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[7]

Die Novizen, die die goldenen Späne gehobelt hatten, und viele andere wurden als Dienstpflichtige eingezogen; ein Teil der Pferde des Klosters wurde requiriert; das Kloster lag wieder öde und verlassen da, die Wallfahrer blieben fort, die Mönche ließen die Köpfe hängen. Einsam stand in der Nische der neuen Kathedrale links vom Altar der Silbersarkophag des heiligen Starez; in dumpfem Flüsterton sangen die Skimniki endlos Psalmen, die sie alle auswendig kannten. Vater Gerwaßij ging bedrückt einher, hatte er doch auf einen ununterbrochenen Zustrom glänzender Einkünfte gerechnet und gehofft, daß der Ruhm von den Wundertaten des Starez und seines Waltens als Abt über die Lande ziehen würde. Der Landeshauptmann traf ein und begab sich geradeswegs in die Abtei – die Novizen steckten erschrocken die Köpfe zusammen – vielleicht sollten wieder einige von ihnen eingezogen werden! Kostja öffnete die Tür, geleitete den Polizeioffizier ins Empfangszimmer und lauschte im Vorraum auf das Gespräch drinnen.

»Ich kann nichts machen, Vater Abt – Verordnung des Gouverneurs! Man kann ja die Leute auch nicht auf der Straße lassen …«

»Es wäre aber Ärgernis und Versuchung für die Bruderschaft, dies ist doch ein Kloster mit strenger Regel!«

»Ich habe den Befehl, Ihnen die Verordnung zu melden. Persönlich habe ich keinen Einfluß auf die Angelegenheit und erfülle nur meine Pflicht.«

»Wo sollen wir sie aber unterbringen?«

»In Ihren Landhäuschen, die ja leer stehen, und in den Baracken … Morgen trifft der erste Zug ein – die Mönche können den Unglücklichen behilflich sein!«

»Und wer soll für ihre Verpflegung sorgen? Unser Kloster ist arm, die Bruderschaft ernährt sich dürftig …«

Dem Polizeioffizier riß die Geduld, er sagte im Befehlstone:

»Senden Sie Wagen zum Zug und bringen Sie die Leute in den Landhäuschen und Baracken unter. Den Verfügungen der Militärbehörden ist widerspruchslos Folge zu leisten, Vorstellungen wären aussichtslos.«

Erregt eilte der Abt zu Vater Polykarp.

»Flüchtlinge aus der Kriegszone sollen hier untergebracht werden?«

»Das ergäbe viel Ärgernis für die Bruderschaft, Vater Polykarp … Reichen Sie ein Gesuch an den heiligen Synod ein, retten Sie unser Kloster … Die Leute werden uns arm essen, uns ausplündern …«

»Wir müssen uns fügen.«

 

Am frühen Morgen hielt ein Güterzug auf einem Nebengeleise, und die Ankömmlinge machten sich daran, Körbe, Säcke, Bündel aus den Wagen zu zerren, und musterten neugierig den kleinen Bahnhof und den Wald ringsum. Der leere Zug ging ab, die Leute warteten, umringten den diensthabenden Mönch, der gewöhnlich die Züge ablief und, ein kleines Glöckchen schwingend, Spenden für das Kloster sammelte.

Die Flüchtlinge setzten sich auf ihr Gepäck in Familien zusammen, öffneten Körbe, aßen, tranken dazu Wasser aus Teekesseln; der Bahnsteig war bald mit Abfällen und Papierfetzen übersät. Militärzüge rollten vorüber, der Stationschef raste zur Lokomotive, verschwand wieder im Dienstraum, telegraphierte.

»Militärzug 269 ausgelaufen.«

Die Nachbarstation rief ihn aufs neue an den Apparat, er stürzte heraus, rief dem Weichensteller zu:

»Aus Mylinka ein Militärzug – aufs Nebengleis!«

Die Flüchtlinge streiften auf dem Bahnsteig umher, umringten den Stationschef.

»Wann wird man uns denn von hier abholen?«

»Das ist mit nicht bekannt. Verzeihung, ich habe keine Zeit! Das ist nicht meine Angelegenheit.«

»An wen sollen wir uns denn wenden? Wir sind bereits eine Woche unterwegs, Kinder sind da …«

Ein blondes junges Mädchen sagte mit heller Stimme in leicht singendem, polnischem Tonfall, wobei sie kokett mit den Augen spielte:

»Wie wenig zuvorkommend Sie sind! … Sagen Sie, wohin wird man uns bringen? Wo liegt das Kloster?«

Ein Pfiff schrillte vor dem Einfahrtsignal, der Stationschef fuchtelte verzweifelt mit den Armen und stürmte in das Dienstzimmer.

Der diensthabende Mönch starrte die Ankömmlinge erschrocken an und wußte nicht, was er tun sollte.

»Der Vater Abt hat mir gar keine Nachricht zukommen lassen … Ich weiß von nichts …«

»Aber hier können wir doch nicht ewig sitzen!«

»Ist es weit bis zu Ihrem Kloster?«

Der Mönch wackelte mit dem Kopf, breitete die Arme aus.

»Ja, bis zum Kloster ist es weit, sehr weit …«

»Vielleicht könnten wir zu Fuß hingehen?«

»Es geht an Sümpfen vorüber, Sie könnten einsinken … Wenn man den Weg nicht kennt, kann man sich leicht im Walde verirren …«

 

Ein Militärzug hielt auf dem Nebengleis, Soldaten sprangen aus den Wagen, liefen mit Feldflaschen nach Teewasser. Der Führer des Transportes schritt martialisch feierlich auf den Stationschef zu, beide grüßten, der eine kurz, militärisch stramm, der andere mit komisch gespreizten Fingern und verdrehter Hand.

Zusammen begaben sie sich in den Telegraphenraum, der Apparat klapperte wieder, dann trat der Offizier eilig aus der Tür, schritt zum Zuge, winkte mit der Hand, der Hornist blies schrill das Signal zum Einsteigen – das Echo rollte lange klingend durch den Wald –, die Lokomotive pfiff, langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Die Soldaten blickten aus den Wagen auf die Flüchtlinge, schrien hurra und begannen zu singen.

 

Der diensthabende Mönch hatte einen Novizen ins Kloster gesandt und nahm an, daß der Abt selber erscheinen und erklären würde, das Kloster könne solch eine Menschenmenge nicht aufnehmen.

Der Novize kam schwer atmend im Kloster an.

Der Pförtner Vater Awraamij trat auf ihn zu.

»Wo kommst du her? Was ist geschehen?«

»Sie sind da!«

»Wer?!«

»Flüchtlinge, der ganze Bahnsteig ist voll – wo die bloß bleiben sollen!«

Schnell verbreitete sich die Neuigkeit im Kloster, die Mönche steckten die Köpfe zusammen …

Der Abt hatte die Flüchtlinge nicht so früh erwartet und eilte zu Vater Polykarp.

»Was sollen wir machen – sie sind schon da!«

»Senden Sie Wagen zum Bahnhof.«

Der Abt eilte zu den Pferdeställen, traf unterwegs Paißij, den Vater Haushälter, und befahl ihm, für Mittag zu sorgen.

»Sie werden wohl ausgehungert sein, sind vor den Deutschen geflüchtet – man muß ihnen was zu essen geben.«

Er schickte die Wagen, mehrere Mönche und den Herbergsvater Mißail zum Bahnhof.

 

Eine grauhaarige Dame, mit gebrannten Locken, in Hut und Handschuhen, setzte Vater Mißail zu; mit gekränkter Stimme und ausgeprägt polnischem Akzent sagte sie, zugleich an ihre Tochter und den Herbergsvater gewandt:

»Warte, Soßja – der Vater hier wird uns helfen.«

Das Gepäck nahm fast alle Wagen in Anspruch, nur die alten Leute und die Kinder konnten fahren, die jüngeren schritten zu Fuß nebenher.

Frau Karcevskaja klagte die ganze Zeit, daß sie müde sei und nicht gehen könne; die spitzen Absätze sanken tief in den Sand, der in die offenen Schuhe drang; alle Augenblicke blieb sie stehen, lehnte sich an einen Baumstamm, schüttete den Sand aus und schrie ihrer Tochter schrill nach:

»Soßja, Soßja, warte doch auf mich – ich kann nicht, kann nicht mehr!«

Das junge Mädchen lächelte, winkte der Mutter mit der Hand, rief trotzig zurück:

»Ich muß beim Gepäck bleiben; ziehen Sie doch Schuh' und Strümpfe aus!«

Aufs neue ertönte die kreischende Stimme ihrer Mutter:

»Herrgott, Jungfrau Maria, das gibt mir den Rest! … Ich komme niemals hin! Soßja!«

Das junge Mädchen antwortete nicht, zuckte lässig die Achseln und schritt hinter dem Gepäckwagen weiter.

 

Der Abt empfing die Flüchtlinge und überwachte die Unterbringung. In dem letzten Landhäuschen wies er ein Eckzimmer, dessen Fenster nach dem Wald hin lagen, Frau Karcevskaja und ihrer Tochter an und befahl Vater Mißail, für die Damen zu sorgen.

Die hellblauen Augen, blonden Haare, das kecke Stumpfnäschen und die kapriziöse, aufreizende Stimme des jungen Mädchens zogen den Abt an. Er warf ihr verstohlene Blicke zu und dachte, es sei wirklich ein herrschaftliches Fräulein, aber dann erinnerte er sich, daß er Abt war und daß es sich für ihn nicht geziemte, Soßja anzusehen und sich mit ihr zu unterhalten; er verabschiedete sich und widmete sich den übrigen Flüchtlingen.

 

Die Flüchtlinge, in die Weltabgeschiedenheit des Klosterwaldes verschlagen, plagten die Mönche mit Annäherungsversuchen, klagten über ihr schweres Los; früher hätten sie ruhig, in gesicherten Verhältnissen gelebt, nun müsse eine ganze Familie in einem Zimmer zusammengepfercht wohnen, die Unterstützung, die sie von der Regierung erhielten, reiche nicht aus, um auch nur das Leben zu fristen. Die Mönche zeigten den ungebetenen Gästen die kalte Schulter, der Abt ging wütend auf dem Klosterhof einher, sah er doch, daß die Flüchtlinge neugierig in die Zellen der Mönche einzudringen suchten und die Klosterregel unbekümmert verletzten. Er hatte die nach außen hin streng durchgeführte Wohlanständigkeit des Klosterlebens schätzen gelernt und war der Ansicht, daß er es dahin gebracht habe; Vater Polykarp hatte nur geredet, gehandelt hatte er, der Abt, und er hatte die dabei entstandenen Unannehmlichkeiten, die Unzufriedenheit der Bruderschaft auf sich nehmen müssen. Ärgerlich sagte er zu Vater Mißail:

»Der sitzt in seiner Zelle mit seinem entlaufenen Studenten, ich aber muß den ganzen Tag herumrennen, habe keinen Augenblick Ruhe, nicht einmal zum Beten kommt man!«

Jeden Tag ging er zu den Landhäuschen hinaus, um nachzusehen, wie die Flüchtlinge sich eingerichtet hatten, ob sie in Frieden und Eintracht lebten; wie zufällig sprach er dann auch im Eckzimmer vor.

Die Mutter sagte mit weinerlich klagender Stimme:

»Sie wissen nicht, wie schwer, wie niederdrückend solch ein Leben ist! … Soßja, rücke dem Vater Abt einen Stuhl heran.«

Das junge Mädchen spielte geziert mit den Schultern und rückte herausfordernd lächelnd einen Stuhl näher.

»Könnten wir nicht Milch bekommen, Vater?«

»Ich will auf dem Viehhof Bescheid sagen; Milch können Sie haben …«

»Es ist für meine Tochter, Soßja ist so zart, sie kann vieles nicht essen …«

Soßja verzog den Mund hinter dem Rücken des Mönchs, und ihr Gesicht wurde böse, höhnisch. Den ganzen Tag zankte sie mit ihrer Mutter; wollte nichts tun, die Mutter mußte sie bedienen, aufräumen, die Wäsche waschen.

»Sie haben es nicht vermocht, mich an den Mann zu bringen, und nun wollen Sie eine Köchin aus mir machen!«

»Soßja, wenn du wenigstens deine eigenen Sachen in Ordnung halten, dein Bett machen wolltest …«

»Vergessen Sie nicht, daß ich ein Edelfräulein bin, Pan Gebun hat mir den Hof gemacht, und Sie, Sie allein sind schuld daran, daß es nicht zur Hochzeit gekommen ist! Und jetzt soll ich noch für Sie arbeiten – das will ich nicht und tu ich nicht!«

»Dein Pan Stanislaw Gebun war nach Geld aus, und du weißt doch, wir besitzen keins, Soßja …«

»Aber wie? Andere Mädchen haben doch eine Mitgift! Ihretwegen hat Pan Stanislaw mich verlassen.«

»Du bist selbst daran schuld, hast nicht verstanden, ihn an dich zu fesseln.«

»Wie hätte ich ihn denn an mich fesseln können?«

»Ein polnisches Mädchen weiß, wie man den Geliebten an sich fesselt. Leider habe ich einen Russen geheiratet, und das gemeine Blut ist auf dich übergegangen. Ich habe die Männer an mich gefesselt, ich wußte, wie man das tut …«

»Ich habe mich ihm ja hingegeben … wie Sie mir rieten.«

»Du hast nicht verstanden, ihn zu halten, das ist es!«

Den ganzen Tag über saß Soßja am Fenster und reizte ihre Mutter; Zank entstand, der mit Weinkrämpfen endete. Frau Karcevskaja, immer zerzaust und zerknüllt, immer in einem alten Morgenkleid, verstummte, machte sich im Zimmer zu schaffen, sprach nicht mit ihrer Tochter. Im Zimmer herrschte immer Unordnung, die Kleider lagen umher, nur das Auffälligste wurde husch-husch in einen Winkel gestopft, und das Aufräumen war beendet. Bloß nicht arbeiten! Soßja rekelte sich bis Mittag im Bett, träumte von Männern, von den schönen Zeiten, da Pan Stanislaw sie küßte, sie ihm Szenen machte, sich ihm aber trotzdem hingab. Sie streckte und dehnte sich, öffnete verschlafen die Augen, die matt und faul blickten, sank wieder in Schlummer, bis sie schließlich hungrig wurde, das Gesicht verzog und die Mutter anfuhr:

»Was geben Sie mir denn keinen Kaffee?«

»Aber so steh doch auf, zieh dich an!«

»Mich lassen Sie verhungern, Sie haben schon längst getrunken … Bloß für Ihre Patiencen haben Sie immer Zeit!«

»Ich bin den ganzen Tag auf den Beinen, vom frühen Morgen an, eben erst habe ich mich ein bißchen hingesetzt.«

»Werde ich Kaffee bekommen oder nicht?«

Soßja sprang aus dem Bett und setzte sich im bloßen Hemd an den Tisch.

Die Mutter schenkte ihr Kaffee ein, Soßja trank einen Schluck, verzog das Gesicht und schob ihre Tasse klirrend zurück.

»Wieder ist der Kaffee ganz kalt … Sie haben heißen Kaffee getrunken, für mich ist diese Jauche gut genug! Das trink ich nicht, und essen werde ich auch nicht, lieber sterbe ich vor Hunger.«

Soßja brach in Tränen aus. Ihre Mutter zündete den Primuskocher an, machte den Kaffee heiß, stellte ihn der Tochter hin, die, das Gesicht ins Kissen gebohrt, auf ihrem Bett schluchzte.

»Nun, komm, trink deinen Kaffee, sonst wird er wieder kalt, und noch einmal mach ich ihn nicht heiß.«

Ihrer Mutter bitterböse Blicke zuwerfend, trank Soßja Kaffee. Der Hemdstreifen glitt von der Achsel, eine fraulich runde Brust schnellte hervor, ein paar verwühlte Haarsträhnen fielen über die Schultern auf das Tischtuch, ringelten sich um die Kaffeeflecke, die Soßja gemacht hatte, sie stand auf, warf das Haar zurück und trat ans Fenster, ohne das Hemd emporzustreifen; träge starrten ihre Augen in den Wald, über dem das feine Spinngewebe eines herbstlichen Sprühregens wie ein Schleier hing.

Die Mutter fuhr sie an.

»Schamloses Ding! Stellt sich nackt den Mönchen zur Schau!«

»Niemand ist da, keine Menschenseele – in eine Bärenhöhle hat man uns gestopft! Na und wenn mich die Mönche auch sehen sollten – haben Sie's mit dem Kszends Sawichowskij nicht ebenso gemacht? …«

Frau Karcevskaja wurde über und über rot, und der Krach war wieder da.

»Wie wagst du es, so etwas zu sagen, du niederträchtiges Geschöpf! Der Pan Kszends Kasimir war ein heiliger Mann, ein Heiliger war er!«

»Seiner großen Heiligkeit wegen ließ er Sie wohl auch immer des Abends zur Beichte zu sich kommen – als ob ich ihn nicht kenne!«

»Ich habe mich geopfert, um dich vor seinen Nachstellungen zu retten … Und nun machst du mir Vorwürfe!«

»Habe ich Sie denn gebeten, mich vor ihm zu retten?! Nachdem Pan Stanislaw mich verlassen hatte, war mir alles eins – ich hätte gar nichts dagegen gehabt, Haushälterin beim Pan Kszends zu sein – und wäre glücklich gewesen! Und jetzt soll ich mir nicht einmal die Mönche ansehen dürfen – bin ich denn ein jungfräuliches Mädchen!«

Kurz vor dem Mittagessen begann Soßja sich anzukleiden, suchte lange nach ihren Strümpfen, die sie am Abend irgendwohin geworfen hatte. Frau Karcevskaja mußte ihr suchen helfen, Soßja behauptete, ihre Mutter habe beim Aufräumen die Strümpfe verlegt, setzte sich, als die Strümpfe schließlich gefunden waren, mit untergeschlagenen Beinen aufs Bett, betrachtete die Strümpfe lange und eingehend, und brach in Klagen darüber aus, daß die Mutter sie nicht standesgemäß kleide, darum mache ihr jetzt niemand den Hof.

»So deck' dich doch zu, zieh wenigstens das Hemd herunter, schamloses Ding! Vor deiner Mutter wenigstens solltest du dich schämen, bist doch schon sechsundzwanzig Jahre alt …«

Frau Karcevskaja ging nach der Herberge hinüber, um aus der Küche das Mittagessen zu holen, das aus einem gemeinsamen Kessel an die Flüchtlinge verteilt wurde. Soßja, halb angekleidet, löffelte die Kohlsuppe und verzog angewidert das Gesicht.

»Woraus das die Leute nur kochen! Schauerlich!«

Trotzdem aß sie und angelte sich die Stintstücke heraus.

Die Mutter räumte ab, stopfte die Sachen, die auf allen Stühlen herumlagen, in Ecken und Winkeln, Soßja brannte sich das Haar, puderte sich, zog Brauen und Wimpern mit dem Schwarzstift nach, legte Karmin auf die Lippen, zog eine tief ausgeschnittene Bluse an und setzte sich ans Fenster, Ausschau haltend. Vielleicht sprach dieser bildschöne Mönch, der Abt vor … Ihre Mutter legte inzwischen endlose Patiencen, behutsam eine speckige Karte nach der anderen von dem Häufchen hebend. Schweigen herrschte.

Wenn der Abt kam, war die früh gealterte Polin ganz liebende Mutter, erzählte ihm mit polnischem dünkelhaftem Stolz von ihrem imaginären Reichtum, von den Erfolgen ihrer Tochter, die ihren reichen Verehrer, den Pan Stanislaw längst geheiratet hätte und nun gleich einer Königin in Glanz und Luxus leben würde, wenn der Krieg mit den Deutschen nicht dazwischen gekommen wäre; beider Leben hätten diese Schwaben zertreten.

Nikolka warf der kleinen Soßja heimliche Blicke zu, wurde rot; seine Augen sanken unwillkürlich in den Blusenausschnitt, wenn das junge Mädchen sich vorbeugte und ihre Brüste weich und leise bebten, seufzte, sah die Mutter an, sagte, die Worte dehnend, in samtenem Bariton:

»Eine große Heimsuchung hat der Herr über die Menschheit geschickt, eine schwere Heimsuchung! … Aber verzaget nicht. Der Herr ist gnädig – er hat Ihnen das Glück beschert, Ihr einziges Töchterlein vor dem grausamen Feinde zu retten …«

Längere Zeit bei den Flüchtlingen zu bleiben, wagte Nikolka nicht; er besuchte alle der Reihe nach und erlaubte sich nur, im Eckzimmer einige Minuten länger zu verweilen.

 

Am Abend legte Frau Karcevskaja wieder Patiencen, Soßja zog sich aus und ging zu Bett, um sich vor dem Einschlafen herumzurekeln und zu träumen. Mutter und Tochter plauderten friedlich. Frau Karcevskaja hatte auf die verstohlenen Blicke des Abtes angespielt und fügte hinzu:

»Russische Mönche sind reich, Soßja!«

Das junge Mädchen biß sich die Lippen und sagte ärgerlich:

»Darum machen Sie sich wohl auch so niedlich, wenn der Abt da ist – wohl in Erinnerung an den Pan Kszends …«

»Schäm' dich, Soßja – um deinetwillen bin ich freundlich zu ihm, ein junges Mädchen kann sich doch nicht gleich einem Manne an den Hals werfen, mag er noch so reich und hübsch sein, und russische Mönche kennst du noch gar nicht …«

»Ach, alle Mönche sind sich gleich!«

Nikolka dachte auf dem Heimwege an Soßjas türkisfarbene Augen, an die Ringel und Locken ihres blonden Haares, die dunklen, gefärbten Brauen, die zarten Hände mit den billigen Ringen, ihre kecken Blicke und die rosigen, vibrierenden Nasenflügel. Er spürte den Duft eines schweren Parfüms, das dem Körper des jungen Mädchens zu entströmen schien, und erschauerte, ihres tiefen Brustausschnittes gedenkend. Aber Vater Polykarp war da und die Späheraugen der Mönche, neues Gerede könnte entstehen, er durfte es nicht einmal wagen, in das letzte Landhäuschen öfter einzukehren als in die anderen …

 

Die Mönche schüttelten die Köpfe über die Flüchtlinge und sagten finster:

»Ihr solltet dem Allmächtigen danken, daß er euch aus der Hand der grausigen Feinde gerettet hat … Ihr Wilhelm, das ist der Antichrist, über ihn und seine Heerscharen heißt es ja in der Heiligen Schrift: ›Und ich sah Rosse, und die darauf saßen, hatten feurige und bläulichte und schwefelichte Panzer; und die Häupter der Rosse waren wie die Häupter der Löwen, und aus ihrem Munde ging Feuer und Rauch und Schwefel …‹ Doch der Herr ist gnädig und wird den Antichrist vernichten, und das rechtgläubige Heer wird seine Heidenscharen schlagen! …«

 

Zu Beginn des Frühjahrs traf eine Militärkommission im Kloster ein und besichtigte die leerstehenden Herbergen. Die Offiziere gingen zum Abt und erklärten:

»Die Herbergen sind zur Aufnahme eines Kriegslazaretts herzurichten.«

Vater Gerwaßij sah die Offiziere ergeben an und fragte zag:

»Die Herbergen sind doch für Wallfahrer bestimmt, von denen das Kloster lebt … Was soll aus der Bruderschaft werden?!«

»Die Mönche können Sanitäter werden, barmherzige Brüder.«

Vater Polykarp trat ein – zum ersten Male seit langer Zeit kam er in die Abtei –, in hoher Mütze und Soutane, das Abzeichen der Akademie am schwarzen Kragen. Er segnete kurz die Offiziere, ließ sich die Sache noch einmal vortragen und sagte ruhig und sicher:

»Gestatten Sie, daß sich die Bruderschaft aus Menschenliebe an dem christlichen Werk beteiligt.«

Der Chefarzt wiederholte, daß sich die Mönche als Sanitäter nützlich machen könnten.

»Was sollten sie auch weiter tun!«

»Ich denke, das Kloster könnte den Transport der Verwundeten vom Bahnhof übernehmen, wenn Sie gestatten; wir haben noch genug Pferde da.«

Der Hauptmann nickte erfreut.

»Ein ausgezeichneter Gedanke, Vater, so sparen wir an Leuten. Wer würde die Sache leiten?«

»Ich und der Vater Abt.«

Nikolka nickte zustimmend und sagte in singendem Bariton:

»Die Bruderschaft wird sich freuen, dem Vaterlande nützlich sein zu dürfen.«

Der Hauptmann wandte sich an Vater Polykarp:

»Wenn wir das Mehl liefern, könnte das Kloster vielleicht auch Brot backen für die Verwundeten und das Personal?«

»Sowohl das Brotbacken als auch die Zubereitung der Speisen nimmt das Kloster gern auf sich. Außerdem sind hier Flüchtlinge untergebracht – es werden sich unter ihnen viele Frauen finden, die als Krankenschwestern nützlich sein könnten …«

Zusammen mit der Kommission ging Vater Polykarp in die Herbergen hinüber, um zu bestimmen, welche Räume für die Verwundeten, welche für das Personal herzurichten seien. Der Abt stand schweigend daneben, war mit allem einverstanden und dachte, der Schwarze werde auch hier wieder den Herrn spielen.

 

Am Abend ließ Vater Polykarp den Abt zu sich kommen.

»Die Arbeit wird die Mönche von der Versuchung ablenken, und wenn sich jemand auch einmal versündigt, selbstvergessene Arbeit macht es wieder gut. Das Kloster hat jetzt keine Einkünfte, wie Sie wissen, darum heißt es arbeiten. Die Kranken werden viel Milch brauchen, sorgen Sie dafür, daß die Milchwirtschaft auf dem Vorwerk verständig geführt wird. Mutter Arefia ist zu alt dazu. Milch und Milchprodukte werden an das Lazarett verkauft werden. Die Vorsteherin des Vorwerks soll die Wirtschaft in die Hand nehmen und über die Lieferungen Buch führen.«

Nikolka zuckte, doch Vater Polykarp nannte Arischas Namen nicht.

»Unsere Pferde werden also auf Kosten der Heeresleitung gefüttert werden. Das Übergewicht beim Brotbacken verbleibt dem Kloster, das heißt, daß die Hälfte der Bruderschaft dadurch mit Brot versorgt sein wird. Die im dienstpflichtigen Alter stehenden Novizen wird das Kloster in Zukunft behalten dürfen – als Sanitäter –; wer will, kann aber auch unverzüglich eingekleidet werden.«

Vater Gerwaßij verließ den Schwarzen schweigend und dachte bei sich: Der Satan, fürwahr der leibhaftige Satan – Gott vergebe mir! Da hat er wahrhaftig die ganze Kommission sich um den kleinen Finger gewickelt!

 

Der Novize Boris hatte hinter dem Abt die Tür geschlossen, trat in Vater Polykarps Zelle, kniete nieder und verneigte sich vor dem Mönch.

»Was hast du?«

»Ich möchte die Weihen empfangen und bitte um Ihren Segen dazu, Vater.«

Vater Polykarp sah Boris lange und aufmerksam an und sagte schließlich mit ernster, tiefer Stimme:

»Vergiß aber nie – du gehörst dem Leben und das Leben gehört dir!«

Er erhob sich und fuhr in seinem gewöhnlichen, strengen Tone fort:

»Sei es denn; sollst mir ein Helfer sein.«

 

Vom nächsten Tage an kamen viele Novizen, einer nach dem anderen, zu Vater Polykarp und baten um seinen Segen zur Einkleidung, doch sandte er alle zum Abt.

»Das ist Sache des Vaters Abt, bittet ihn um seinen Segen.«

 

Der Tag der Einkleidung blieb Boris sein Leben lang im Gedächtnis. In langem weißem Hemd, mit glattgekämmtem herabhängendem Haar, äußerlich durch ein Bad, innerlich durch Fasten und Gebet gereinigt, wurde er von den alten Mönchen in Soutanen, die ihn wie schwarze Todesflügel streiften, umringt und zum Altar geleitet, wobei sie ein Lied von Unbeflecktheit und von Entsagung sangen, von Entsagung der Erde und dem Leben. Verzückt flüsterte er:

»Ich gehe zu dir, auf immer zu dir!«

Er wagte nicht, den Namen des Herrn zu nennen, doch jeder Atemzug, jeder Gedanke, jeder Blutstropfen in ihm empfand die Nähe des Allmächtigen.

 


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