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5

Die Mönche im Waldkloster verschlossen sorgsam die Türen ihrer Zellen und mieden die Menschen. Die alten Mönche gedachten der Kosaken, die 1905 das Kloster vor den Arbeitern gerettet hatten, und trösteten sich mit der Hoffnung, daß Nikolka – Abt Gerwassij – wieder helfen und das Kloster vor Unheil bewahren würde.

»Er ist tüchtig – der Herr hat ihn mit Verstandesgaben gesegnet – wir müssen zu Gott beten – Sünden lasten auf uns …«

»Ohne Zar müssen die Menschen zugrunde gehen! Aber der Gesalbte des Herrn wird wiederkehren und das russische Reich auf den Weg der Wahrheit zurückführen.«

Die Soldaten im Lazarett wurden von den Mönchen für verirrte Lämmer gehalten.

Vater Akindin erging sich, an seinem Bärtchen zupfend, im Walde, traf verwundete Soldaten aus dem Lazarett, musterte sie mit seinen kleinen stechenden Augen, trat behutsam auf sie zu.

»Eine schwere Prüfung hat der Herr über das russische Land gesandt; die Herde ist ohne Hirt, die Erde bebt in ihren Festen … Fremde Heerscharen sind in unser Land eingebrochen – schwer drückt die Hand der Antichristen … wie einst Tatarenjoch!«

Die Soldaten hörten zu, blickten mürrisch zu Boden, antworteten schroff:

»Dich sollte man mal auf acht Tage an die Front schicken! … Friede tut not, das Volk ist erschöpft, und wer hat Nutzen von diesem Krieg?!«

»Wer vom Kriege Nutzen hat, der mag ihn auch führen, wir haben aber genug davon. Da kehre ich ohne Arm heim, zu Hause aber warten fünf hungrige Mäuler auf mich. Was kann ich denn noch arbeiten? Wer wird für sie sorgen? …«

»Ach, Bruder, der Herr ist langmütig und gnädig – kommt zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.«

»Ja, ja, mag schon sein, bloß daß es mit der Erquickung erst im Jenseits beginnt; wir müssen aber hier auf Erden was zu beißen haben; oder wirst du die Fünfe füttern und mich Krüppel dazu?« …

»Geh zu unserem heiligen Starez Simeon, knie nieder vor seinen Reliquien und bete zu ihm.«

»Wozu soll das gut sein? Wird mein Arm dann etwa wieder anheilen oder mir ein neuer wachsen?«

Der Glaube an Gnade und wunderbare Heilungen bröckelte langsam ab … Die Soldaten warfen Vater Akindin scheele Blicke zu, und der Mönch erklärte, ins Kloster zurückgekehrt, seinen Nachbarn, daß es in den Menschenherzen wüst und leer geworden sei und der Antichrist mit seinen Höllenscharen nahe.

Abt Gerwassij besuchte zuweilen das Lazarett, sonst verließ er nur selten das Kloster. Er sah darauf, daß die Gottesdienste streng nach dem Ritual stattfanden, legte die Prunkgewänder an und zelebrierte feierlich die Messen vor den Reliquien; er hoffte, durch sein Beispiel den Eifer der Mönche zu Gebet und Glaubensmühen zu wecken. Den schwarzen Mönch Polykarp beobachtete er mit feindseligen Blicken, hatte ihn dieser doch der Wirtschaftsführung enthoben und alles selbst in die Hand genommen. Das Lazarett wurde vom Kloster mit Mehl versorgt, das Abt Gerwassij zu höheren Preisen berechnete, als er selbst beim Einkauf gegeben hatte; so flossen Hunderte in seine Tasche. Da war Vater Polykarp eines Tages zum Abt gekommen und hatte kurz gesagt:

»In Zukunft werde ich den Haushalt führen.«

Der Abt senkte die Stirn, wollte entgegnen, der schwarze Mönch aber sah ihn scharf an und fügte hinzu:

»Liefern Sie mir die Bücher aus, sonst erstatte ich dem Bischof Bericht; lassen Sie es um des Mönchstums willen nicht zu dieser Schmach kommen.«

Nikolka holte schweigend Bücher und Rechnungen hervor und ließ sich mehrere Tage nicht blicken; darauf begann er dann in der Kathedrale zu zelebrieren und zu beten und suchte die Bruderschaft für sich zu gewinnen.

Als der Frühling ins Land kam, schritt Vater Polykarp den Gemüse- und Bienengarten ab und veranlaßte die Mönche, endlose Beete zu graben und Gemüse zu pflanzen. Wenn er die Arbeiten besichtigen kam, erklärte er den Mönchen:

»Wir müssen jetzt selbst für uns sorgen. Revolution, große, schwere Tage der Prüfung sind über uns gekommen; wenn ihr nicht zugrunde gehen wollt, so müßt ihr arbeiten! Das Kloster muß sich selbst ernähren.«

Es war ein ungestümer Frühling, der See trat aus seinen Ufern und ergoß sich über die Wiesen; saftiges Gras schoß bald üppig empor. Im dampfenden Walde rieselten klingend tausend Bächlein, sprangen mit hellem Geplätscher von der Halde ins Flüßchen. Die Bauern von Polpenki fuhren über die aufgeweichte Erde in den Klosterwald und fällten mit hallendem Axtschlag eine Kiefer – die erste –, einen mächtigen Mastenstamm. Schnell drang die Nachricht in die Zellen: Die Bauern schlagen unseren Wald nieder! Hilflos flüsterten die Mönche untereinander, ihr Wald würde vernichtet, durch dessen Herrlichkeit das Kloster berühmt geworden war! Die Bauern machten sich frühmorgens mit Äxten auf den Weg und schafften die Balken am hellichten Tage über den Mühlengrund an der Kapelle vorbei.

Die Söhne des Klostermüllers, die Bauern in Polpenki waren, erschienen eines Tages zusammen mit den übrigen Bauern des Dorfes auf der Mühle.

Vater Mawrikij, der Klostermüller, ging zu ihnen hinaus; der ältere Sohn trat aus der Menge auf seinen Vater zu.

»Unsere Bauern haben beschlossen, die Mühle an sich zu nehmen; teile das dem Abt mit.«

Der Mönch sah seine Landsleute an, verneigte sich und ging ins Kloster.

Die Väter breiteten hilflos die Arme aus, versammelten sich beim Abt; Vater Gerwassij lächelte höhnisch und sagte:

»Liebe Väter, ich bin ja jetzt nicht mehr Herr im Kloster, geht zu dem Schwarzen, zu Vater Polykarp, der ist ja Herr hier …«

Die Erbitterung, die Nikolka gegen den gelehrten Mönch in seinem Herzen angehäuft hatte, war zum Durchbruch gekommen und teilte sich der Bruderschaft mit; die Väter nickten mit den Köpfen, murmelten:

»Schön, gehen wir also zu dem Schwarzen; mag er sehen, wie er zurecht kommt.«

Vater Polykarp fragte den Müller umständlich aus. Vater Paissij, der Haushalter, strich sich über den Bart und wartete darauf, was der gelehrte Mönch wohl sagen würde. Vater Polykarp sah ein, daß er die Mühle dem Kloster erhalten müsse. Das Kloster brauchte die Mühle zwar nicht, wie er wußte, doch hing von einer befriedigenden Abwicklung der Angelegenheit seine Macht und sein Ansehen unter der Bruderschaft ab. Er preßte die Zähne zusammen, blickte den Müller aufmerksam an, fühlte, daß dieser Mönch, einst Bauer unter Bauern in Polpenki, insgeheim ihr Vorgehen guthieß. Er trat auf ihn zu und sagte, an die Bruderschaft gewandt:

»Ich gehe mit Vater Mawrikij hin, Väter, er ist Hausherr auf der Mühle; wir wollen zusammen mit den Bauern reden, ihm trauen sie.«

Vater Mawrikij starrte den Schwarzen erschrocken an und stotterte:

»Sie … sind mit Äxten gekommen …«

»Und wir, Vater Mawrikij, kommen mit dem Namen Gottes auf den Lippen, in Demut.«

Die beiden Mönche kehrten erst nach dem Mittagessen auf die Mühle zurück; bloß Vater Mawrikijs Söhne erwarteten sie; Vater Polykarp sagte zum Müller:

»Es sind deine Söhne, sprich als Vater mit ihnen.«

Die beiden Bauern wiederholten hartnäckig:

»Die Mühle soll uns gehören, ohne Mühle kommt das Dorf nicht aus. Wie viele Jahre schon haben wir dem Kloster für das Mahlen mit unserem Korn zahlen müssen! Wenn die Mönche wenigstens noch selbst säen würden …«

Vor dem Blick des finsteren Vaters Polykarp senkten sie die Augen.

»Wir können ja nichts dazu tun, die Gemeinde hat uns beauftragt; wir wollen's ihr melden.«

Der jüngere Bruder eilte ins Dorf und kehrte mit den Bauern zurück; unterwegs erklärte er ihnen, die Mönche hätten sich zusammengetan und wollten die Mühle nicht abgeben. Erregt, mit Pfählen bewaffnet, zogen die Bauern heran. Die Mönche aber waren gar nicht gekommen, der Klostermüller und Vater Polykarp allein empfingen die Schar.

Der schwarze Mönch sprach als erster:

»Die Mönche haben jetzt begonnen, ihr Land zu bewirtschaften, im Herbst werden sie pflügen, dann kann das Kloster nicht ohne Mühle bleiben. Sie mag euch gehören, aber laßt Vater Mawrikij und seine Söhne auf der Mühle; wir arbeiten zusammen, tragen gemeinsam Mühen und Sorgen, und das Wasser – schaut hin, durch wie viele Dörfer der Fluß strömt, und alles speist er, dreht die Mühlensteine, spült die Wäsche, reinigt den sündigen Menschenleib, und jeglich Tier stillt an ihm seinen Durst, jeglicher Vogel findet einen Unterschlupf an seinen gastlichen Ufern; und so ist es auch mit der Arbeit des Menschen bestellt. Jeder hat jetzt Platz genug auf der Erde, um in brüderlicher Gemeinschaft zu leben, in brüderlicher Gemeinschaft ein einiges Haus auf Erden zu bauen, und so wollen wir auch unser Korn, die Frucht unserer Arbeit und unser tägliches Brot, in brüderlicher Gemeinschaft auf einer Mühle mahlen; gemeinsam laßt uns, Mönche und Bauern, arbeiten; die Mühle gehöre euch und uns zusammen.«

Die Bauern hörten still und aufmerksam zu; ein alter Bauer trat vor, verbeugte sich vor Vater Polykarp, darauf vor Vater Mawrikij und sagte:

»Ich bitte die Gemeinde um das Wort.«

Der Wind strich durch das vielstimmige Gemurmel.

»Sprich, Iwan Nikanorytsch, sprich! …«

»Brüder, lassen wir Vater Mawrikij mit seinen Jungen hier – Mawrikij gehört ja zu uns, und seine Jungens gehören auch zu uns –, sie sollen vor der Gemeinde verantwortlich sein. Da hat der Vater hier recht, wenn er sagt, wir sollten ein einiges Haus auf Erden bauen, dann wird es niemand zu eng haben … Also lassen wir Mawrikij mit den Jungens auf der Mühle?«

Warmer Frühlingssonnenschein, der alles in einen goldenen Dunstschleier hüllte, Harzgeruch und ruhige, feste Bauernstimmen …

»Also, bleib auf der Mühle, Vater Mawrikij.«

»Mit den Jungens!«

»Ihr seid für die Mühle verantwortlich …«

Unversehens sah Mawrikij in Vater Polykarps Augen nicht mehr ein verbissenes Glimmen; er spürte eine unverständliche Macht in ihnen, deren ruhige Selbstsicherheit entwaffnete; zum ersten Male empfand er dies Unbegreifliche an ihm, an das man glauben, dem man folgen mußte.

Der alte Müller richtete sich auf, warf einen Blick über die Bauern, als wollte er sie um ihr Einverständnis fragen, und trat an Vater Polykarp heran, um seinen Segen zu empfangen.

Der Mönch segnete ihn und wandte sich aufs neue an die Bauern:

»Brüder, ich will noch ein Wort an euch richten …«

Seine Worte fielen jetzt langsamer, die Bauern verstummten, und wieder wehte aus dem Walde Fichtenduft. Ruhig standen die Bäume da, flüsternde Wassertropfen fielen aus ihren zottigen Mützen in den See, klatschend wie spielende Fische, zogen weite, langsame Kreise bis an das grüne Schilf an den Ufern.

»Wir alle haben die gleiche Sorge – daß wir ein einiges Haus auf Erden bauen, ein großes, weites Bruderhaus, darin ein jeder frei atmen, unangefochten leben könne, und dieses unser Haus ist« – er machte eine weitausholende Armbewegung – »die ganze Erde, die jegliche Kreatur ernährt. Sein Dach ist breit, darunter haben alle Menschen Platz; doch müssen wir an dem Hause unseres Vaters in Liebe bauen, es sorgsam bestellen. Es ist nun in unsere Hand gegeben, und niemand kann es uns nehmen, niemand soll wieder Grenzen und Mauern ziehen zwischen mir und dir; Mauern und Grenzen, die einst zwischen den Menschen standen, sind gefallen, Gras und Moos überzieht die Trümmer … Nimm dir, Bruder, was du brauchst zu deinem Leben, aber zerstöre nichts mutwillig, keinen Halm auf dem Felde, keinen Baum im Walde … Was du tust, das sei Arbeit und Mühe, so erhältst du dich und dein Haus, das unser gemeinsames Haus ist, und so erwirbst du dir täglich aufs neue Leben und Selbstachtung und die Achtung deiner Brüder … So achte auch du alles, was da leibt und lebt und jeden Halm und jeden Baum, dann wirst du erkennen, wie nötig und nützlich deiner Hände Arbeit ist … Indem du dein Hab und Gut treulich bewahrst und als sorgsamer Hausvater an deinem Hause baust, baust du an unser aller Haus, an dem einigen Haus der Arbeit und des Glücks aller Menschen auf Erden …!«

Vater Polykarp umfing noch einmal die Bauernschar mit einem langen Blick, dann schritt er – lang, schwarz, hager, vornübergebeugt – in den Wald hinein. Die Bauern blickten ihm schweigend nach, bis derselbe alte Bauer, Iwan Nikanorytsch, wie erwachend sagte:

»Das hat er uns wegen des Holzfällens im Klosterwalde gesagt, Brüder … Wir haben uns auf den Wald gestürzt und wissen dabei selber noch gar nicht, wann es einmal zum Bauen kommt … Der Wald aber steht ja ruhig da, niemand raubt ihn uns, und wenn's mal jemand versuchen wollte, so sind wir ja immer noch da …«

Die Schar löste sich schweigend auf; auch Vater Mawrikijs Söhne gingen wieder heim nach Polpenki.

Vater Mawrikij ging in seine Zelle in der Mühle, zog seine weiße Arbeitskutte mit engen Ärmeln an und machte sich an die Besichtigung der Rinne unter dem Mühlrade und der Mahlsteine; seine Gehilfen, junge Novizen, hieß er die Siebe nachsehen.

»Habt ihr gehört, was er gesagt hat? … An unserem Hause sollen wir bauen …«

Durch den Mahlgang sickerte das Wasser und fiel klingend aus der Höhe hinunter in das tiefe Flußbett, dessen ebener Sandboden durch die klare Flut schimmerte; Dohlenschwärme kreisten um das murmelnd schäumende Gewoge, das nach Tannenharz und Frühlingssonne duftete.

Vater Mawrikij untersuchte die Mühle so eifrig, als wäre sie nun sein persönliches Eigentum. Als die mittlere Klosterglocke zum Mahle rief, holte er die Novizen von der Arbeit zum Abendessen.

Das Murren der Bruderschaft war verstummt, Abt Gerwaßij ging mit verfinsterter Miene einher, die Mönche begannen Vater Polykarp ehrerbietig zu grüßen, nur die Starezen mieden ihn – Zweifel quälten sie, sie fanden sich nicht zurecht. Im Sommer wurden die Überschwemmungswiesen gemäht, das Heu eingebracht – die Hälfte der Ernte erhielten die Bauern von Polpenki; Ackerland besaß das Kloster nicht. Im Frühherbst verteilten die Bauern das Land ihres Gutsbesitzers unter sich, der Gutshof ging in Flammen auf, die Klosterglocken läuteten Sturm, fürchteten doch die Mönche, der Brand könnte auf den Klosterwald übergreifen.

Den Glockenstrang schwang der stille, besinnliche Vater Ionißij, den Blick auf den Feuerschein gerichtet. Die Pelzmützen der Fichten schwankten und wogten, und es schien, daß der Wald zu brennen beginne, daß nicht der Wind die Wipfel rauschend rüttele, sondern daß Flammen knisternd an den Stämmen herauflecken, gleich zum Himmel emporschlagen, den ganzen Wald erfassen und rote Feuerzungen in kreisenden Wirbeln dahinbrausen mußten, das Kloster unter Feuerwogen begrabend; nur das entsetzte Brummen der großen Glocke würde noch lange schauerlich aus der Brandung des Feuermeers steigen. Die Mönche waren aus ihren Zellen hervorgekommen und starrten nach dem Feuerschein; ihre schwarzen Schatten wogten durcheinander, krümmten den Rücken, huschten über die Klostermauern und verschwanden, als der Feuerschein schwächer wurde. Der Wald tauchte ins Dunkel, die Fichtenwipfel erloschen, und der Glöckner Vater Ionißij kam vom Glockenturm herab, still und schwermütig, sah die Mönche, die ihn mit Fragen bestürmten, mit großen Augen an und schwieg. Oft schritt er das ganze Kloster ab und bat um Brotkrumen oder grub den Misthaufen beim Pferdestall um und suchte die Haferkörnchen heraus – alles für seine Tauben auf dem Glockenturm. Er lebte für sie, schlief oft oben, mit Stroh zugedeckt, und an seiner Kutte haftete immer Müll …

Im Herbst wurden neue Transporte von Verwundeten erwartet, die aber nicht eintrafen; im Lazarett wurde es täglich stiller, schließlich waren nur unterkunftslose Krüppel, ein Arzt und drei Schwestern zurückgeblieben. Ein dumpfes Gerücht meldete von einem Bolschewistenumsturz, und alles hielt den Atem an.

Schwester Sina Belopolskaja war bei den Krüppeln geblieben – sie wußte nicht, wohin sonst; immer mehr in sich gekehrt, hatte sie sich dem Leben entfremdet. Sie war genesen, fühlte aber noch das Bedürfnis, sich an die älteste Krankenschwester anzuschmiegen. Des Abends saß sie reglos am Fenster, las in Petrowskijs alten Briefen und wartete immer auf neue. Aber er schrieb ihr nicht, das Zeitgeschehen hatte ihn mit fortgerissen, er dachte kaum an sie; zuweilen nur erwachte sein Gefühl, dann nahm ihn des Tages Mühe und Last wieder ganz in Anspruch.

Soßja Kartschewskajas unerwartet hervorbrechendes Lachen ließ Sina zusammenzucken.

Soßja war mit ihrer Mutter dageblieben; als Flüchtlinge aus der Kampfzone hatten sie ja kein Heim mehr. Ärgerlich blickte Soßja in die leeren Krankenzimmer … Das Leben schwand dahin, sie klammerte sich daran, rang um das tägliche Brot. Ihre Mutter haßte sie und biß sich die Lippen blutig, um an sich zu halten, um in ihrer Verzweiflung nicht gar zu verletzende, nicht wieder gutzumachende Dinge zu sagen.

Die alte Dame berichtete im Flüsterton:

»Weißt du, Soßja, ich habe erfahren, daß der Abt reich ist!«

»Wo ist er denn? Schaffen Sie ihn her! Ich kann ihm doch nicht nachlaufen … Man müßte sich ja schämen.«

Soßja ging in den Wald hinein, weiter weg; nach der Einäscherung des Gutshofes fürchtete sie die Bauern.

Auf einem ihrer Spaziergänge traf sie zu ihrer Freude den Abt.

»Warum kommen Sie gar nicht mehr ins Lazarett? Sie sollten doch mal vorsprechen und die armen Krüppel besuchen.«

Sie saß halb ausgestreckt auf der Erde und warf ihm von unten herauf einen scheu lockenden Blick zu. Es war ein klarer, zerbrechlicher Herbsttag, dem trockenen, vergilbten Moos entströmte ein leicht bitterer Geruch; auch der ermatteten Abendsonne schien solcher Hauch zu entströmen.

In singendem Tonfall, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, sagte sie:

»Ich langweile mich allein, warum besuchen Sie uns nie?«

Abt Gerwaßij seufzte, wand sich betreten.

»Sagen Sie, haben Sie Angst vor der Revolution, Vater?«

Abt Gerwaßij warf den Kopf zurück, fuhr sich mit der Hand über das Haar, und antwortete mit hoffnungsloser, gleichgültiger Stimme, in der etwas Totes lag:

»Mir macht es nichts aus, ich stehe allein in der Welt.«

»Ja, Sie haben es gut, Sie sollen ja Geld haben …«

Der Abt zuckte zusammen und rief überrascht, verlegen – es klang fast wie ein Aufschrei –:

»Geld?! Ich?!«

Gleich am ersten Abend ging er auf den Viehhof zu Arischa.

Die Wirtschaft auf dem Viehhof war zusammengeschrumpft – die Bauern von Polpenki hatten einen Teil der Herde auf einer Waldwiese aufgespürt und zu sich ins Dorf gejagt; seitdem standen die übriggebliebenen Kühe immer im Stall.

Ruhig empfing die Nonne den Abt.

»Was wünschen Sie, Vater Gerwaßij?«

Der Abt sah sich in der Zelle um, legte den Haken vor die Tür und fragte im Flüsterton:

»Ist mein Geld heil? …«

»Wie denn anders …«

»Hol' es heraus, ich will einen Blick darauf werfen …«

Arischa brachte das in einen Kattunlappen gehüllte Päckchen und reichte es ihm.

»Stimmt die Summe?«

»Ich weiß nicht, ich habe das Geld nicht gezählt, es nicht angerührt.«

Er wollte gehen, trat auf die Tür zu, der Gedanke durchfuhr ihn, er müßte das Geld zählen, zögernd schob er das Päckchen in die Tasche und fragte:

»Also wieviel hast du herausgenommen?«

Er sagte es dumpf, und etwas wie Haß klang aus seiner Stimme; die Nonne zuckte zusammen, ihre Augen weiteten sich, ihre Hände zitterten.

»Nichts hab ich von dir genommen, keinen Groschen, für unseren Jungen hab ich es aufbewahrt, und jetzt, da der Herr ihn zu sich genommen hat – was soll mir da noch dein Geld! Nimm es, ich brauch' es nicht, nimm es. Aber quäle mich nicht, zertritt nicht das letzte bißchen Leben in mir! Ach, sterben, und sei es durch die eigene Hand! Du hast mich umgarnt und dann zerquält, daß ich mir die Seele aus dem Leibe geweint habe …«

Er glaubte ihr, er wußte, daß sie nichts genommen, ja das Päckchen wirklich gar nicht angerührt hatte; doch die Erbitterung über sein verdüstertes Leben ohne Heim und Herd, das in Zersetzung geraten war, das zusammenbrach, so daß der Boden unter seinen Füßen schwankte, würgte ihn, und er überschüttete sie mit Vorwürfen:

»Und du, hast du je das Geringste für mich getan, mich jemals wirklich geliebt, auch nur versucht, mir etwas zu sein, statt immer nur über deine falsche Stellung zu klagen?! Ich bin immer zu dir hinausgekommen, hast du mich jemals in Sehnsucht und Liebe erwartet? Bei all meiner Sorge um dich mußte ich dich noch um Liebe bitten und drängen! …«

»Ich bin nicht eine von deinen Kaufmannsfrauen, die herkommen, um sich mit dir und den Mönchen zu vergnügen! Ich habe ein Herz und eine Seele, du aber, an jene Weiber gewöhnt, wolltest nichts als Tändelei und Spiel, das dich zu nichts verpflichtete! Die kamen her angeblich, um zu Gott zu beten! Was ist denn das für ein Gott, euer Gott, ihr Lüstlinge! … Ich aber bin ein fühlender Mensch, ich hatte auf Glück und Freude gehofft, und dann gemeint, Trost an meinem Kinde zu finden … Bist du je zu ihm gekommen, hast du es auch nur angesehen? …«

»Ich bin Abt, ich habe der eigenen Sorgen übergenug …«

»Gelder unterschlagen, das richtet den Menschen zugrunde … Als er starb, warst du da auch nur einmal an seinem Sterbebette, hast du überhaupt davon gewußt, dich darum gekümmert? … Er war dir weniger als ein junger Hund … Ich habe an seinem Bettchen gewacht, Nacht für Nacht, unsäglich gelitten, allein und verlassen, und niemand mein Leid geklagt, um dich zu schonen. Und nun kommst zu mir mit deinem Gelde, mit deinen Verdächtigungen, mir! Mich kauft man nicht mit Geld, ich bin kein Straßenmädchen … Sieh nach, zähle dein Geld! … Komme mir nicht zu nahe, laß mich, du bist ja doch nur gekommen, um mich wegen des Geldes zu quälen … Geh, ich laß dich nicht heran an mich, lieber hänge ich mich auf, ich will nichts wissen von dir, Peiniger!«

Der Abt wandte sich ab, machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Du bist verrückt, verrückt …!«

Die Tür fiel ins Schloß. Arischa überkam wieder Verzweiflung und stumpfe Gleichgültigkeit, sie warf sich auf das Bett und blieb bis zum Morgen reglos im Halbschlaf liegen. Die toten Tage des Klosterlebens nahmen ihren Fortgang, und ihr schienen alle Menschen wie Tote, die vor Wut und Erbitterung über ihr verunstaltetes Leben die Zähne fletschten und wie aufgezogene Puppen an ihr vorbeiglitten.

Abt Gerwaßij schloß sich in seinem Schlafzimmer ein und zählte, die Finger bespeichelnd, beim Schein einer Wachskerze die neuen Hundert- und Fünfhunderterscheine. Freude schlich in sein Herz, ja er lebte förmlich auf bei dem Rascheln des Geldes. Aus der Truhe holte er die Teebüchse mit neuem, noch ungezähltem Gelde hervor und glättete und streichelte die Scheine bis Mitternacht, der Worte Soßjas über seinen Reichtum gedenkend, und klammerte sich an ihren Ausspruch, er habe es gut, weil er Geld besitze – seine letzte Zuflucht!

Diesen ganzen Monat ging er unter dem Eindruck der erlittenen Schmach – als solche empfand er das Verhalten des schwarzen Mönches – mit gesenkter Stirn einher, sah die unzufriedenen Blicke der Mönche und schwieg. Eine Stumpfheit hatte ihn überkommen und das Gefühl der Hilflosigkeit, worin etwas Unheimliches lag; ihn dünkte, daß nun alles verloren sei. Trotzdem nichts Greifbares vorlag, spürte er das Nahen stürmischer Tage, und Todesahnungen kamen ihm, und nur das eine Wort – Geld! – verhieß Rettung und gab Zuversicht; er glaubte fest an die Allmacht des Geldes. Und dann – jener eine, verheißende Blick im Walde, der hatte die Erinnerung an sein früheres Leben geweckt, und an diesen Gedanken klammerte er sich. Sorgsam legte er die Zarenscheine und das Gold wieder in die Truhe. Er glaubte es nicht recht, aber vielleicht war es doch noch nicht zu spät, vielleicht konnte er noch fort von hier und ein neues Leben beginnen!

Nachdem er die Frühmesse zelebriert hatte, zog es ihn wieder in den Wald; vielleicht traf er sie; es war sein letzter Halt.

Er fand sie in der Klosterherberge, im leeren Lazarett; ihm schien, als hätte sie auf ihn gewartet und als freute sie sich über sein Kommen.

Da kam er täglich, in den Abendstunden, in ihr Zimmer in der neuen Herberge, das neben Sinas Zimmer lag.

Einmal klagte sie ihm ihr Leid.

»Wir wissen nicht, was tun, Vater!«

»Sie sollten fortreisen von hier …«

»Wohin! …« Scherzend fügte sie hinzu: »Wenn Sie mitkämen, würde ich's wagen …«

»Ich bin Mönch! …«

»Ach Gott, das ist jetzt doch einerlei … Und einem jungen Manne steht die ganze Welt offen …«

»Würden Sie wirklich … mit mir kommen?«

Sie lachte hell auf, brach plötzlich ab und trat nah an ihn heran.

»Vater, ist das Ihr Ernst? …«

Und wieder traf ihn ein verheißender Blick.

Als Abt Gerwaßij wie in früheren Jahren, als er noch Bruder Nikolai hieß, sich durch das Pförtchen bei den Pferdeställen ins Kloster zurückstahl, taumelte er beim Gehen wie ein Betrunkener. Er konnte es noch nicht glauben, nicht fassen: sollte wirklich ein neues Leben für ihn beginnen?!

Dumpfe, sinnbetäubende Tage, denen etwas Klebriges anzuhaften schien, brachen an. Abt Gerwaßij besuchte jetzt oft die Krüppel im Lazarett und sprach dann auch unten im Erdgeschoß bei Schwester Soßja vor. Wie irr fragte er sie immer wieder:

»Wann? Wann denn endlich? … Es muß bald geschehen, noch im Herbst …«

Soßja sagte es ihrer Mutter; die alte Dame zog den Mund schief.

»Was hast du gesagt?!«

Sie tätschelte ihr wie einem kleinen Mädchen den Kopf und flüsterte ihr ins Ohr:

»Aber er ist doch Mönch, Kind …«

Und noch leiser, den Arm um die Schultern der Tochter geschlungen:

»Freilich, bei seinem Gelde …«

Sie brach verlegen ab, küßte ihre Tochter, lachte leise und warf ihr verstohlen einen verschmitzten Blick zu.

»Es war bloß ein Scherz, Soßja, Kind, bloß ein Scherz …«

Sie begleitete die Tochter bis zum Lazarett, sagte:

»Es stimmt schon, wir sollten fort von hier … Aber wir haben ja kein Geld!«

Abt Gerwaßij litt; ihm war, als hätte sich eine Schlinge um seinen Hals gelegt, die sich langsam zuzog und ihn würgte; ungeduldig wartete er auf den Abend, um – Vernunft und Anstandsgefühl mißachtend – in die Klosterherberge zu eilen, auf Schleichwegen, damit ihn die Mönche nicht sähen. Den Vorsteher der Herberge überschüttete er mit Geschenken und erklärte im Lazarett, daß er den heimatlosen, von allen vergessenen Kriegsinvaliden doch Trost zusprechen müsse.

Eine Frau von dreißig versteht es, einen Mann, der in ihre Netze gegangen ist, sich gefügig zu machen, zumal wenn der Mann ein Mönch ist. Vater Gerwaßij lag liebeslüstern vor ihr auf den Knien und flehte sie zugleich an, mit ihm zu flüchten. Soßja suchte seinem Drängen auszuweichen, machte allerlei Ausflüchte, schien auf etwas zu warten. Um ihn hinzuhalten, begann sie stürmisch zu atmen und befriedigte die Liebesgier des Mönches.

»Soßja, wann reisen wir ab? …«

Sie lachte girrend und zärtlich; das Lachen verbarg den listigen Ausdruck ihrer Augen.

»Bald kommt ja der Frühling; in Warschau ist es nur im Frühjahr schön …«

»Und wenn bis dahin etwas geschieht?«

»Dann reisen wir eben.«

In einem Augenblick überströmender Zärtlichkeit hauchte sie:

»Wieviel hast du eigentlich?«

»Vierzigtausend – mein ganzes Leben lang habe ich gespart …«

Während sie in seinen Armen schlummerte, träumte sie im Halbschlaf von Warschau, von Abendcafés und Musik und wußte nicht, wie sie sich des pfiffigen Mönches entledigen könnte, der sie nicht mehr lassen würde, wenn sie mit ihm flüchtete. Seine Schönheit und Kraft gefielen ihr, dann aber dachte sie an die adelsstolzen polnischen Pane und mußte über ihr schwaches Weiberherz lachen, wenn sie sich neben diesen den russischen Mönch, diesen Waldbären vorstellte! Sie dachte daran, wie der Pan Kczensulka, stets frisch rasiert, ihr die Hand zu küssen pflegte, während Gerwaßijs Schnurr- und Backenbart einem so unangenehm in den Mund drangen und Hals und Brust so heftig kitzelten, daß man lachen mußte.

Allein geblieben, drehte sie sich auf die andere Seite, der Wand zu, und flüsterte ins Dunkel:

»Wie locke ich ihm sein Geld ab:«

 

Das Kloster ging mit Anbruch der Dämmerung zur Ruhe; heilige Lämpchen mit Hanföl wurden nur zuweilen zu Betübungen angezündet, Kerzenstummel waren ein seltener Herzenstrost. Zu den Mahlzeiten erschienen jetzt alle Mönche und freuten sich, daß es Kartoffelmus und Suppe aus Kohl und Wasser gab; das Gemüse kam aus dem Klostergarten. Stumm traten die Mönche auseinander, um Vater Polykarp durchzulassen, der sich auf den Platz des Abts setzte; Abt Gerwaßij erschien nur selten im Speisesaal. Die jungen Mönche stritten mit den alten.

Vater Akindin trat für den Abt ein.

»Wer hat unser Kloster zu Ansehn und Ruhm gebracht? – Vater Gerwaßij. Wer hat es erreicht, daß unser Klosterheiliger kanonisiert worden ist, hm, wer?!«

Die jungen Mönche entgegneten ruhig:

»Was würden wir jetzt essen, wenn der Hieromonach Polykarp nicht vorgesorgt hätte? – Hungers müßten wir sterben!«

»Um das leibliche Wohl seid ihr besorgt; ihr dienet dem Satan, der den Herrn versuchte und sprach: Verwandle die Steine in Brot! …«

»In der Heiligen Schrift ist gesagt: Nicht was zum Munde eingehet, sondern was zum Munde ausgehet …«

»Der Mensch lebt nicht von Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht …«

»Nicht doch, es heißt vielmehr: [Lücke im Text?]

Schön, also stopft euch; da hockt er ja, euer Wohltäter!«

»Ja, er hat dem Kloster den Wald gerettet, die Bauern rühren ihn jetzt nicht mehr an, und Vater Mawrikij sitzt auf der Mühle, während euer Abt damit beschäftigt ist … heimatlose Krüppel im Lazarett zu trösten!?«

»Es geziemt dem Mönche nicht, übel über seinen Abt zu sprechen …«

»Wir wollen uns jetzt selber einen Abt wählen …«

»Versucht es nur!«

»Wir genießen jetzt ja auch Meinungsfreiheit; wenn wir wollen, können wir uns einen eigenen Abt wählen.«

»Den Gelehrten wollt ihr zum Abt machen?«

»Den Weisen.«

Ein allgemeines verhaltenes Geflüster setzte ein und wurde von dem Klingelzeichen des schwarzen Mönches unterbrochen; nach dem Gebet, während die Mönche den Speisesaal verließen, begann das Gemurmel aufs neue.

Allmählich bildeten sich zwei feindliche Gruppen, und in den Zellen wurde bis zum Anbruch der Dunkelheit gestritten.

Den alten Mönchen riß schließlich die Geduld.

»Unser Klosterheiliger wird euch strafen, unversehens werdet ihr seine Hand fühlen! Auf das Kommen des Antichrist wartet ihr? Wahrlich, er ist bereits unter euch! Wisset ihr nicht, daß gesagt ist: Es werden viele kommen unter meinem Namen und werden predigen, und viele werden verführt werden … Ihr aber sehet nicht den falschen Propheten unter euch, den Antichrist; den Vater Mawrikij hat er bereits verführt … Oh, ihr Kleingläubigen! …«

Im Vorfrühling kam eine Kommission von den Fabriken, um die Klosterherbergen zu besichtigen.

Vater Mißail eilte mit der Nachricht zum Abt; Vater Gerwaßij ließ seine Anhänger, die alten Mönche, zu sich berufen. Der steinalte Starez Doßifej, der so tief vornübergebeugt ging, daß er mit dem Kopfe fast an die Erde stieß, schnarrte mit zahnlosem Munde:

»Die Mönche schollen schich in ihre Tschellen einschlieschen, die heilige Pforte wird verrammelt, und wir alle beten tschu unscherem heiligen Schtaretsch Schimeon, er möge scheinen Tschorn vom Kloschter abwenden und den Geischt der Höllenscharen desch Unreinen verwirren.«

Der frühere Vorsteher der Klosterherbergen, Vater Iona, der fromm geworden war, stieß prustend die Luft von sich und strich sich über den Bart, während er diese Worte an die Starezen richtete:

»Aus dem Munde unseres Starez Doßifej spricht die Wahrheit selber – den Bolschewisten gehen die Mönche keinen Schritt entgegen; wir nehmen lieber Folter und Märtyrertod auf uns, ehe wir uns der Macht der Antichristen, der Kommunisten, beugen, der jüdischen Macht des Kahals der Weisen von Zion. Sie sind es, die Rußland an sich gerafft haben, sie – die Antichristen! Sie peinigen das rechtgläubige Volk, sie schänden hohnlachend den christlichen Glauben!«

Die Mönche nickten mit den Köpfen, Abt Gerwaßij stimmte Vater Iona und Vater Doßifej bei:

»Wollen wir unser Kreuz auf uns nehmen, Brüder; wir weichen keinen Fingerbreit von den Geboten der heiligen Kirchenväter ab – sie mögen tun mit uns, was sie wollen. Tag und Nacht lasset uns beten zu unserem heiligen Vater Simeon in inbrünstigen Gebeten um ein herrliches Wunder, auf daß dieser Kelch an uns vorübergehe.«

Vater Doßifej schnarrte:

»Herr, gib, dasch diescher Kelch an unsch vorübergehe, vorübergehe!«

Vater Akindin schüttelte trübe den Kopf, seufzte und zupfte an seinem Bärtchen. Vater Jepifras, der Weihebrotbäcker – seine Brille war ihm auf die Nasenspitze hinabgerutscht, die ausgeblichenen Haare hingen in Fransen um den kahlen Schädel – blickte über den Brillenrand hinweg und sprach, die Worte in die Länge ziehend:

»Väter und Brüder, nehmen wir uns das Wort unseres Abts zu Herzen – kein Wort richten wir an die Eingetroffenen, verlassen den Tempel nicht und weichen nicht von den Reliquien unseres Heiligen. Brot und Wasser sei unsere Speise in dieser Zeit der großen Prüfung …«

Vater Iona schloß:

»Legen wir uns das Gebot strengster Fasten auf, bis der Herr uns seine Gnade widerfahren läßt und seine Hand die Glaubensschänder schlägt.«

Freunde und heimliche Feinde scharten sich um Vater Gerwaßij. Ein jeder von ihnen trug Dunkles, Ungesühntes in seiner Seele und heimliche Wünsche und Traumbilder lüsterner Weiber; zum Alter hin hatte sich das alles in Erbitterung über das im Kloster verlorene Leben verwandelt. Und im Hinblick auf das eigene sündhafte Leben verzieh jeder dem Abt um seiner Jugend willen Versündigungen und Fehltritte. Sie alle vereinte der Haß gegen Vater Polykarp, der die Lebensmittelvorräte des Klosters unter Verschluß hielt, mit ihnen geizte, alles nach Maß und Gewicht herausgab, und dazu mit jedem Tage weniger. Die jungen Mönche hingegen unterstützten Vater Polykarp, und die Starezen mit Abt Gerwaßij an der Spitze konnten nichts dagegen tun.

Abt Gerwaßij sandte den Vater Pförtner fort, er sollte die heilige Pforte schließen und niemand ins Kloster einlassen; die Ereignisse von 1905 kamen ihm in den Sinn. Der greise Pförtner, Vater Awraamij, verließ schlüsselrasselnd die Gemächer des Abts; auf dem Klosterhof begegnete ihm der Blöde.

Waßja kam von der heiligen Pforte her gelaufen; er sah verwahrlost aus, das Käppchen hatte er verloren, die ergrauten Haare flatterten im Winde.

»Was gibt's, Waßenka?«

»Er ist hingegangen, der Antichrist ist hingegangen! … Schwarz von oben bis unten, feurige Augen – ich habe ihn selbst gesehen! Er ist hingegangen!«

Ohne stehenzubleiben lief er weiter, der Abtei zu.

 

Die alten Mönche wollten sich in die Kathedrale begeben. Vater Jepifras sprach:

»Den Starez Ionikij schickt die Glocken läuten, die Seele des siechen Greises wird sich aufhellen und das Glockengeläut klingen wie die Posaune des Erzengels …«

Waßja stürzte herein und begann im Flüsterton zu murmeln – aus Angst vor dem greisen Vater Akakij sprach er schon jahrelang immer im Flüsterton.

Die Mönche schraken zusammen.

Der Abt fragte:

»Was gibt es, Waßenka, Liebster, willst du auch mit uns beten?«

Waßja gab nicht acht auf ihn, stotterte:

»Die himmlischen Mächte haben uns verlassen, ach verlassen, Väter! Ich habe den leibhaftigen Antichrist gesehen, den feuerspeienden …«

»Du hast ihn gesehen? … Den Anführer der Höllenschar?!«

»Schwarz ist er, Väter, schwarz, der Engel des Abgrunds …«

»Wen hast du gesehen, wo?«

»Zum Kloster ging er hinaus, zum Kloster … Gleich einem Drachen anzuschauen … Der Antichrist … in Gestalt eines Mönches … Ach, die Versuchung, Väter, die Versuchung …«

Abt Gerwaßij fragte:

»Du meinst den Vater Polykarp?«

»Der Antichrist war's, der Antichrist – schwarz, mit feurigen Augen –, da bekam ich einen Schreck und lief davon … Wie ein Dieb in der Nacht schlich er dahin, schwarz und lang …«

Die Mönche tauschten Blicke aus und flüsterten:

»Er ist hingegangen, er ist selbst hingegangen! …«

»Der Verräter! Er verrät das Kloster! …«

»Wir verstoßen ihn aus dem Kloster!«

Der Haushalter Vater Paißij, der zusammen mit Vater Polykarp die Lebensmittel einteilte und ihm bei der Leitung der Klosterwirtschaft behilflich war, hatte die ganze Zeit über schweigend dagesessen und geseufzt, den weißen Kopf zwischen die Schultern gezogen; erst jetzt sprach er, nachdem er sich vor den Vätern verneigt hatte:

»Durch die Verstoßung des Vaters Polykarp würden wir Schmach auf das Kloster laden, die jungen Mönche würden für ihn eintreten und ein gewaltiger Streit an heiliger Stätte entbrennen und bittere Schändung klösterlicher Demut …«

Die Mönche versanken in Sinnen, der Herbergsvater Mißail unterbrach schließlich das Schweigen:

»Wir wollen ihn fernerhin weder ansehen, noch mit ihm sprechen … Mag er leben, wie er will, allein und gemieden … Der Herr selber wird ihn strafen.«

Murmelnd wiederholten die Starezen:

»Nicht sehen! Nicht kennen! Aus Sinn und Seele verbannen den Antichrist! Also soll es geschehen.«

Lange mußte man nach dem Glöckner Vater Ionißij suchen. Und als die Glocke zu läuten begann und von den feuchten Waldgründen Sumpf- und Harzgeruch emporstieg, schien es dem greisen Glöckner, als sickerten Tropfen heiligen Weihöls wie Tau von den blauen Sternen, der zur Milchstraße zerstob, und die stieg als lichtes Band aus dem Waldesdunkel auf, erhob sich in wallenden Ballen zu den Fabrikenschloten in der Ferne und sank in schimmernden Nebeln zu Füßen der Klostermauern nieder.

 

Der schwarze Mönch trat bei den Eingetroffenen ein, nahm sein Käppchen ab und verneigte sich.

»Sind Sie der Abt?«

»Ich leite die Klosterwirtschaft und muß wissen, womit ich Ihnen dienlich sein kann.«

Erstaunte Blicke richteten sich auf den gebeugten schwarzen Mönch.

Der Schlosser Sofron, ein langer hagerer Mann mit eckigen Schultern und knotigen Fingern, antwortete:

»Wir werden auch ohne die Mönche fertig.«

Die übrigen lächelten belustigt. Ein stämmiger Gießer nahm das Wort.

»1905 hat man unsere Genossen hier mit Kosakenpeitschen bearbeiten lassen; weißt du's nicht mehr, Vater?! Es geschah gleich hier hinter der Herberge, ich weiß es noch gut!«

Vater Polykarp stand unbeweglich da, blickte unter der gesenkten Stirn hervor, furchte die Brauen.

Sofrons Augen blitzten ihn an, der Gießer stand auf; der Kerzenschein warf zuckende Schatten auf sein Gesicht.

»Was soll das mit der Klosterwirtschaft? Willst du vielleicht sagen, unsere kranken Genossen, die wir zur Erholung hierher schicken wollen, müßten helfen, euch durchzufüttern?!«

Vater Polykarp senkte die Augen, seine Hand regte sich leise, so daß die Falten seiner langen Kutte sich bewegten.

»Kranken zu helfen und ihnen zu dienen, ist Pflicht des Mönches. Wir haben den ganzen Krieg über für unsere Brüder gearbeitet, Verwundete gepflegt und ernähren auch jetzt noch heimatlose Kriegsinvaliden.«

Der Gießer musterte prüfend den Mönch und fragte:

»Ernähren wollt ihr unsere Kranken, hast du das gesagt?«

Sofron fiel seinem Genossen ins Wort:

»Eure Vorräte werden wir sowieso requirieren, Vater, eure Hilfe brauchen wir nicht.«

Vater Polykarps Stimme klang entschiedener:

»Zu requirieren gibt es bei uns nichts, die Bruderschaft hungert auch so schon fast; wenn ihr uns das letzte nehmt, so werdet ihr in einem Monat selber die Verhungernden ernähren müssen. Wir aber wollen Gemüse pflanzen, und im Herbst werden eure Genossen von uns Kohl, Kartoffeln, Gurken, Rüben erhalten. Das ist es, womit wir Mönche euren kranken Genossen nützen können.«

»Warum solltet ihr uns denn umsonst füttern?«

Vater Polykarp spürte, daß die Mauer zwischen ihm und den Arbeitern auf einen Augenblick geschwunden war, und er begann mit voller Stimme zu reden, geriet in Eifer, suchte zu beweisen, daß jedermann durch seine Arbeit anderen aus Nächstenliebe, um der Zukunft der ganzen Menschheit willen nützlich sein könne, und daß nicht alle, die sich ins Kloster geflüchtet hätten, darum Nichtstuer seien.

»Fragt unsere Mönche, was sie früher waren? Warum sie hierher gekommen sind? Was der Staat aus ihnen gemacht hat? Und jetzt, da der Druck der Obrigkeit nicht mehr auf uns lastet, wird die Kirche zu wahrhaftigem Christentum erwachen. Vergeßt nicht, daß die ersten Vorläufer des Sozialismus vor der Revolution von 1848 auf ihren Geheimsitzungen Trinksprüche auf Christus ausbrachten, den sie als ihren Lehrmeister anerkannten. Er hat die ersten Körner gesät. Ja, Jahrtausende mußten vergehen, bevor diese Saat Wurzel faßte und aufging. Ihr sagt, Religion sei unnütz, und fühlt nicht, daß eure Lehre religiös ist. In ihr liegt der tiefe Glaube an das Reich, das ihr auf Erden errichten wollt, und dieses Reich ist das Reich von Nazareth, und ihr selbst kommt aus Nazareth, um eine neue, lebendige, tatkräftige Kirche auf Erden zu errichten, an Stelle unserer heutigen Kirche …«

Hoch, schwarz, hager stand er da in der langen Kutte und schwankte leise, durch seine Gedanken erregt; scharfe Schatten zuckten über sein Gesicht; er sprach aus, was er lange Jahre heimlich in sich getragen hatte.

Der Schlosser unterbrach ihn fröhlich:

»Einstweilen wollen wir jedenfalls mit unserer heutigen Kirche aufräumen!«

Vater Polykarp antwortete schnell, und einen Augenblick weiteten sich seine Augen und leuchteten auf:

»Wenn sich alle der neuen Kirche angeschlossen haben, ist die alte nicht mehr.«

Der Gießer, der dem Mönche schweigend zugehört hatte, sagte zum Abschied:

»Warum steckst du in dieser Kutte, Mann?!«

Die Klosterglocke brummte, ein feiner Sprühregen sickerte leise vom Himmel, und aus dem durchlöcherten Schnee lösten sich murmelnde Frühlingsbächlein.

Ein Novize ließ Vater Polykarp durch die Pforte bei den Pferdeställen ins Kloster ein.

 


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