter, brachte bei hundert Rubel zusammen, wovon sie eine kleine Summe zurückbehielt, und steckte das übrige in einen Umschlag, als ihr plötzlich ein Gedanke kam; hastig kaufte sie eine Postkarte und schrieb darauf: »Von einer Unbekannten«; die Karte steckte sie ebenfalls in den Umschlag und reichte diesen Karpow. Der Postbeamte starrte lange auf die Adresse des Absenders und die Karte mit den Worten »Von einer Unbekannten«, die er beim Zählen des Geldes herausgenommen hatte, erklärte, daß er sich das nicht zusammenreimen könne, willigte aber schließlich doch ein, den Wertbrief abgehen zu lassen, doch müsse er jede Verantwortung ablehnen, falls die Zensur am Empfangsort alles zurückschicken sollte.

Als Fenja die Quittung endlich in der Hand hatte, atmete sie erleichtert auf, und ihre Augen, die eine Weile ganz bekümmert geblickt hatten, strahlten wieder freudig.

»Jetzt gehen wir Mittag essen, alle zusammen … Ich habe genug Geld übrig.«

Mitten im Essen stand Fenja auf und verabschiedete sich von Walja und Karpow.

»Ich eile … Ich muß meinem Onkel vom Hauptpostamt ein Telegramm schicken … Lebt wohl!«

Auf dem Hauptpostamt verdarb sie mehrere Formulare, bis sie schließlich ein Telegramm fertig hatte, das eher einem Briefe ähnelte: »Mein lieber Onkel Kirja! Ich möchte Sie sehr, sehr gerne sehen. Sie müssen unbedingt herkommen, sonst würde – ich weiß nicht, was, aber etwas Schlimmes, ganz Schlimmes Ihrer kleinen Fenja zustoßen. Sie allein können da helfen. Ich erwarte Sie am Bahnhof. Ihre Nichte Fenja.«

Der Postbeamte, der das Telegramm in Empfang nahm, steckte verwundert den Kopf zu seinem Fensterchen heraus und lächelte der kleinen Fenja zu.

Jetzt eilte sie nicht mehr, machte sich zu Fuß auf den Heimweg, spürte keine Ermüdung. Ihr Gang war ruhig und gesetzt, die Füße traten fest auf den Asphalt, leicht federte der Körper, und die ganze Zeit über hatte sie das Gefühl, daß das Leben Freude sei, man müsse nur eben wirklich leben, und zwar nicht so, wie sie bisher gelebt hatte, gedanken- und hemmungslos sich jeder Neigung hingebend, sondern sich bei jedem Schritt auf sich selbst besinnen, seine innere Notwendigkeit erspüren, und sich erst danach zum Handeln entschließen. Man brauche sich nur daran zu gewöhnen, nachher würde es ohne Willensanstrengung vor sich gehen, der Entscheid da innen ganz von selbst fallen.

Längs dem Newakai ragten die Takelagen von Segelschiffen, die Umrisse von Dampfern aus dem blassen Licht des Maiabends mit der toll gewordenen, nicht mehr untergehenden Sonne hervor. Das neuerwachende, durchsichtige, geisterhafte Leben und Weben des Petersburger Frühlings, jungfräulich in seiner feinen Reinheit, erregte die kleine Fenja auf eine neue Weise – alles, was sie einst, sündig und leidend, erlebt hatte, war von ihr geglitten, rein geworden unter der Berührung des reinen Liebenden, und der weiße Abend schien nur ein Widerschein dieses Lebens und Webens in ihr zu sein. Fenja blickte lange auf die stahlfarbene Newa, auf die blassen Schattenbilder in der Tiefe der Fluten, die schwankten und entglitten, gestaltlos und unfaßlich, als sei alles ringsum von einem Hauch des Jenseits umweht, in die Tiefe gesunken, einen leisen Lichtschimmer auf den Fluten hinterlassend. Und Fenja hatte das Empfinden, als sei das auch in ihr, so als wäre ihr ganzes früheres Leben – vom ersten aufglimmenden Verlangen bis zum Fall – in der Tiefe versunken, und wie der Lichtschimmer einer Märchengestalt, er, der Reine, allein in ihr verblieben. Von ihm ging dieses Licht in ihr aus, das nicht erlöschen wollte, nie erlöschen würde, und Seele und Körper mit freudiger Ruhe durchstrahlte. Darum schien ihr, als wäre beides, Körper und Seele, ein einiger Guß aus edlem Metall, eine Verschmelzung von Liebe und Leben. Und als an den Masten und Rahen Lichter aufblitzten – grün, weiß und blutig rot –, erloschen die Schattenbilder in den Fluten, und flimmernde Brücken auf den Wellen waren wie unbetretene Pfade ins Unbekannte. Und die Menschen, die durch die weißen Nächte irre Augen hatten, schienen wie geisternde Wesen, die sich sehnten, diese glitzernden Wege über den irrlichternden Wellen des lautlosen Flusses zu beschreiten …

Ihr Zimmer schien ihr nicht mehr leer und einsam, und es tat ihr nicht mehr weh, daß im Zimmer gegenüber der leise, gleichmäßige Schall von Schritten – wenn Boris sich bei seiner Arbeit eine Ruhepause gönnte, pflegte er auf und ab zu gehen – nicht mehr ertönte. Sie holte Briefpapier und Umschlag hervor, wollte schreiben, spürte aber plötzlich den Druck des Rubins an ihrem Medaillon auf der Brust, zog es heraus und warf einen Blick auf Boris' Bild, fühlte ihn in sich, atmete tief und beruhigt, wußte: »Das ist für immer, niemand kann ihn mir nehmen« – denn er lebte ja in ihr, jedes Bluttröpfchen war er, jeder Gedanke er, jede Freude – Erlösung und Reinheit durch ihn. Sie war so sicher und in sich gefestigt, daß sie sein Bild nicht mehr wie früher küßte, sondern das Medaillon zuklappte – es gab einen kleinen Knacks – und der Rubin sank wieder auf ihre Brust.

Ihr Brief an Petrowskij war schlicht und klar und enthielt nichts Unausgesprochenes – sie redete ihn mit seinem Taufnamen, ohne Patronymikum, aber mit Sie an, wodurch der Brief noch geschlossener und aufrichtiger wurde.

»Nikodim, die ›Unbekannte‹ bin ich, Fenja. Jetzt sind Sie für mich ein Mensch, der einen treuen, ergebenen Freund braucht. Wir haben uns getrennt, ohne uns gefunden zu haben, und ich bin glücklich – es liegt nichts Ungesagtes, keine Leere, keine Eifersucht weckende Vergangenheit mehr zwischen uns. Sie und ich, Nikodim, leben in einem klaren und strengen Heute, und da muß jeder ringen und schaffen, ehrlich und einfach. Der Mensch ist sich selbst etwas Unbekanntes, er weiß nicht, vermag es nicht zu erkennen, was sein eigentliches Leben ist und welche Kräfte dieses Leben im Augenblick speisen. Darum wissen wir oft über uns selbst nicht Bescheid, geschweige denn andere, und sei es der nächste Freund. – Ihr Kollege hat mir heute einige Zeilen aus Ihrem Briefe vorgelesen, und ich habe Ihnen eine kleine Summe gesandt, soviel ich gerade bei mir hatte. Das Geld ist für Sie und Ihre Leidensgenossen bestimmt. Ich habe Onkel Kirja durch ein dringendes Telegramm herbestellt; er soll mir helfen, Sie aus der Verbannung zu befreien. Ihre Fenja.«

Am nächsten Morgen sandte sie den Brief eingeschrieben ab und fuhr zum Schnellzug auf den Nikolai-Bahnhof, um ihren Onkel Kirja abzuholen. Als der Zug eintraf, ging sie auf den Bahnsteig hinaus und stieß wenige Minuten später auf die qualmende Pfeife ihres Onkels. Über sein dürres, glatt rasiertes Gesicht ging ein kurzes nervöses Zucken, die Pfeife hopste ein bißchen zwischen den Lippen, dann aber erwachte ein weiches Lächeln in den stahlgrauen Augen.

»Was ist geschehen?! Sprich!«

»Ach, nichts Onkel Kirja, ich wollte bloß mit Ihnen sprechen.«

»Kleine Verrückte! Und darum schickst du dringende Telegramme und bringst deine Mutter zur Verzweiflung! … Geh und telegraphiere ihr sofort einige beruhigende Worte.«

Die Autohupe sang ihr lustiges Liedchen, und die kleine Fenja saß wieder neben ihrem Onkel Kirja, dem Herrn Ingenieur Drakin, dem Hanfkönig. Sportmütze, englischer Überzieher, gelber Lederkoffer, in dem nur das Notwendigste steckt – Rasierzeug, Tabak, Füllfedertinte, Briefpapier, Marken, ein wenig Wäsche – biegsame federnde Spannung, ein scharfes Gedächtnis – an wen und von wem, wieviel, wann – endlose Tauschlangen, endlose Reihen von Bauernwagen mit Hanf, und der rothaarige, stämmige englische Techniker, und immer und überall der Ingenieur selbst, dessen Stahlblick prüfend über Menschen und Dinge gleitet; eine gleichmäßige Stimme, die sich nicht hebt und nicht senkt, mit wem er auch sprechen mag, ob es Arbeiter, Bauern, Verwandte sind; und nur in Fenjas Gesellschaft ist er heiter, schlicht, fürsorglich – so sah sie ihn, ihren Onkel Kirja.

Nie redete er auf sie ein, widersprach ihr nicht, kam ihr nicht mit weisen Ratschlägen, immer aber verfolgte er aufmerksam ihre Freuden und Leiden. Er hielt es für seine Pflicht, sie im Leben behutsam zu lenken, aber so, daß sie frei ihrem Willen, ihren Leidenschaften folgen konnte – er half ihr nur, sich zurechtzufinden und ihren Lebensmut und ihren Lebenswillen sich ungebrochen zu erhalten – das war es, worauf es ankam. Er wußte noch sehr wohl, wie er sie von ihrem sündhaften Treiben abgelenkt, ihr geholfen hatte, sich dem Spinngewebe des sinnlichen Verlangens, in dem man sich so leicht hoffnungslos verstricken konnte, zu entziehen – diesem Nikolka, dem Studenten, dem erotischen Kreise des »Lichtstümpfchens«, dem Igrewitsch … Und jetzt, da sie ihn so jäh zu sich gerufen hatte, wußte er sehr wohl, daß sie ihn nicht mutwillig von seiner Arbeit weggerissen hatte, sondern ihn brauchte; da hieß es denn, vorsichtig hinhorchen, verstehen, mitfühlen, und ohne ihr Vorstellungen zu machen, den Knoten wieder lösen, vielleicht ihn durchhauen.

Zurückgelehnt im weich schaukelnden Wagen, beobachtete er seine Nichte aufmerksam, und ein warmes Lächeln wich nicht aus dem Gesicht des großen, starken Mannes. Die kleine Fenja war heute besonders stolz auf ihren Onkel Kirja – ein neues Leben hatte für sie begonnen, und sie fühlte sich stark, freudig bewegt und lebensfroh.

»Nun erzähle, wie es dir geht! … Du kleine Verrückte … Übrigens, ich liebe euer Petersburg – im Frühjahr ist die Stadt nicht wiederzuerkennen …«

»Onkel Kirja, nicht wahr – Sie können doch alles?!«

»Wenn es dir gilt, wünschte ich, es wäre so … Aber jetzt bin ich hungrig – bringe mich irgendwohin, wo wir essen können.«

An einem kleinen Tischchen in einem polnischen Speisehaus auf der Michailowskaja rauchte er dann seinen wohlriechenden Tabak, lauschte auf das laute Treiben draußen, sagte schließlich mit derselben ruhigen Stimme:

»Also, was ist geschehen? …«

»Lieber Onkel Kirja – mein Freund ist nach Sibirien verschickt worden … Seine Kollegen sind überzeugt, daß jemand ihm einen Packen Proklamationen und Drucktypen unterschoben hat; eine Haussuchung erfolgte, und da hat man ihn nach Sibirien verbannt …«

»Wer ist es?«

»Ein Student, Nikodim Alexandrowitsch Petrowskij ist sein Name, er hat mir früher Nachhilfestunden gegeben …«

»Ist er dein Verlobter?«

»Nein, Onkel.«

»Und ich hatte gehofft, du habest mich kommen lassen, um mir deinen Bräutigam vorzustellen, damit ich mich mit dir freue …«

»Mein Bräutigam hat mich verlassen, Onkel …«

Er warf ihr einen kurzen, behutsam fragenden Blick zu, der sagte: »Wenn man nicht daran rühren darf, so will ich nicht in dich dringen …«

»Es ist meine Schuld, Onkel … Sie selbst haben mich mit ihm bekannt gemacht – wissen Sie noch, im Adelsklub, auf dem Studentenball … Boris Smoljaninow heißt er …«

»Ich erinnere mich, habe auch über ihn gehört … Was ist mit ihm?«

»Er ist so wundersam, Onkel – und ich liebe ihn … Und vor meiner Liebe ist er geflohen … Und jetzt …«

»Und jetzt brauchst du meine Hilfe?«

»Ja. Geben Sie mir meinen Freund Petrowskij wieder … Sie können es …«

Die Pfeife glitt in den anderen Mundwinkel, die Brauen näherten sich ein wenig, die Augen blickten, stahlhart geworden, reglos auf einen Punkt; dann aber glättete sich sein Gesicht wieder.

»Ich will alles tun, was möglich ist.«

»Onkel Kirja! … Nicht wahr, Sie sehen ein, daß ich Sie nicht unnütz herbeigerufen habe?!«

»Nein, gewiß nicht, meine kleine Fenja … Na, und jetzt bringe mich, wohin du willst. Morgen mache ich die nötigen Gänge.«

»Fahren wir zu mir? …«

»Wohin du willst! …«

 

Nach wenigen Tagen erhielt der Ingenieur Drakin das Versprechen, daß man den Studenten Petrowskij aus dem weltverlorenen Winkel im sibirischen Urwald nach Tobolsk überführen und die Akten noch einmal prüfen würde. Der Crédit Lyonnais hatte den Gendarmerie-Oberst entgegenkommend gemacht, so daß er den Ausführungen des Ingenieurs ein williges Ohr lieh, und im Ministerium erreichte Drakin sogar, daß man ihm versprach, Petrowskijs Verbannung demnächst aufzuheben und ihm die Rückkehr in die Hauptstadt zu gestatten.

Kirill Kirillowitsch kaufte seiner Nichte wieder eine Unmenge Geschenke, gab ihr einen Scheck über eine größere Summe und reiste heim, um wieder Waren zu empfangen und abzuliefern, in Zahlen zu schwelgen und sich an dem rhythmischen Gedröhn der Maschinen und dem Hallen von vielen Menschenstimmen zu freuen.

 

Fenja wartete auf einen Brief von Nikodim; damit begann ihr Tag. Gleich nachdem sie ihren Onkel auf die Bahn gebracht und die qualmende Pfeife mit einem Lächeln begleitet hatte, hatte sie Petrowskij Geld gesandt.

Beim Erwachen des Morgens freute sie sich über ihre Jugend, ihre Schönheit, ihre straffen Glieder, streckte und dehnte sich voll Genuß, schloß wieder die Augen und gedachte sinnend ihres Traumes: Sie sitzt in einem Eisenbahnwagen, Onkel Kirja ihr gegenüber; durch das Fenster sieht man kahle Felsen, deren verwittertes Gestein über einen Abgrund hängt, und nur ganz oben wachsen einige schwanke, gekrümmte Birken; die Berge rücken plötzlich nah aneinander, die Felsen werden immer spitzer und höher, und das Atmen fällt ihr schwer. Dann taucht der Zug in einen Tunnel, und nun kann sie gar nicht mehr atmen; sie erschauert und erwacht, fühlt, daß anfangs Onkel Kirja mit ihr war, der sich aber dann in Boris verwandelt hatte, denn sie war ihn suchen gefahren und hatte in diesen einsamen Felsklüften seine Spur gefunden. Dann war alles entglitten, vor ihr saß niemand mehr, aber in ihr, in ihrem ganzen Sein empfand sie den Geliebten, nach dem sie suchte. Im Tunnel überkam sie ein Schwindelanfall, das Gefühl einer leichten, seltsam angenehmen Übelkeit stieg in ihrer Brust auf, und plötzlich blickte sie in die Frühlingssonne.

Aber die leichte Übelkeit, die sie im Traum überkommen hatte, wollte auch nach dem Erwachen nicht weichen. Sie spürt einen starken Speichelandrang im Munde und meint, sie sei hungrig. Barfuß, im bloßen Hemde springt sie aus dem Bett, kramt im untersten Sims ihres Wäscheschrankes, holt ein Kotelett und Brot heraus, beißt ein Stück ab, wirft alles wieder zurück und steckt einen Bonbon in den Mund. Doch die Übelkeit vergeht nicht, und die kleine Fenja entscheidet, daß sie Kaffee trinken muß. Das hilft; Fenja ist wieder ganz munter und läuft in die Hochschule, um die letzten Semesterexamen abzulegen. Der Traum und die Übelkeit kommen aber immer wieder, und schließlich fällt ihr ein – von innen heraus kommt die Erkenntnis –, daß das mit der Übelkeit schon früher einmal so war, damals als sie auf der Bank vor dem Landhäuschen im Klosterwald Erdbeeren aß – und eine heiße Freudewelle durchströmt sie. Sie wagt gar nicht an ihr Glück zu glauben, lauscht gespannt auf jede Regung ihres Körpers und auf das Hallen ihres Herzens, erkennt nun bewußt diese Übelkeit wieder und spürt, wie vor jäher Seligkeit ihre Wangen, ihr Gesicht, ihr Hals zu glühen beginnen, und diese heiße Welle strömt durch ihre Brust und zieht den Leib hinab bis hinunter in die Zehen. Sie möchte aufschreien vor Glück und Seligkeit, flüstert aber nur leise, mit geschlossenen Augen:

»Borja, jetzt bist du in mir ganz! Ich spüre dich, dich, den Reinen …«

Beim Einschlafen dachte sie wieder an Boris und daran, daß nun etwas Neues, etwas Großes in ihr Leben kam, und daß sie sich selbst erneuere durch das neue Leben, das in ihr sproß; jetzt konnte niemand und nichts sie beflecken. Stolz im Bewußtsein des keimenden Lebens in ihr schritt sie einher, schonte sich, und alle ihre Bewegungen wurden weicher und abgerundeter. Wenn sie ihre Zöpfe flocht, holte sie weit mit den Armen aus, als wollte sie die ganze Welt umarmen, strich zärtlich mit den Fingern durch die Haarsträhnen und dachte an Nikodim. Der eine war in ihr, der andere draußen im Leben, um den sorgte sie sich und war in Unruhe. Als keine Antwort von ihm kam, schrieb sie ihm ein zweites Mal, zärtlich und ruhig.

»Nikodim, Sie Lieber, Sie haben keinen Grund, mir zu zürnen, ich bin immer noch dieselbe, und Sie sind mein naher, mein nächster Freund … Vielleicht bin ich mit schuld an Ihrem Leiden, ich hätte aufmerksamer für Sie sorgen und Sie behüten müssen. Ich meine jetzt zu erraten, wer dahinter steckt, und wäre meine Sorge um Sie wachsamer gewesen, so wäre das nicht geschehen. Onkel Kirja war hier und hat alles getan, was nur möglich war … Vielleicht sehen wir uns bald wieder. Vergessen Sie nicht, daß Sie außer mir niemand haben, und ich will sehen, wieder gutzumachen, was ich gefehlt habe, will Ihnen ein treuer, starker Freund sein. Meine Geldsendungen dürfen Sie nicht kränken, sie gelten nicht nur Ihnen, sondern auch Ihren Leidensgefährten. Morgen reise ich nach Hause und wechsele im Herbst die Fakultät, ich werde Medizin studieren …«

Das mit dem Studium der Medizin war ihr ganz unversehens in die Feder geflossen, so daß sie im ersten Augenblick stutzte, sogleich aber erkannte, daß sich hier aus ihrem Inneren ein bisher noch unerkannter Wunsch zur Bewußtheit des Wortes durchgerungen hatte – das Verlangen, nicht mehr für sich allein zu leben, sondern auch für andere, für alle, die ganze Welt mit starken, liebenden Armen zu umschlingen, zu helfen, wo sie nur konnte, wie sie Nikodim und seinen Kameraden half. Und das Studium der Medizin sollte ihr die Handhabe dazu geben.

Sie sandte den Brief ab, ging den Kamenoostrowskij-Prospekt hinab und saß lange im Park auf einer Bank gegenüber dem Volkshause. Als sie nach Hause kam, fand sie einen Brief von Nikodim vor.

»Das Geld habe ich erhalten und angenommen, aber wenn es wirklich von einer Unbekannten käme, wäre es mir weniger peinlich gewesen. Ich habe Sie nicht um Ihre Hilfe gebeten, und es fällt mir sehr schwer, sie anzunehmen. Leider ist die Freiheit ein zu wichtiges und unentbehrliches Gut für mich …«

Die kleine Fenja faltete den Brief sorgsam zusammen und dachte: Gott, was für ein großes Kind er ist! Kann seine Eigenliebe nicht überwinden und sucht mich zu kränken – so ein dummer Junge!

 


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