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9

Es war bereits Mitternacht, als Afonka bei den Schwestern ankam. Er mußte lange an der Tür pochen, bis schließlich die ältere, nur mit einem Nachthemde bekleidet, erschrocken erschien und durch die spaltbreit geöffnete Tür guckte. Sie erkannte Afonka nicht gleich und machte sich mit zitternder Hand an der Sicherheitskette zu schaffen.

»Schlaft ihr aber fest – mach' schnell, Anjutka!«

»Wer ist denn da?«

»Erkennst deinen Herzensfreund nicht mehr?«

Erfreut und erschrocken flüsterte sie:

»Afonja! Du bist es, Lieber – wir hatten dich nicht erwartet …«

»Was bist du denn so erschrocken?«

»Wir haben einen Gast.«

»Wer ist es?«

»Dein Freund – Chljupin …«

»Na, solche Freunde habe ich an jeder Straßenecke.«

Er trat geräuschvoll ein und weckte Shenja und den Gast, die zusammen im Bett lagen. Chljupin erkannte Kaljabin, sprang auf und setzte sich auf den Bettrand; er zwinkerte mit den feigen Äuglein und bemühte sich krampfhaft, seinen Hemdkragen zuzuknöpfen, doch seine Finger glitten immer wieder ab, während er lispelte:

»Afanassij Timofejewitsch! Wo kommen Sie plötzlich her?! … Lange haben Sie sich nicht blicken lassen … Auf so angenehme Gesellschaft haben wir gar nicht gehofft …«

»Müssen Sie nicht zu Ihrem Zug?«

»Wieso denn? Und um diese Zeit gibt es ja gar keine Züge …«

»Also, ich habe extra für dich einen Zug bestellt. Zieh dich schnell an und troll' dich, sonst kommst du zu spät, verstanden? …«

»Aber wo soll ich denn plötzlich hin, Afanassij Timofejewitsch? Bei nachtschlafender Zeit! Ich fühle mich hier bei Shenja ganz wohl.«

»Ich werde mich auch nicht bei ihr langweilen! Schmeiß ihn raus, Shenja!«

»Afonja, Lieber, doch nicht jetzt in der Nacht …«

»Hat er denn was gezahlt?«

»Er hat uns was vorgesetzt …«

»Was er dafür ausgegeben hat, bezahle ich ihm; meine Mädel aber kriegt niemand umsonst …«

Die Schwestern hatte Afonkas unerwartetes Erscheinen erschreckt; es lag ein neuer, unangenehmer Ton in seiner Stimme, und sie wußten nicht recht, ob sie sich freuen sollten oder nicht. Aber jedenfalls war es komisch, Chljupin zuzusehen, der sich mit überstürzter Eile ankleidete und auf dem Fußboden nach seinen Stiefeln umherscharrte. Seine Augen huschten feig und bös umher, bemüht, Afonkas Blick auszuweichen.

Schließlich war er fertig, schlüpfte schweigend zur Tür hinaus und sah sich noch einmal nach den Zurückbleibenden um. Als Afonka ihn die Stufen hinabeilen hörte, trat er auf den Flur und rief ihm nach – so laut, daß es auch die Schwestern hören mußten –:

»Man sieht, du hast noch nicht vergessen, wie du die Treppe hinuntergeflogen bist! … Und daß du dich nie wieder hier blicken läßt!«

Afonka kehrte ebenso geräuschvoll zurück, setzte sich, sagte:

»Nun, meine lieben Schwesterlein, diesmal bleibe ich lange bei euch, vielleicht immer! Habt ihr verstanden? Ich werde euch beide lieben – kommt mal her, fix!«

Er nahm beide Schwestern auf den Schoß und umschlang sie.

»Wenn euch einfallen sollte, auszukneifen, so könnt ihr sicher sein, daß ich euch schon wieder aufspüre, und dann erlebt ihr was!«

»Lieb' uns nur, Afonja, dann wollen wir alles tun, was du verlangst!«

Shenja schmiegte sich an ihn und flüsterte:

»Lieber, für deine Liebe gebe ich mein Leben hin, lieb mich nur tüchtig!«

»Beide will ich lieben, Shenja vielleicht ein bißchen mehr – sei mir nicht bös drum, Anjuta – du bist auch ein gutes Mädel …«

 

Eine ganze Woche lang vergnügte sich Afonka mit den Schwestern, ohne auch nur das Zimmer zu verlassen; es wurden Festgelage gehalten, das letzte Geld vom Ingenieur taute dahin, Afonka umarmte bald die eine, bald die andere, rief mit schallendem Lachen:

»Na, habt ihr jetzt genug?! Nicht nur für zweie – auch für zehne reicht es bei mir.«

Als ihm das Geld fast ausgegangen war, schickte er Anjuta zum Krämer nach einem Briefbogen und einem Umschlag und schrieb mit einem kleinen Bleistiftendchen einen Brief an den Ingenieur Drakin.

»Hochverehrter Herr Ingenieur Drakin! Äußerst mißgünstige Umstände und mancherlei Gebrechen haben meine kargen Mittel erschöpft. Und da Sie zu bemerken beliebten, daß meine Dienstleistung nicht genügend bewertet worden sei, erlaube ich mir, mich mit der untertänigsten Bitte um ein Darlehen an Sie wenden, dessen Höhe zu bestimmen ich dem Wohlwollen überlasse, das Sie entgegenbringen Ihrem ergebenen Diener Afonka Kaljabin.«

Die ältere Schwester steckte das Schreiben in einen Briefkasten.

»Braucht nicht die Köpfe hängen zu lassen, Mädels! Hilft alles nichts – wird sich bequemen müssen, mir das Geld zu schicken. Ich habe ihm da eine kleine Gefälligkeit erwiesen …«

Wenige Tage später traf eine Postanweisung auf dreihundert Rubel ein, und Afonka lebte weitere zwei Wochen lang mit den Schwestern in Saus und Braus. Als es wieder aus war mit der Herrlichkeit, wollte er sich nicht noch einmal an den Ingenieur wenden und erklärte verächtlich:

»Geizkragen sind sie alle, die Lumpen! … Macht nichts, wir kommen auch ohne Dero Gnaden Hilfe durch!«

 

Die ältere Schwester hantierte in Küche und Stube, Shenja lag meist im Bett und tauschte Zärtlichkeiten mit Afonka aus. Am Abend gingen sie alle drei auf Arbeit … Die Schwestern schritten Arm in Arm durch die Straßen, Afonka folgte ihnen in einiger Entfernung und beobachtete. Alles Geld wurde ihm ausgehändigt, aber er hing nicht am Gelde, teilte ehrlich, gab soviel nötig war zur Wirtschaft heraus und legte sogar kleine Summen beiseite, als Notgroschen für die Tage, da nicht gearbeitet wurde.

Die Freundinnen der Schwestern beneideten diese.

»Unser Freund nimmt uns den letzten Groschen fort – selbst wenn wir eine Haarnadel brauchen, müssen wir unser eigenes Geld von ihm stehlen!«

Afonkas neue Freunde machten sich über ihn lustig:

»Steht unter Shenjas Pantoffel, läßt sich von ihr um den kleinen Finger wickeln.«

Wie früher ging Afonka mürrisch einher, Erbitterung sprach aus seinem Blick, die Gäste der Schwestern betrachtete er als seine Feinde – tief in ihm, wie vermauert, schlummerte noch das Gedenken an die Zeit, da er in den Schenken an die Menschen herangetreten war, auf der Suche nach Wahrheit, jener Wahrheit, um derentwillen man nach Sibirien verschickt wurde. Und wenn betrunkene Studenten zu den Schwestern kamen, ballte er grimmig die Fäuste, dachte, die würden gewiß nicht nach Sibirien kommen, die hatten nichts zu befürchten – ihren Fräuleins da redeten sie was von Freiheit vor, selbst aber kauften sie sich Mädchen für drei Rubel und suchten noch etwas von dem Preise abzuhandeln.

»Ihr habt nachher nicht mit euren Studenten herumzusitzen; wenn ihr fertig seid, marsch wieder auf die Straße!«

 

Ein Jahr war vergangen. Jetzt ließ er die Schwestern auf dem Newskij umherstolzieren, hatte sich auch selbst geckenhaft herausgeputzt, trug kurze Sporthosen und einen schneidigen Rock dazu, saß im Café Andrejew den ganzen Tag vor einer Tasse Kaffee.

Die Zuhälter und Kuppler fürchteten und haßten ihn, verkehrten nur beruflich mit ihm. Streit mit ihm mieden sie – Afonka fuhr leicht auf, zog das Messer …

Die ältere Schwester erkrankte; Afonka sagte zu Shenja:

»Jetzt gehe ich auch auf Arbeit!«

»Was für Arbeit, Afonka?«

»Stelle mich an die Ecke der Sadowaja Straße.«

»Du willst dich verkaufen?!«

»Meinst du denn, ich soll dich bis aufs Blut ausnutzen? Das mögen andere tun!«

Die Erzählung des betrunkenen semmelblonden Beamten von seinem Verhältnis mit einer brillantenumfunkelten, duftumhüllten Dame kam ihm in den Sinn. Solche Prinzessinnen will ich mir mal vornehmen, dachte er – ich bin kein Weib, nehm' keine Rücksichten –, die sollen was erleben!

 

Auf dem Newskij wogte das Leben laut und erregt, Autos und Straßenbahnen heulten und ratterten, Afonka hörte die Worte: »Österreich, Bulgarien, Türken« um sich schwirren; »Krieg, es wird Krieg geben!« Er mischte sich unter die aufgeregte Menge, horchte und lauschte, und haßte sie allesamt. Stundenlang stand er vor den Schaufenstern der Zeitungen, las die ausgehängten Sonderberichte, stritt nachher mit seinen ihn hassenden Freunden in Kaffeehäusern.

»Es riecht nach Krieg …«

»Was schert es dich, Rothaariger?«

»Vielleicht ziehe ich auch mit …«

»Was, mit in den Krieg?!«

»Immer noch besser als an den Straßenecken stehen. Ich falle, und alles ist aus, oder ich werde wieder zu einem anständigen Menschen. Die Kriegshelden sind ja auch nicht aus einem anderen Stoff gemacht als unsereiner! Vielleicht werde ich auch einmal ein Held!«

Seitdem war Afonkas Spitzname nicht mehr »Der Rothaarige«. »Der Held« wurde er feixend genannt.

 

Des Abends stellte er sich an der berüchtigten Ecke gegenüber den Passagereihen auf, ließ seine Blicke gleichgültig über die wimmelnde Menge schweifen, wartete gleich einer Dirne, bis er angeredet wurde. Einst brachte man ihn nach der Wladimirskaja Straße in das »Haus der Zusammenkünfte«, wo er photographiert wurde; nach solchen Photographien trafen Frauen und Männer, die heimlich auftauchten und mit Geld um sich warfen, ihre Wahl. Afonka wollte auch Shenja hier unterbringen, erklärten ihm doch die Besitzer:

»Dies ist ein hochfeines Haus, Afanassij Timofejewitsch; nur Damen und Herren der höchsten Gesellschaftskreise verkehren bei uns.«

»Darauf spuck' ich; wenn ich's satt bin, bleibe ich weg …«

»Ach, nein, Afanassij Timofejewitsch, das dürfen Sie nicht tun – bei Ihrem besonderen Talent … Dieses Talent ist Goldes wert – Fürstinnen ergötzen sich daran …«

»An diesem besonderen Talent?! Luder sind Ihre Fürstinnen, mein Lieber!«

Er brachte Shenja doch in dem »Hause der Zusammenkünfte« unter; sie trug ein schämiges Wesen zur Schau und galt als sich langweilende Gattin eines Geheimen Staatsrates, die sich zuweilen Nebensprünge erlaubte …

Afonka und Shenja mieteten sich eine Zweizimmerwohnung und schafften sich einen Fernsprecher an; auf telephonischen Anruf fuhren sie dann in das »Haus der Zusammenkünfte«, wenn sich jemand an Hand ihrer Photographien für sie interessierte.

Den Kundinnen gegenüber war Afonka barsch und frech, nannte sie höhnisch Prinzessinnen, die Prinzessinnen aber rissen sich um ihn, wie früher im Kloster die Kaufmannsfrauen.

Erschöpft kehrte er wieder nach Hause zurück.

»Mit den eigenen Händen könnte ich das Geschmeiß erwürgen! Je hübscher und vornehmer sie sind, desto verderbter … Es kann leicht einmal geschehen, daß ich so einer in einem hitzigen Augenblick den Garaus mache – von unten herauf bis zur Gurgel das Messer durch den gierigen Leib ziehe …«

»Afonja, und das Zeichen des Mörders »das Zeichen des Mörders, das sie dir dann an den Rücken heften«: Der Anzug der Schwerverbrecher wurde in Rußland früher durch ein besonderes Mal gekennzeichnet., das sie dir dann an den Rücken heften?!«

»Ha, bin ich denn jetzt nicht gezeichnet – schlimmer als gezeichnet, sie halten mich gar nicht mehr für einen Menschen, meiden mich wie die Pest, seitdem ich mich damals mit diesem Chljupin eingelassen und einem Unschuldigen den Strick gedreht habe aus Sehnsucht nach Liebe …«

»Afonja, liebe ich dich denn nicht?«

»Weiß wohl, daß du mich liebst, bis zu meinem Stern von Bethlehem aber hast du's weit. Damals hat's mich umgeworfen, und jetzt komme ich nicht mehr heraus aus dem Morast, es zieht einen immer tiefer hinein; es muß schon etwas geschehen, was mich um und um wirft, damit ich mich aufraffe und wieder meinen Weg finde. Ob ich's mit dem Saufen versuche? … Aber bei meinem Handwerk taugt das Saufen nicht, lange hält man's nicht aus, wird schlapp. Sehen mag ich die Luder nicht, und da muß man noch niedlich zu ihnen sein, sich verstellen …«

 

Er verschwand ganze Tage lang, das Telephon schrillte unablässig nach ihm, Afonka aber irrte durch die Straßen, kehrte in Schenken und Bierhallen ein … Kam in die Vorstädte, gedachte seiner Arbeit auf der Fabrik Leßner, es drängte ihn, wieder einmal den Hammer in die Hand zu nehmen. Sehnsucht nach Arbeit überkam ihn und nach Menschen, nach dem lebendigen Wort. In den Schenken schloß er Bekanntschaften, setzte sich zu den Arbeitern. Lauschte auf die Gespräche und Streitereien …

Der Mord in Sarajewo wurde erörtert; man wartete gespannt, was weiter kommen würde. Auf den Fabriken wuchs dumpf die Erregung. Drückend heiß und schwül war es in der steinernen Stadt – Afonka mochte sich aus den kühlen Bierstuben gar nicht rühren.

Voll Neid starrte er auf die rußgeschwärzten Arbeiterfäuste, und die Furcht kam ihn an, daß, wenn er jetzt wirklich den Hammer in die Hand nehmen müßte, er ihn gar nicht mehr würde schwingen können – er war es nicht mehr gewohnt, seine knorrigen Hände waren weiß geworden, und an einem Finger stak sogar ein goldener Ring mit einem Rubin, den ihm Shenja an jenem Tage geschenkt hatte, als sie in dem »Haus der Zusammenkünfte« unterkam. In den letzten Tagen war er auch der hündischen Ergebenheit seiner Freundin überdrüssig geworden – so 'ne zuckersüße Sache war das, er hatte genug davon! Er vertrank jetzt alles, was er beiseite gelegt hatte und was Shenja nach Hause brachte; zuweilen lief er aus grundloser Wut in seiner Stube auf und ab und prügelte Shenja sogar. Das Mädchen weinte nicht, klagte nicht, fragte nur:

»Warum schlägst du mich, Afonja, warum …«

»Weil du mir widerlich geworden bist, darum! Ich könnte heute alle auf der Straße ermorden, einfach rangehen und jedem ein Messer in den Bauch stoßen! … Vielleicht möchte ich nur sehen, wie der rote Saft herausfließt …«

Seine Gedanken drehten sich immer um den einen Punkt. Im Bett zu Seiten der sich an ihn schmiegenden Shenja erging er sich zuweilen in Betrachtungen:

»Sage mir doch nur, wie das möglich ist! Da gehen die Leute durch die Straßen, sitzen in den Schenken herum, und niemand macht sich Gedanken darüber, wieviel Schmutz ihn überall umgibt! Ich darf es ja eigentlich nicht sagen, bin vielleicht selbst der Letzte unter den Letzten, duck' mich und winde mich im Schmutz, aber dennoch, wenn ich die Menschen richtig ansehe – wie Maden, wie Würmer sind sie … Ich sehe, wie sie sich einander um den Hals winden, langsam dick und fett werden, zu glänzen anfangen, wie Schlangen, nur daß die Schlange eine prächtige Haut hat, diese Würmer aber, die haben so einen fettigen Glanz, brr … Und ihre Augen sind ölig, tasten einen ab, umschleichen und umlauern einen … Überall sind diese Würmer, in Palästen die einen, in Spelunken die anderen, unsereins … Erwürgen sollte man das Gewürm, vielleicht wird es sich dann leichter leben, freier atmen lassen, vielleicht werden die Leute dann erwachen, sich zusammenraffen, sich auf sich selbst besinnen … Ob ich wohl wieder ins Kloster gehe? Da sind nur diese Kaufmannsfrauen, aber bei denen ist's wirklich Liebe, sie hängen an dir und sind selig, hier aber – die wollen bloß ihren Lüsten frönen, und was sie in ihrer nimmersatten Gier da alles mit einem Menschen anstellen … Und da redet man noch von Wahrheit und Gerechtigkeit! Wahrheit, Gerechtigkeit – wo gibt's das? Habgier und Sinneslust – Morast, darin tummeln sie sich, darin fühlt es sich wohl, das Geschmeiß … Zertreten sollte man das Gewürm, reinen Tisch machen, vielleicht kommt dann ein Stück Wahrheit zum Vorschein! …«

 

Vor Hitze war Petersburg wie benommen, die Menschen suchten schmachtend nach Zerstreuung. Nur in den Vorstädten gärte es dumpf. Afonka ließ die Augen wandern, hielt die Ohren offen, dachte: Wenn es nicht von oben, von den Studenten her kommt, sondern von unten emporschlägt, dann kann es vielleicht wirklich dazu kommen, daß das Gewürm zertreten wird! Frohlockend umkrallten seine Finger das Messer in der Tasche.

Und als die mürrischen Leute aus Kellern und Bodenkammern hinaus in die glühende Sonne strömten, die Straßen überfluteten, schloß er sich der Menge an, gedachte des Jahres 1905, als er seinen Stern von Bethlehem mit seiner Liebe beschützt, ihr Leben gerettet hatte, und murmelte vor sich hin: »Sie allein, sie allein will ich verschonen, die anderen zertrete ich alle wie Würmer, damit es sich leichter atmen läßt!« Einmal schien es ihm sogar, als glitte sein Stern nicht fern durch die Menge – er eilte ihr nach, verlor sie aber in dem Gewimmel aus den Augen. Er hatte sie gesehen! Seine Augen leuchteten auf, etwas Menschliches erwachte in ihnen, etwas Leidendes.

 

Und plötzlich und jäh wogte das Menschenmeer auf, aber anders, als er erwartet hatte. Über den erregten Köpfen flatterten Fahnen empor, weiß-blau-rot: Krieg gegen Deutschland! Bajonette blitzten, begeisterte, von Haß gegen den Feind ergriffene Volksscharen gaben ihnen das Geleit. Freudig bewegt, strömte alles aus den Sommerfrischen in die Stadt zurück, wie bei Wintersanbruch. Nur die Gesichter der Truppen, die an die Front zogen, blickten ernst und finster; in der Stadt tauchten breite, bärtige Bauerngesichter auf, und auch sie blickten finster und stumm unter den blitzenden Bajonetten.

Einen Augenblick lang gärte die Masse auf, ein einziger Ausruf hatte genügt: »Nieder mit den Deutschen!« und die Spiegelscheiben der prächtigen Läden auf dem Newskij zerbrachen klirrend; das Volk zog weiter zu einer mürrisch blickenden Kathedrale und einem ebensolchen Palast mit sich bäumenden Rossen auf dem Dach.

Afonka war durch die Menge wie berauscht. Er fuchtelte mit seinen riesigen Fäusten durch die Luft, brüllte wie besessen: »Schlagt drein! Schlagt drein! Nieder mit den Deutschen, zertretet sie!« und tauchte als erster auf dem Dache der Deutschen Botschaft vor den Rossen auf, hob den mächtigen Hammer – wie der ihm in die Hände gekommen war, wußte er nicht, doch als er ihn schwang, durchströmte ihn die Erinnerung an seine Riesenkraft – und ließ ihn gegen die Füße der ehernen Rosse niedersausen. Helfer kletterten zu ihm empor, und mit vereinten Kräften stürzten sie die Kolosse auf den Platz hinab, zu Füßen der zurückgefluteten Menge. Dann stand Afonka allein auf dem Dach, dort, wo die Rosse sich emporgebäumt hatten – riesig, barhäuptig, seine roten Haare flatterten flammend im Sonnenschein, sein emporgereckter Arm, mit dem er dem Volk unten zugewinkt hatte, es solle zurückweichen, hing ausgestreckt in der Luft, und als die bronzenen Leiber auf den Steinen zerschellten, die Menge zurückprallte und in frenetischen Jubel ausbrach, schrie auch er wie besessen und schwang begeistert den Arm.

 

Auf der Polizei erzählte er aufgeregt:

»Ich war auch dabei – habe sie runtergeschmissen, diese Rosse da …«

Und unerwartet – obwohl es schon lange in ihm herangereift war – fügte er hinzu:

»Ich will kämpfen, kämpfen will ich – zieh als Freiwilliger in den Krieg!«

Der Polizeioffizier lächelte herablassend.

»Bringt ihn in die Kaserne.«

 

Ohne auch nur Abschied von Shenja zu nehmen – »Die kommt jetzt allein durch«, dachte er –, ging er in die Kaserne und blieb gleich da. Vom frühen Morgen an marschierte er, das Gewehr über der Schulter oder in der Hand, auf dem Marsfeld hin und her, schrie aus Leibeskräften hurra, während er sich auf einen unsichtbaren Feind stürzte, nahm Deckung, lief in einer Kette von Kameraden weiter, wälzte sich auf dem Bauch im Staub, und kein einziger seiner quälenden Gedanken kam ihm in den Kopf, als wäre plötzlich alles eitel Sonnenschein geworden. Des Abends sank er wie tot in Schlaf; voll Genuß aß er Soldatenbrot, Grütze, langte unaufhörlich mit dem Holzlöffel in die gemeinsame Schüssel.

»Afanassij, Mensch, laß doch für uns was übrig – nicht so stürmisch!«

»Sieh zu, wo du bleibst – wer der erste am Ziel ist, der hat's geschafft, wer zurückbleibt, um den ist's geschehen – das nennt man Krieg, Freundchen!«

 

In der Feldkompanie sang er schmetternd Soldatenlieder, gedachte des Kirchengesangs und des Klosterwalds, sprang an den Haltestellen aus dem Zug, um siedendes Wasser zu holen, und trank, sich den Rachen verbrühend, glucksend Tee aus der Feldflasche. Es war wie ein Fieber in ihm, die Gier zu töten, das Leben im Innersten zu verletzen und um und um zu drehen. Zugleich war eine tierische Verschlagenheit und Gewandtheit in ihm erwacht und ein alles beherrschender Selbsterhaltungstrieb. Er fürchtete, daß sein riesiger Wuchs ihn verraten, gleich die erste beste Kugel ihm in den Kopf fahren könnte.

»Du meinst, die Kugel sieht sich erst ihren Mann an? Ich sage dir, die geht dir glatt hinten wieder raus, ehe du das Maul zugeklappt hast!«

»Wirf halt den Deutschen um, damit er nicht zum Schießen kommt!«

»Davor habe ich keine Bange, wenn's heißt: Ins Bajonett! Da dreh' ich ihm die Eingeweide raus und schmeiß ihn am Bajonett in die Luft …«

 

Unheimlich war ihm die Sache nur beim ersten Male, als er einen Menschen mit einem messerähnlichen Bajonett plötzlich vor sich erblickte. Den Bruchteil einer Sekunde zögerte er, krampfhaft den Gewehrkolben umklammernd, doch im gleichen Augenblick fauchte es in ihm: »Töte, oder er tötet dich!« und schon hatte er mit seinem Gewehr den Ausfall seines Gegners abgeschlagen und ihm mit aller Kraft das Bajonett tief in den Leib gestoßen, so tief, daß er spürte, wie es an einem Knochen – wohl dem Rückgrat – vorüberglitt und hinten im Rücken hinausdrang. Er riß das Gewehr zurück – am Richtkorn hing etwas Blutiges, ein Darm- oder Fleischfetzen. So gewaltig war sein Stoß gewesen, daß das Blut wie eine Fontäne aus der Wunde hervorsprang und ihm Gesicht, Brust und Hände besudelte. Er stürzte weiter – hünenhaft, rothaarig, mit zertrümmertem Nasenbein, blutüberströmt. Nach jedem Stoß drehte er das Bajonett ein wenig nach links, um es leichter herausziehen zu können, und riß es dann jäh, zusammen mit Fleischfetzen, aus der Wunde.

Der Kompanieführer bemerkte nach dem Angriff, wie Afonka sich das Blut aus dem Gesicht wischte, und fragte kurz:

»Wieviel Mann hast du niedergemacht, Kaljabin?«

»Ich erinnere mich nur an einen, den ersten, Euer Wohlgeboren; die übrigen habe ich nicht gezählt – es war keine Zeit dazu.«

 

Als sich die Menschen dann in die Erde eingruben und man monatelang im Schützengraben hocken mußte, ohne sich zu rühren, bekam Afonka Langeweile; der Zerstreuung halber lauerte er dann irgendeinem Deutschen auf. Des Morgens, wenn die Teekessel herangefahren und Brot verteilt wurde, wenn die Deutschen ebenfalls mit ihrem Frühstück beschäftigt waren, keine einzige Kugel hinüber oder herüber flog und auch keine Geschütze dröhnten, lehnte sich Afonka an die Brustwehr und beobachtete irgendeinen Deutschen, der durch den Verbindungsgraben herankam, und wenn der Deutsche sich hinsetzte und ruhig seine Pfeife in Brand steckte, zielte Afonka ebenso ruhig, und der Mann torkelte komisch hinab – es war, als wollte er sich hinhocken, schlug hintenüber und zappelte spaßig mit den Beinen, die Pfeife flog ihm beim Fall im Bogen aus dem Mund und fiel ihm wohl auf die Brust.

Afonkas Kameraden im Schützengraben verfolgten belustigt seine Vorbereitungen und das Schicksal des ahnungslosen Deutschen, und wenn dieser zusammenbrach, erhob sich ein fröhliches Gelächter, der Feldwebel lächelte schief, schwieg aber. Afonka rief vergnügt:

»Na, also jetzt können wir unseren Tee trinken, nicht wahr, Jungens?«

»Das hast du fein gemacht – genau ins Schwarze!«

»Ha-ha, seine Beine, seine Beine – wie die zappelten! Ha-ha-ha!«

»Der erholt sich schon wieder, war ja bloß ein Streifschuß!«

»Wenn du so einen Streifschuß kriegst, mein Lieber, dann merkst du was, sag' ich dir!«

Damit fing der Tag an. Doch nach Afonkas erstem Schuß begannen die Kugeln von drüben herüberzufliegen, schlugen in die Erde ein oder flogen pfeifend über die Köpfe hinweg und fielen irgendwo weit hinten zu Boden.

Die Soldaten lachten.

»Du hast sie verärgert, Afanassij!«

»Mögen sie doch schießen, mir ist's nicht leid um ihre Kugeln!«

»Ha-ha-ha! Na, also trinken wir Tee!«

Gegen Mittag hörte das Schießen auf, wieder fuhren dampfende Feldküchen heran, die Kessel der Soldaten klirrten, im Schützengraben roch es nach Kohlsuppe, Löffel klapperten. Zuweilen aber ließen die Deutschen die Küchen nicht heranfahren, die Soldaten wurden wütend, Kugeln flogen hin und her, Geschütze setzten ein.

»Die Lumpen! Deinetwegen können wir jetzt nicht essen, Kaljabin.«

»Laß sie des Morgens in Ruhe, wollen ja auch essen.«

»Wir bleiben schon heil und werden nicht umkommen vor Hunger; mir ist das zu langweilig, so ruhig dazusitzen …«

Der Kompanieführer trat heran.

»Das haben wir dir zu verdanken, Kaljabin! Du hast am Morgen wieder geschossen …«

Afonka furchte die Brauen, dann zuckte ein Lächeln um seine Lippen, und er antwortete gutmütig:

»Euer Wohlgeboren, ohne dem ist's doch so langweilig, da möchte man ja schließlich von hier auskratzen, bei Gott! Was ist denn das für ein Krieg – da sitzen wir wie die Würmer in der Erde und tun nichts. Am Anfang, da war's viel lustiger – die Arbeit mit dem Bajonett, das macht einem Spaß, und jetzt sollen wir nicht mal die Nase aus der Erde rausstecken!«

Der Kompanieführer lächelte, wandte sich zum Gehen, warf noch kurz hin:

»Na, schön Kaljabin, daß du mir aber nicht wieder des Morgens schießt!«

»Zu Befehl!«

Nach ein paar Tagen aber konnte Afonka nicht länger an sich halten, lauerte am Morgen wieder einem Deutschen auf, und wieder ließen die Deutschen zu Mittag die Feldküchen nicht herankommen.

Vor Langeweile meldete sich Afonka zur Nachtwache auf Vorposten und horchte gespannt wie ein Tier nach Kundschafterstreifen; sein Ohr fing den leisesten Laut auf. Den Kopf an die Erde gelegt, lauschte er, und wenn er – mehr durch Instinkt als durch eine bewußtsinnliche Wahrnehmung – lautlos schleichende Schritte vernahm, kroch er dem katzenleisen Geräusch entgegen, schoß aber niemals, sondern stürzte sich von hinten auf sein Opfer, nachdem er es an sich vorübergelassen hatte; unter dem fürchterlichen Kolbenschlag brach der Überrumpelte mit zertrümmertem Schädel lautlos zusammen. Afonka nahm dem Toten ruhig Patronen und Gewehr ab und lauschte aufs neue in die Nacht. Am Morgen brachte er dem Kompanieführer Gewehr und Patronen.

»Bist ein Mordskerl, Kaljabin!«

»Zu Befehl, Euer Wohlgeboren!«

»Wie stellst du das nur an – jede Nacht einen? …«

»Man lauert ihm einfach auf, keinen Mucks gibt er von sich. Aber auch das ist langweilig, Euer Wohlgeboren – das ist doch keine Kunst, jemand heimlich niederzuschlagen! Wenn ich so einem wenigstens offen gegenübertreten könnte … Aber ich verstehe ja, daß es ganz geräuschlos vor sich gehen muß.«

»Du scheinst gar nicht zu wissen, daß du ein Held bist, Kaljabin …«

»Was ist denn das für eine Heldentat, sich an Menschen heranzuschleichen und sie niederzuschlagen … Wenn man denen bloß den Garaus machen könnte, der ganzen Bande …«

»Wem? Dem Deutschen?«

»Nein, Euer Wohlgeboren …«

»Wem dann?«

»Jenen, die diese Suppe eingebrockt haben. Es stimmt schon, daß man seine Feinde totschlagen soll, aber sind denn das unsere Feinde? Unsere Feinde sitzen da hinten …«

Und er wies mit der Hand hinter die Schützengräben.

Der Kompanieführer brach das Gespräch ab, runzelte die Stirn, sagte barsch:

»Was faselst du da? Paß du mir auf! Unsere Feinde sind die Deutschen, dort aber liegt unser Vaterland.«

Auch Afonka runzelte die Stirn, funkelte unter gefurchten Brauen mit den Augen und antwortete mit gleichgültiger, hölzerner Stimme kurz, nach der Vorschrift:

»Zu Befehl, Euer Wohlgeboren.«

»Hast du jetzt verstanden?«

»Zu Befehl, Euer Wohlgeboren!«

Der Kompanieführer wurde wieder schlicht und freundlich – er mochte Afonka wegen seiner Tapferkeit – und sagte ruhig:

»Du solltest mal sehen, ob du sie nicht lebendig herbringen kannst, Kaljabin!«

»Zu Befehl, Euer Wohlgeboren, ich will's versuchen.«

 

Bei Kriegsbeginn drängte es ihn, den Feind zu töten, überhaupt zu töten, gleichviel wen, wenn nur Blut floß. Als er aber dann im Schützengraben saß und eintöniger Werktag begann, merkte er langsam, daß er nicht diejenigen tötete, die er hatte töten wollen. Das kam ganz allmählich. Als sein Regiment einst einen Durchbruch der feindlichen Laufgräben erzwang, Hunderte von toten Freunden und Feinden hinter sich zurücklassend, und es dann zum Rückzug kam – da fiel ihm ins Auge, daß die toten Russen und Deutschen in den unerwartetsten Stellungen bunt durcheinander lagen. Zuweilen sah es aus, als umschlänge sich ein Paar, und aus allen Gesichtern sprach das gleiche Entsetzen, das gleiche erstarrte Todesgrauen. Und da kam Afonka der Gedanke, daß der Russe, der im Todeskrampf einen Deutschen umarmt hatte, dies ein wenig früher hätte tun sollen, dann wäre es überhaupt nicht zu der Metzelei gekommen – sie hätten nur aus den Schützengräben zu steigen, auf das Feld hinauszutreten und einander die Hand zu schütteln brauchen! Und Afonka stellte sich sogar das Lächeln irgendeines Westpreußen vor und das breitknochige, bärtige Gesicht eines russischen Bauern aus Kostroma, und er meinte zu hören, wie sie einander dabei zuriefen: »Freund!« – »Kamerad!« – er hatte gefangene Deutsche diese Worte wechseln hören. Der »Onkel« aus Kostroma – Afonka nannte alle älteren Soldaten »Onkel« – würde sagen: »Wir sind doch Kameraden, wozu sollen wir einander totschlagen?!« Und da stand der Gedanke vor ihm: Warum führen wir eigentlich diesen Krieg? Wer hat Nutzen von diesem Blutvergießen? Und er antwortete sich selbst – jene »Würmer«, die auf dem Newskij spazieren und sich zur Befriedigung ihrer Lüste Weiber und Männer kaufen. Und ebenso stand es wohl auf der anderen Seite. Seitdem langweilte ihn die Sache. Es war langweilig, sinnlos zu töten, Kugeln pfeifen, Granaten und Schrapnelle aufheulen zu hören; es war langweilig, im Schützengraben zu sitzen, und wenn Schnellfeuer einsetzte, blindlings in die Luft zu knallen. Afonka hörte dann ganz auf zu schießen, während die »Onkel« aus Kostroma ungestüm mit dem Gewehrverschluß rasselten und neue Patronen einschoben. Vor Langerweile lauerte er auch des Morgens den Deutschen auf, ohne dabei Wut oder Haß zu empfinden. Und als ihm der Kompanieführer nun empfahl, die Kundschafter lebend zu bringen, die er bei seinem nächsten Vorpostendienst überrumpeln würde, gab Afonka seine morgendlichen Schießübungen auf.

Seine Kameraden setzten ihm lachend zu:

»Was ist mit dir los, Afonka? Hast's wohl vergessen?«

»Hol's der Teufel, es langweilt mich …«

»Was langweilt dich?«

»Das Ganze – hat nicht Sinn noch Zweck.«

 

Als er sich am Abend desselben Tages in dem feuchten Schützengraben zur Ruhe niederließ, redete er verstohlen mit seinem Nachbar. Dieser fragte ihn:

»Wieso sollen wir nicht kämpfen, wenn die Deutschen uns überfallen?«

»Sie werden doch geschickt, gerade so wie wir – stimmt's?«

»Das stimmt schon, sie werden geschickt, von alleine schlägt man nicht andere Leute tot!«

»Siehst du! Und wer schickt sie? …«

»Klar – ihr Zar …«

»Und unser Zar schickt uns, und wir lassen uns wie die Hammel treiben …«

»Was kann man denn da tun?«

»Man steigt einfach aus dem Schützengraben, geht zu ihnen rüber und sagt: ›Wozu sollen wir einander totschlagen, Kameraden? Wir haben ja einander gar nichts getan, man hat uns hergesandt, damit wir einander totschlagen, und wir wissen gar nicht, warum wir das eigentlich tun sollen?‹ Danach hätten wir fragen sollen, Bruder, als es hieß: ›Die Leute da schlagt tot‹, wo wir doch gar nichts davon haben. Man muß da erst nachschauen, wer etwas davon hat – dann wird sich vielleicht herausstellen, daß wir gar keine Ursache haben, einander totzuschlagen, und vielleicht tun wir uns dann im Gegenteil zusammen – auch um totzuschlagen, aber nicht einander, sondern jene, die uns gegeneinander gehetzt haben, jene, denen unser Tod Vorteil bringt. Die muß man erwürgen, zertreten – das ist's.«

»Wen denn – die?«

»Jene da!« Afonka wies mit der Hand hinter den Schützengraben.

»Du meinst die feinen Herren, die Gutsbesitzer?«

»Klar.«

»Das hat Hand und Fuß, was du da sagst, Kaljabin – es stimmt alles! Ich hätte mir das nie so zurechtlegen können … Was hast du denn früher getrieben?«

»War Arbeiter, Vorschläger auf einer Fabrik, schwang den Hammer …«

»Darum also …«

»Aber reinen Mund gehalten über unser Gespräch … Verstehst du?«

»Na, daß man uns dafür den Kopf nicht tätscheln wird, versteh ich auch selbst. Schlaf jetzt.«

Der »Onkel« aus Kostroma verstummte; als er schon beim Einschlafen war, fragte er noch:

»Bist du von alleine dahinter gekommen, oder hat es dir jemand gesagt?«

»Von alleine … Wollte die Wahrheit ergründen … Ha, wenn du wüßtest … Aber jetzt macht's nicht mehr viel aus – bin wieder Mensch geworden … Hinter die Wahrheit bin ich von alleine gekommen.«

 

Seitdem Afonka der Krieg langweilte, wuchs seine heimliche Erbitterung, doch wie früher zog er des Nachts auf Patrouille aus, lauschte nach Bauernart, auf der Erde liegend, in die Dunkelheit, kroch von hinten an den erspähten Feind heran, stürzte sich, riesig und gewandt, auf ihn und umklammerte würgend seinen Hals; mit dem Gefangenen, den er auch sein Gewehr schleppen ließ, kehrte er in den Graben zurück.

An der österreichischen Front, wo Slowaken und Tschechen bei Annäherung der Russen die Hände hoch hoben und: »Bratjisch! Bratjisch!« riefen, kehrte er einst mit einem schweigsamen, finster blickenden Tschechen zurück und übergab ihn dem Kompanieführer.

»Du bist wahrhaftig ein Mordskerl, Kaljabin!«

Afonka erwiderte nichts, warf nur dem Offizier unter den gefurchten Brauen hervor einen stechenden Blick zu.

»Was antwortest du nicht?«

»Bin krank …«

Der Offizier schwieg einen Augenblick, sann nach, sagte:

»Ich will dir drei Tage Urlaub geben, erhole dich. Auch zum Georgskreuz will ich dich vorschlagen.«

»Brauch' ich nicht …«

»Was brauchst du nicht!«

»Ihren Urlaub und Ihr Georgskreuz …«

»Bist du verrückt geworden oder so krank, daß du nicht weißt, was du redest?!«

»Nein!«

»Geh' also und laß dich kurieren – was für einen Tag haben wir heute?«

Ein Soldat antwortete:

»Mittwoch, Euer Wohlgeboren.«

»Am Sonnabend kannst du deinen Urlaub antreten. Bringst du mir vorher auch einen Deutschen … dann bekommst du länger Urlaub, kannst nach Hause fahren, wenn du willst.«

Afonka schwieg.

Freitag Nacht ging er den Deutschen holen. Gegen Morgen aber, als ein noch kaum bemerkbarer Lichtschein am Himmelsrand zu glimmen begann, kam er mit zusammengebissenen Zähnen zurückgekrochen; sein verwundetes Bein schleppte nach und hinterließ einen dünnen Blutstreifen.

 


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