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10

Am nächsten Morgen stellte Afonka überall Wachtposten auf: vor der heiligen Pforte, vor der Pforte zum Viehhof und an der hinteren Pforte, die hinter dem Speisesaal zum Fluß hin lag, und trat in den Klosterhof.

Altvertrautes, Langvergessenes strömte auf ihn ein.

Voll Neugier betrachtete er die Zellen, blickte durch die Fenster, nach alten Bekannten ausschauend. Den Pförtner Vater Awraamij fragte er:

»Wer ist Abt bei euch?«

Der erschrockene Alte warf einen Blick auf die Pistole an der Seite des Fragenden und antwortete mit dumpfer Stimme:

»Vater Gerwaßij.«

Afonka schritt auf die wohlbekannte Abtei zu und murmelte:

»Hm … Gerwaßij … Als ich hier war, war Sawwa Abt; haben sich einen neuen gewählt … Eines Gerwaßij erinnere ich mich nicht …«

Von der alten Kathedrale her kam ihm kettenklirrend Waßja entgegen, der sich wieder entschlossen hatte, mit einer Anklage vor den Antichrist zu treten; Waßja schritt mit gesenktem Kopf, bereit, zum Ruhme des Herrn zu leiden.

Er flüsterte im Gehen:

»Erachte mich der Märtyrerkrone für würdig … Herr, laß deinen unwürdigen Knecht leiden um deinetwillen …«

Afonka erkannte sofort den Blöden; er war alt und grau geworden, sein wirrer Bart hing ihm in Zotteln um das Gesicht, das ganz von tiefen Runzeln durchfurcht war; in diese nie gewaschenen Falten hatten sich schwarze Streifen gegraben. Waßja ging langsam, mühsam und hartnäckig die kettenbeschwerten Füße bei jedem Schritt nachschleppend. Seine Hände waren mit blutigen Schrammen bedeckt – er schlug die eisernen Ringe an den Handgelenken immerfort aneinander, so daß die Haut ganz zerschunden war. Das Blut war an manchen Stellen geronnen, braun geworden, Schmutz klebte daran. Auf seiner Kutte saß Flicken an Flicken, die Ränder schlotterten ausgefranst um die dürren Beine. Er schritt gebückt, den mageren, blaugeäderten Hals vorgestreckt. Seine Augen – groß und irr, von tief in den Schädel gesunkenen Ringen umgeben – starrten zu Boden. Die knochigen Kinnbacken traten unter der ausgemergelten Haut scharf hervor. Das schwarze Tuchkäppchen, mit weißem Zwirn gestopft – Waßja hatte das selbst in Vater Akakijs Zelle besorgt – war tief über die Augen gezogen, so daß hinten die Glatze, von grauweißen schmutzigen Haarsträhnen umrahmt, als Halbkreis hervorlugte. Der säuerliche Geruch eines lange nicht gewaschenen Körpers ging von ihm aus.

Afonka war hocherfreut, als er Waßja erblickte.

»Ich will ihn mal fragen …«

Hinkend eilte er auf den Blöden zu, rief ihn an:

»Waßja!«

Der Blöde schrak zusammen, schüttelte den Kopf, hob die Augen …

»Erkennst du mich nicht? Warum hast du dir die Ketten umgehängt? Willst du die Wallfahrer erschrecken?«

Waßja starrte ihn stumm an, dachte offenbar angestrengt nach, atmete schwer.

Ein wirrer Gedanke huschte ihm durch den Kopf, er stieß hervor:

»Dem Teufel, dem Satanas hast du dich verschrieben! … Dem Antichrist! …«

Er wollte fliehen, eine schwere Hand legte sich ihm auf die Schulter, drückte ihn nieder.

»Wer ist Abt bei euch, sprich!«

Waßja streckte die Hände zum Himmel und schüttelte sie; seine Ketten rasselten.

Er riß sich los und lief davon.

»Nikolka, Nikolka, unserer Sünden wegen, unserer Sünden wegen straft uns der Herr, seine Rächerhand schwebt über unserem Kloster … Nikolka!«

»Bist ebenso hoffnungslos blödsinnig geblieben, wie du immer warst!«

Er schrie ihm nach:

»Waßja, so komm doch her! Waßja!«

Der Blöde lief die Zellen entlang, sah sich dabei nach Afonka um und schüttelte den Kopf.

»Die Mönche haben sich dem Antichrist ergeben, dem Antichrist … Und auch du bist mit ihnen, Afonka, hast dich ihm verschrieben … Der Satan, der Satan ist um Mitternacht gekommen!«

Durch die Fenster lugten erschrockene Augen, Lippen beteten und flüsterten:

»Den Blöden anzurühren hat er nicht gewagt …«

»Wohl ihr Hauptmacher … Judensendling …«

»Der leibhaftige Satan, seinem Aussehen nach fürwahr der Höllenfürst selbst!«

Afonka sah sich um; das Kloster schien wie ausgestorben. Er wollte beim Abt vorsprechen, kam an die wohlbekannte Freitreppe mit den abbröckelnden Ziegelsäulen, schritt aber vorüber, nach dem Speisesaal.

Der finstere Haushalter, Vater Paißij mit dem spatenförmigen Bauernbart und dem listigen Lächeln, empfing Afonka ruhig.

Afonka sprach einfach, kurz, derb; irgendwo tief innen spürte er es wie einen Bodensatz – sein Leben im Kloster, Zellen, Freunde, Sumpf und Moos, nach Harz duftende Fichten …

»Also Vater – Paißij, glaub' ich, stimmt's?«

Der Mönch starrte ihn verwundert an und wurde vor Überraschung unsicher.

»Ja, ich bin Paißij, Paißij …«

»Bist mächtig alt geworden … Erkennst mich wohl nicht? Ich war Dienstbruder beim Abt – Afonka.«

Vater Paißij furchte die Brauen.

»Wir sind gekommen, um den Heiligenschrein zu öffnen, wollen dem Heiligen mal auf den Zahn fühlen! Meine Leute müssen verpflegt werden.«

Der alte Mann senkte den Kopf und schwieg.

»Schickt das Essen in die alte Herberge … Was schweigst du denn? Hat dir 'ne Kuh die Zunge abgebissen?«

»Ihr Gottesleugner!«

Jetzt erst begriff Afonka, daß das leere, wie ausgestorben daliegende Kloster, in dem alles Leben in die Zellen geflüchtet war, und die Mönche, mit diesem Vater Paißij begonnen, nicht mehr seine alten Freunde waren, sondern erbitterte Feinde, und daß Waßja, der Blöde, der verschlagene Hansnarr, der jedem seine Mätzchen vormachte, der ärgste Feind unter ihnen war, der den Haß schürte.

Afonka rümpfte die Nase, fletschte die Zähne; seine Stimme klang hart und scharf.

»Um zwölf in die alte Herberge … Sonst holen wir uns selbst, was wir brauchen!«

Er wandte sich um und humpelte die Hintertreppe hinab.

Finster kehrte er in die gute Stube der Herberge zurück, wo gerade Tee getrunken wurde, erblickte die kleine Fenja und lebte wieder auf, sein ganzes Gesicht lächelte, seine Stimme klang wie gebrochen.

»Fjokla Timofejewna, wissen Sie, ich habe Waßja den Blöden gesehen; erinnern Sie sich noch seiner?«

 

Die Bauern aus Polpenki, sowohl aus Groß- als aus Klein-Polpenki, zogen aufgeregt durch den Wald zum Kloster. Lärmend staute sich die Menge vor der heiligen Pforte.

»Her mit dem Abt! Ihr Luder!«

Beim Anblick der postenstehenden Rotgardisten waren die Bauern höchst verwundert.

»Ohne Durchlaß ist der Eintritt ins Kloster verboten, Genossen.«

»Verboten? Wer hat das verboten?«

»Die Kommission.«

»Ach was, Kommission!«

»Wir müssen mit dem Abt sprechen …«

»Die Mönche sollen rauskommen, wir werden auch ohne Kommission mit ihnen fertig.«

Afonka und Petrowskij eilten herbei.

»Die Mönche haben die Schleusen geöffnet, die Mühle zerstört …«

»Wo sollen wir jetzt unser Getreide mahlen?!«

Ein alter Bauer in langem Kittel trat vor.

»Genossen, wir haben immer Arger mit den Mönchen; seid Richter über uns.«

Hinter seinem Rücken forderten hartnäckige Stimmen:

»Ach was, Richter! Man schlägt diese Hengste einfach tot!«

»Wir verbrennen sie bei lebendigem Leibe! …«

»Hallo, Jungens! Holt die Mönche raus!«

Petrowskij zog seine Pfeife hervor, und ein trillernder Pfiff hallte durch den Wald. Die roten Soldaten, das Gewehr in der Hand, kamen gelaufen und umringten die Bauern.

»Warum geht ihr denn auf uns los? … Was soll das?«

Petrowskij wandte sich an die Bauern.

»Genossen, wir sind hergekommen, um die Reliquien des Heiligen zu untersuchen. Ihr habt wirtschaftliche Ansprüche an die Mönche, darüber könnt ihr euch mit ihnen später auseinandersetzen. In unserer Gegenwart dürfen keinerlei Ausschreitungen stattfinden, damit das Volk uns nicht der Gewalttätigkeit gegen die Kirche bezichtigt. Unsere Aufgabe ist, euch zu zeigen, daß es gar keine Reliquien gibt; in eurer Anwesenheit soll der Betrug aufgedeckt werden.«

Die Bauern waren still geworden, verwunderte Stimmen erklangen.

»Den Reliquienschrein wollen sie öffnen! …«

»Den Heiligen untersuchen …«

Die Erbitterung über die Mönche ebbte ab, der alte Bauer trat wieder vor.

»Die Reliquien … das geht uns nichts an, das sind Klosterangelegenheiten … Was aber die Mönche betrifft, da kennen wir keinen Spaß … Wir brennen das Kloster nieder, bis auf den Grund; die Gemeinde soll es beschließen. Wir helfen uns schon selbst.«

Der Untersuchungsrichter trat auf Petrowskij zu. Er riet ihm, ein Verhör vorzunehmen und die Schuldigen von einem Volksgericht aburteilen zu lassen.

Es gelang, die Bauern zu dieser Ansicht zu bekehren. Der Müller, Vater Mawrikij, in schwarzer, mit Watte gefütterter Kutte und ebensolchem Käppchen, begab sich in die Herberge, um hier Wohnung zu nehmen. Die Bauern kehrten ins Dorf zurück, nachdem sie einen Richter und mehrere Vertreter gewählt hatten, die da blieben.

Nowikow, der Untersuchungsrichter, fragte den Müller aus.

»Es ist da eine Feindschaft zwischen der Bruderschaft ausgebrochen. Sie haben zwei Herren, den Abt und Vater Polykarp.«

Petrowskij schlug vor, als zweiten Richter einen Vertreter der in der neuen Herberge untergebrachten Arbeiter heranzuziehen. Er ging selbst hin. Im Gang des unteren Stockwerks, gleich an der ersten Tür vor der Küche klopfte er.

»Herein, Genosse!«

Die struppigen Wimpern des jungen Mädchens erzitterten; hallend, in freudigem Erschrecken pochte ihr Herz.

»Wo finde ich den Vorsteher?«

Sie streckte die Arme aus, rief mit einem kleinen Schrei:

»Nikodim, Liebster!«

Petrowskijs ganz von seiner revolutionären Tätigkeit in Anspruch genommene Gedankengänge rissen plötzlich ab, die Erinnerung an Sinas Brief, an ihr langes Schweigen überflutete ihn und vermengte sich mit den Eindrücken der letzten Stunden.

Er fühlte ihre feinen, kräftigen Finger in seinen hart gewordenen Händen.

»Sie sind immer noch hier!«

»Und immer noch dieselbe, Nikodim.«

»Sie haben mir nicht mehr geschrieben, ich dachte, es sei alles zu Ende!«

»Ich bin dieselbe geblieben, unverändert … Mit meinem Ring gab ich auch meine Seele hin.«

Die Sorgen des Tages drängten wieder auf ihn ein – das Verhör, die bevorstehende Gerichtssitzung; er gab ihre Hände frei.

»Ich habe jetzt keinen Augenblick Zeit, ich gehöre nicht mir. Am Abend spreche ich bei Ihnen vor. Wo ist der Vorsteher?«

Im Sturmschritt eilte er die Treppe hinauf.

In ihn, den Gewandelten, mußte sie tiefer hineinblicken, mußte sich erst wieder in ihn hineinfühlen … Wie scharf und bestimmt er in seinem Benehmen geworden war, wie wortkarg … Bis zum Abend! Eine Ewigkeit! Die Arbeit in der Küche ging ihr nicht von der Hand, zu Mittag konnte sie gar nicht essen. Sie holte seine alten Briefe hervor, schaute sie an, legte sie ungelesen wieder in den Tisch zurück. Nein, es ging nicht, sie konnte jetzt gar nichts machen, konnte nur warten. Auch sie war ja eine andere geworden, abgeklärt, gelassen, gehärtet durch die Jahre voller Arbeit im Kreise einfacher, derb unmittelbarer Menschen. Ihr früheres, nervös zerfahrenes Wesen war von ihr gewichen, impulsive Leidenschaftlichkeit und Charakterstärke geblieben. Heim und Elternhaus hatte sie verloren, unter leidenden Menschen eine neue Heimat gefunden. Erregt schritt sie auf und ab, grübelte: War er ihr nun entfremdet? Konnte sie ihm noch etwas sein, ihm nah sein? Brauchte er sie, die stark und ruhig gewordene? …

Petrowskijs Seelenfrieden war gestört; ganz im Bann des Wiedersehens mit Sina blickte er traumverloren, um sie einen Augenblick später wieder zu vergessen und mit gesammelter Aufmerksamkeit gemeinsam mit dem Untersuchungsrichter das Verhör zu führen.

Vater Mawrikij, der Müller, gab die verdächtigen Mönche an.

Abt Gerwaßij hatte es abgelehnt, zu erscheinen; Afonka schickte ein paar Soldaten nach ihm.

Über den Abt war es wie Dumpfheit gekommen; wie ein Alp bedrückte ihn unablässig der gleiche Gedanke: Jetzt ist alles zu Ende. Er sah keinen Ausweg. Stunden lang schritt er in seinem Zimmer auf und ab, rückte an den Möbeln, blickte hinter die Bilder der Zaren, Gouverneure und Bischöfe an der Wand, als wollte er sich vergewissern, ob sein Geld nicht hinter den Rahmen verborgen sei. Er flüsterte vor sich hin: »Die Polin hat mich beraubt, mein Gold mitgenommen … die Ersparnisse meines ganzen Lebens, meines ganzen Lebens … Mein Gold!« Seine Augen blickten stier und leer; die Lider waren nach der schlaflosen Nacht und infolge der Erregung entzündet. Aus der eisenbeschlagenen Truhe holte er den alten Blechkasten hervor, in dem er – noch damals, als er Nikolka Predtetschin hieß – sein Geld zu verwahren pflegte. Er stellte das Kästchen auf den Tisch, öffnete es, rief Kostja herein.

»Kostja, du weißt doch – es war doch hier, das Geld, hier in diesem Kasten, Kostja?«

Der wortkarge Novize blinzelte mit den Augen, senkte den Kopf, schwieg.

»Sprich, es war doch hier drinnen?«

Kostja bewegte die blutlosen Lippen.

»Ja.«

»Du hast es doch gesehen? … Gestern haben wir doch noch Goldstücke vom Fußboden aufgelesen … Geh, Kostja, ich will noch suchen …«

Der Novize setzte sich auf die Truhe am Fenster und schaute auf den leeren Klosterhof. Er sah Afonka kommen, mit Waßja sprechen, und als der Rothaarige die Hand auf Waßjas Schulter legte, wich Kostja zurück und bekreuzigte sich.

Der Abt zündete einen Kerzenstumpf an und kroch lange auf dem Fußboden umher; er fand ein Goldstück, das unter den Teppich geglitten war, lachte auf, ergriff es, preßte es fest in die rechte Hand, setzte sich auf den Boden und starrte auf die kleine gelbe Münze.

»Kostja!«

Der flachsblonde Novize blickte mit seinen kurzsichtigen Augen unbewegt den Abt an.

»Kostja, weißt du noch – sie alle waren so schön rund und golden?!«

Die weißlichen Wimpern schlossen sich krampfhaft, die schmalen Hände drückten sich fest an die Kutte; er wagte nicht, sich zu rühren, einen Ton von sich zu geben.

»Du schweigst, du schweigst immer, dein Leben lang? Geh, du stummer Kastrat!«

Kostjas Achseln zuckten, sanken vornüber; schweigend ging er hinaus und setzte sich wieder auf seine Truhe im Vorzimmer.

Nikolka neigte das Gesicht über das Goldstück in seiner flachen Hand – ein roter Kreis hatte sich in die Haut gedrückt –, sein Körper zuckte, er brach in Tränen aus.

»Mein Leben lang habe ich gespart … Mit Zwanzigern angefangen … Mein ganzes Leben! …«

Er wußte nicht, wie lange er so auf dem Fußboden mit dem Goldstück in der Hand gesessen hatte; der Kerzenstummel verbrannte ihm die Finger. Er erhob sich und ging ins Empfangszimmer, um sich einen neuen zu holen; sie lagen in einem kleinen Häufchen auf dem Betpult unter den Heiligenbildern.

Die Wanduhr tickte nicht, das Pendel hing reglos, die Zeit war stehen geblieben.

Vor dem Betpult, einen neuen Stummel in der linken Hand ihn anzuzünden, hatte er vergessen –, blieb der Abt stehen und starrte reglos auf die Münze in seiner Rechten.

Ohne daß er ihn gerufen hatte, trat Bruder Kostja ein, und zum ersten Male während seines ganzen Klosterlebens sang er in hohem Tenor:

»Hochwürden, Sie werden zum Verhör gebeten.«

Der Abt schrak zusammen und starrte den Novizen mit leerem Blick fassungslos ins Gesicht.

»Man hat nach Ihnen geschickt! …«

Nikolka schüttelte den Kopf, winkte abwehrend mit den Händen; der Kerzenstumpf entfiel seinen Fingern.

»Ich gehe nirgends hin, gehe nirgends hin. Sie wissen ja auch so alles.«

Durch alle Zimmer hallte der hohe Tenor des wortkargen Novizen.

»Der Abt geht nirgends hin.«

Nach einer Weile erschien der wortkarge Novize wieder und sang:

»Hochwürden, man ist gekommen, Sie abholen! …«

Er wurde abgeführt; barhäuptig, ohne Käppchen, das Goldstück in die Hand geklemmt, schritt er, verstörte Blicke um sich werfend, über den Klosterhof; die Mönche lugten durch die Fenster der Zellen und flüsterten erschrocken:

»Der Abt wird abgeführt … der Abt!«

»Sie haben Abt Gerwaßij verhaftet! …«

Das Verhör fand hinter der alten Herberge in der Baracke statt, wo die Truppenabteilung untergebracht worden war.

Petrowskij wartete neugierig auf den Abt. Afonka lächelte belustigt. Der Untersuchungsrichter musterte aufmerksam die Gesichter der Richter; als solche waren ernannt worden: ein alter Bauer, zwei Arbeiter und ein unterkunftsloser Soldat aus dem Klosterheim, dem die rechte Hand fehlte.

Afonka wühlte in seinem Zottelhaar. Als der Abt hereingeführt wurde, schrie der Tschekist:

»Nikolka, du! Abt bist du geworden? … Na, du bist mir ein pfiffiger Geselle, Bruder!«

Beim Ton der altvertrauten Stimme schrak der Mönch vor Überraschung zusammen; er kam wieder zu sich, als er seinen alten Jugendfreund erkannte. Einen Augenblick lang hoffte er sogar, daß Afonka ihn retten würde. Ihm fiel ein, daß der Ausschuß ja nicht gekommen war, um über ihn zu Gericht zu sitzen. Er konnte sich auch gar nicht vorstellen, wofür man ihn hätte zur Verantwortung ziehen können; der Gedanke an den Raub seines Geldes hatte alles andere verdrängt, auch sein nächtliches Gespräch mit Vater Xanfij. In seinen Ohren und Schläfen war ein Brausen und Dröhnen, aber es war nicht der Widerhall der rauschenden Überschwemmungsflut, sondern die Folge des Schlages, der ihn so erschüttert hatte. Dann entsann er sich, daß er Abt war und vor Feinden stand; er duckte sich und musterte finster die Menschen am Tisch. Doch der Gedanke, daß Afonka ihn retten würde, blieb in seinem Unterbewußtsein haften.

»Na, sprich also! Wer hat die Schleusen geöffnet und die Mühle unter Wasser gesetzt? Aber versuch' nicht, mir was weis zu machen, sonst rechne ich freundschaftlich' mit dir ab.«

Die Erbitterung über sein verlorenes Leben, das jetzt im Rückblick so verzweifelt sinnlos schien, brach durch als Haß gegen Vater Polykarp.

»Nun, sprich!«

»Ich trage keine Schuld, fragt den Vater Polykarp Lasarew.«

Afonka rief den roten Soldaten zu:

»Schafft ihn her!«

Vater Mawrikij furchte die Stirn.

Der Untersuchungsrichter vermerkte: Nikolai (Gerwaßij) Predtetschin, Sohn eines Diakons, Abt des Klosters.

Vater Polykarp wurde in der neuen Kathedrale am Sarge des Starez Akakij verhaftet.

Er trat ruhig und sicher aus dem Gotteshaus und ging mit langen, langsamen Schritten, erhobenen Hauptes, in Begleitung der roten Soldaten dahin. Seine schwarzen Augen funkelten. Stumm blieb er vor dem Tische stehen und sah den Abt an.

Abt Gerwaßij geriet in Erregung. In vertraulichem Ton erklärte er:

»Aus dem Synod ist er hergesandt worden. Den Abt hat er erniedrigt. Die Bruderschaft tyrannisiert.«

Der Gießer von dem Eisenwerk warf lachend ein:

»Hat also das Kloster in Zucht gehalten.«

Der Untersuchungsrichter hielt ein Lächeln zurück und forderte den Abt mit einem Blicke auf, fortzufahren.

»Die Klosterwirtschaft lag in seinen Händen; er trägt die Verantwortung. Die Bruderschaft ist schuldlos. Es sind seine Machenschaften.«

»Das mit der Wirtschaft stimmt. Vater Mawrikij, wer trug die Obhut über die Mühle?«

Der Müller kratzte sich nach Bauernart den Bart, blickte den schwarzen Mönch an, furchte die Brauen.

»Abt Gerwaßij soll reden. Vater Polykarp hat für die Verpflegung der Bruderschaft gesorgt. Man muß die Wahrheit sprechen, Hochwürden, und nicht andere bezichtigen, um sich zu rechtfertigen.«

Vater Polykarp blickte finster.

»Fragen Sie den Dienstbruder des Abtes, er muß manches wissen.«

Der wortkarge Bruder Kostja wurde herbeigeholt. In hohem Tenor, halb singend sagte er aus, mit den weißlichen Augen blinzelnd, den Hals vorgestreckt; mager, ausgemergelt stand er da.

»Der Abt und Vater Xanfij wollten den Vater Polykarp stürzen; Vater Xanfij ist aus der Stadt eingetroffen; er hat sich in Vater Akakijs Klause verborgen.«

Vater Xanfij wurde herbeigeschafft; er zitterte, riß die kleinen rotumränderten Augen auf, stotterte vor Erregung, sein durch die Wasserkrankheit gedunsener Leib wackelte, sein herabhängendes Doppelkinn hopste bei jedem Seufzer.

Er verwickelte in das Spinngewebe seiner Aussagen die Väter Akindin, Mißail, Paißij, alle die er kannte und an deren Namen er sich erinnerte, wobei er mit der weißen, wässerigen Hand die schwarze Kette des Rosenkranzes fingerte; jedes Wort war wie eine der von den feuchtkalten Fingern betasteten Beinperlen.

»Zum Ruhme des Klosters hatten die Mönche beschlossen, den Gottesleugner, den Antichrist mit seiner Anhängerschaft niederzuringen; die Bruderschaft, die Starezen kämpften gegen ihn, mich hatte der Herr erleuchtet, mir ein paar fromme Worte in den Mund gelegt, ich wollte aber nichts Übles, kannte Vater Polykarp gar nicht, hatte ihn nie gesehen, auch am See bin ich nie gewesen, ich komme aus einem anderen Kloster … Bin hergeschickt worden, um die Bruderschaft zu warnen … Vater Akindin hat den Beschluß der Starezen ausgeführt, ich aber bin ein siecher Mann, ich hätte das Schleusentor ja gar nicht hochziehen können!!«

Afonka hatte sich in seinem Stuhl zurückgeworfen, ein breites Lächeln spielte um seine Lippen, während er die Mönche musterte.

»Du bist mir ja der reine Giftpilz, Vater! Wo kommst du bloß her? Als ich hier war, gab es solche Bürschchen nicht!«

Petrowskij zuckte zusammen, als Afonka sagte: »Als ich hier war«, und schwieg.

Vater Akindin gab Vater Mißail und drei weitere Mönche als seine Helfer an, die die Schleusen geöffnet hatten.

Vater Mawrikij wandte sich an Petrowskij:

»Jetzt wißt ihr, wer es war. Vater Polykarp hat nichts damit zu schaffen. Die Bruderschaft steht für ihn ein. Ihr werdet selbst wissen, wer zu verurteilen ist.«

Abt Gerwaßij hob die rechte Hand und tat drei Finger zusammen, um sich zu bekreuzigen; das Goldstück entfiel seiner Hand, rollte über den Tisch; er donnerte:

»Gotteslästerer! Das höllische Feuer verschlinge das Gericht der Schandbuben!«

Die Erniedrigung der Mönche vor Afonka, dem ehemaligen Dienstbruder des Abts, der sich nun als Richter über die Bruderschaft aufspielte, hatte den Abt empört. Mit diesem Afonka hatte er gezecht, Kaufmannsfrauen umworben, hatte ihn dazu verlockt, das Kloster zu verlassen, und Afonka hatte ihm in der Stadt seinen Rucksack mit all seinen Sachen gestohlen – greifbar sah er seine gestohlenen Sachen und die geschnitzten Löffel vor sich; Erbitterung über sein verlorenes Leben hatte den Abt wieder ergriffen, und da hatte ihn der Zorn der Verzweiflung fortgerissen.

Afonka lachte dröhnend auf; das Goldstück, das aus Nikolkas Hand gefallen war, hatte ihn belustigt.

»Kannst dich von deinem Geld nicht trennen, Nikolka! Trägst die Goldstücke immer bei dir! … Du hast wohl eine ganze Menge davon? Die möchte ich mir einmal ansehen! …«

Des Abtes unwillkürlich hervorgebrochener Zorn ging wieder in stille, hilflose Verstörtheit über; er stöhnte:

»Ah-ah-ah!«

Bettelnd streckte er die Hand nach der Goldmünze aus:

»Es ist mein letztes … Alles, was ich habe … Mein Leben!«

Petrowskij ekelte es; er flüsterte Afonka zu:

»Das genügt. Lassen Sie die Mönche abführen.«

»Na, Genosse Petrowskij, habe ich nicht recht: ist es nicht eine Spelunke?! Wie so'n Gewürm – fressen einander auf! Zertreten muß man die ganze Bande, bis zum letzten Mann! …«

In diesem Augenblick trat Fenja ein.

Der Wald und die Erinnerung an ihre frühe Jugend, ihre naive und zage Jugend, hatten sie hinausgetrieben. Dort im Walde roch es nach Harz, moderndem Sumpf, feuchtem Moos; ein feiner Herbstregen sprühte trübe auf die Wipfel herab. Beruhigt kehrte sie zurück, lächelte beim Anblick der leeren Landhäuschen; wie viele Sommer hatte sie hier verbracht! Der Gedanke an die Möglichkeit eines Wiedersehens mit Boris wurde ihr immer mehr zur Gewißheit, und der Regen schien ihr wie ein Lied in herbstlicher Klarheit, wenn der Mensch plötzlich eine erfrischende Kühle spürt, tief die Luft in sich einzieht und wohlgemut über den nadelbedeckten Boden schreitet in dem Gefühl, daß alle Anfechtung bloß leerer Schein ist, daß das Leben in Muskeln, im Willen, als ungestillte Freude am Sein in der eigenen Brust liegt; dann erscheint einem der herbstlich finstere Wald als ein ganz anderer – als Freund geklärter Lebensweisheit.

Ihr wurde ganz froh zu Sinn. Sie kehrte durch den Klosterhof zurück. Sie spürte, daß aus den Zellen die Pupillen Namenloser sich auf sie richteten. Vielleicht waren auch Boris' Augen unter den schauenden – gerade darum hatte sie den Weg durchs Kloster eingeschlagen; ihre Erwartung war zu sicherer Gewißheit geworden.

Im Torgang der Doppelpforte, in die Ecke zwischen Pfeiler und Mauer gedrückt, saß starr zusammengekauert, lautlos die Lippen bewegend, Waßja der Blöde; wenn Mönche unter der Bewachung von Soldaten vorübergeführt wurden, segnete er sie mit einer kaum merklichen Bewegung der Finger und flüsterte unhörbar:

»Wer bis zum Ende sein Leid auf sich nimmt, der wird gerettet … Seine Gnade ermüdet nimmer … Amen, Amen!«

Bei Fenjas Anblick schrie er auf, streckte die Hände vor; dumpf rasselten die Ketten.

»Hilf uns, erlöse uns, erbarme dich unser! …«

Die kleine Fenja schrak zusammen, beschleunigte ihre Schritte;

Waßja lief ihr nach.

»Der Antichrist ist gekommen, der Antichrist! … In Gestalt einer Teufelin … Herr, o Herr!«

Afonka hatte kaum geendet, als Fenja und gleich hinter ihr der Blöde eintraten.

Fenja ging schnell auf den Tisch zu.

»Der Blöde hat mich erschreckt.«

Afonka war selig.

»Fjokla Timofejewna, sehen Sie mal hin! Ich habe Ihnen doch gesagt, wir würden hier Freunde treffen … Da steht Nikolka Predtetschin – Ihr verflossener Bräutigam … Ha-ha-ha! Hallo, Nikolka!«

Die Mönche senkten die Augen, Abt Gerwaßij hatte sich abgewandt, Vater Polykarp musterte aufmerksam die Eingetretene.

Als Waßja Fenjas Namen hörte, den Abt und die Mönche erblickte, fing er noch ungestümer zu schreien an:

»Nikolka, Nikolka, jage sie fort, die Teufelin der Sinneslust, sie hat dich verdorben, sie … Mit dem Besen, mit dem Besen verjage sie, die Tochter des Bösen …«

Es riß ihn hin; einen Augenblick lang starrte der Abt die kleine Fenja an und flüsterte wie irr:

»Sie hat mich ins Verderben gebracht … Mein ganzes Leben zugrunde gerichtet … Mein ganzes Leben! … Sie …«

»Die Bruderschaft hat sie zugrunde gerichtet, die mitternächtige Teufelin … Die Bruderschaft, und dich, Nikolka, dich … Verjage sie. Nach deinen Taten wirst du gerichtet und es wird vergolten werden um das Hundertfache … Verjage sie, Nikolka! … Sie bringt Unheil und Verderben über dich und die Bruderschaft … Mit dem Besen, Nikolka, verjage sie mit dem Besen, die Tochter des Bösen … Ach, Nikolka, Nikolka!«

Afonka fuhr auf:

»Waßja, schweig!«

Die roten Soldaten starrten verständnislos von einem zum andern; die Erregung der Mönche, die wüsten Ausrufe des Blöden – da mochten andere draus klug werden. Der ganze Aufruhr währte nur wenige Augenblicke.

Die kleine Fenja stand am Tisch, die Hände auf die Tischplatte gestützt. Sie atmete heftig, rote Flecke hatten ihr Gesicht überzogen; voll Entrüstung sah sie Nikolka an, voll Ekel Kaljabin und die Mönche; sie traf den finsteren, glimmenden Blick des hohen schwarzen Mönches und beantwortete ihn ihrerseits mit einem kurzen, aber aufmerksamen Blick und senkte, wie erliegend, die Augen.

Petrowskij sprang auf und rief:

»Führt sie ab!«

Die roten Soldaten umringten die Mönche und führten sie ab.

Waßja folgte als letzter, mit seinen Ketten klirrend.

»Unheil und Verderben hast du über die Bruderschaft gebracht, Nikoluschka, Unheil und Verderben …«

Afonka stand auf und geleitete die Verhafteten. Er führte sie zu den Landhäuschen. Unterwegs riß sich der Blöde los und eilte in den Wald, wobei er vor sich hin schrie:

»Herr, hilf uns, erlöse uns, erbarme dich unser!«

Die Gewehrschlösser schnalzten. Afonka rief den Soldaten zu:

»Laßt! Hol' ihn der Teufel! Der Besessene ist harmlos.«

Lachend schrie er ihm nach:

»Waßja, Waßja! Gu-gu-gu-gu!«

»Gu-gu-gu-gu!« hallte es durch den Wald.

Afonka hatte das Verlangen, noch lauter zu schreien, berauscht von seiner Macht und seiner brodelnden Stärke.

Die kleine Fenja sprach zu Petrowskij:

»Entsetzlich das! … Wie ein Alpdruck!«

»Ja, ich verstehe … Bloß Kaljabin ist hier in seinem Element!«

»Ach, wozu ist er mitgekommen! Dadurch wird alles noch grauenhafter!«

»Die Erinnerung an sein früheres Leben hat ihn hergezogen, an sein Klosterleben.«

Petrowskij verstummte; er fürchtete durch ein unvorsichtiges Wort an Fenjas eigene Vergangenheit zu rühren; er verstand nun das Drückende ihrer einsamen Abende damals in Petersburg, als sie vor den gespensterhaften Erinnerungen an das Kloster und den rothaarigen Mönch zu ihm in sein Zimmer flüchtete. Er hatte die heimliche Eifersucht und Feindschaft zwischen Kaljabin und dem Abt bemerkt und die Schadenfreude des Siegers. Es war klar, daß Afonkas gehässige Ausrufe, mit denen er den Abt angefahren hatte, Rache für Fenja waren. Er erinnerte sich auch der Briefe Sinas über das unerquickliche Treiben im Kloster und wunderte sich, wie sie es hier so lange hatte aushalten können – ein willensstarkes Mädel.

Es wurde gemeinsam zu Mittag gespeist. Afonka triumphierte. Endlos erzählte er von den Mönchen, berichtete über sein Leben im Kloster, wobei er der kleinen Fenja Seitenblicke zuwarf. Ein breites Lächeln irrte über sein entstelltes Gesicht.

»Und Waßja, der alte Waßja! Der redet wie so'n Prophet! Der Halunke ist in den Wald geflohen, die Leute wollten nach ihm schießen, ich habe es aber nicht zugelassen. Hol' ihn der Teufel! Er kommt ja sowieso zurück, hält es nicht lange aus, wird seinen alten Freund wiedersehen wollen.«

Im Kloster herrschte Erregung. Die Starezen kamen aus ihren Zellen heraus. Die jungen Mönche und Novizen umringten Boris.

»Sie haben Vater Polykarp verhaftet; wir müssen zum Kommissar, um ihn zu retten!«

»Wer würde sich hinwagen?«

»Wir alle müssen gehen, alle zusammen, unverzüglich.«

»Einen Einzelnen würden sie eher anhören, uns alle läßt man auch nicht aus dem Kloster.«

Die Starezen flüsterten hilflos untereinander.

»So ist unser Leben! Wir wissen weder Tag noch Stunde …«

»Die Dornenkrone der Märtyrer nehmen sie auf sich …«

Der greise Vater Doßifej wackelte mit dem Buckel und schnarrte:

»Auch den Schwartschen haben schi fortgeführt – scheht, scheine Anhänger haben schich verschammelt, verschammelt …«

Durch den Wald, über schütteres Moos, ging Waßja im Bogen um das Kloster, trat durch das hintere Tor in den Klosterhof und ließ sich jammernd und klagend auf der Treppe der Abtei nieder; die Handringe der Eisenketten schlug er klirrend gegeneinander.

Die alten Mönche traten gerührt auf den Blöden zu und lauschten seinen verworrenen Klagen über den Abt, die Teufelin, die falschen Richter und das Jüngste Gericht.

Langsam erstand in den alten Köpfen die Erinnerung an die Lebensführung ihres Abtes; die ehrgeizigen Bestrebungen verblaßten, Kloster, Abt, Reliquien, traten in den Hintergrund. Einen Augenblick lang spürte jeder nur eines – das flüchtige Leben, nackt in seiner Wahrheit und Unergründlichkeit.

Unsicher meinte jemand:

»Er hat uns zugrunde gerichtet …«

Waßja wackelte mit dem Kopf und murmelte heiser:

»Fenja, die Tochter des Bösen, verjagt mit dem Besen! …«

Der Weihbrotbäcker Vater Jepifras flüsterte zag, vor Verlegenheit fortwährend seine mit Bindfaden an die Ohren geknüpfte Brille hin und her schiebend:

»Warum hat man auch die Schleusen geöffnet, zu wessen Nutz und Frommen?!«

Ein heiseres Flüstern raschelte durch die schwarzen Kuttenreihen.

»Wer ist schuld daran? Vater Akindin ist hin und her geeilt, hat überall geschürt: nieder mit dem Schwarzen, dem Antichrist …«

Vater Jepifras zog den Schluß:

»Brüder, eigentlich hat er ja für uns gesorgt, hat sich für das Kloster eingesetzt, zusammen mit den jungen Mönchen hart gearbeitet, um das Kloster zu ernähren … Wir haben die Voraussicht und Weisheit des Vaters Polykarp nicht sehen wollen, haben allerlei Einflüsterungen ein williges Ohr geliehen …«

»Vater Xanfij hat unsere Einsicht getrübt, Vater Xanfij …«

Und als Boris – Bruder Jewtichij – zum heiligen Tore schritt, verstummten die Starezen und verfolgten aufmerksam, ob man ihn wohl durchlassen würde.

»Bruder Jewtichij geht hin …«

Ein langes Warten hob an; es schien endlos. Die Alten gingen auseinander, setzten sich auf die Treppe vor ihren Zellen, blieben harrend an den Gartenpforten stehen. In der neuen Kathedrale vor Vater Akakijs Sarg klangen eintönig Psalmen, und die schwarze Kuppel summte.

Boris klopfte an, ohne das Eintrittsgebet zu sprechen.

»Herein.«

Das Käppchen in der Hand, mit ruhiger Stirn, glattem Haar, glühenden Augen – so stand er vor ihnen und sprach mit willensstarker Stimme:

»Ich wende mich an Sie im Namen unserer Mönche mit der Bitte um Befreiung unseres Lehrers, des Vaters Polykarp; wir haben unter seiner Leitung gearbeitet wie die ersten Christen. Die Arbeiter aus der neuen Klosterherberge werden es Ihnen bestätigen.«

Er machte eine Pause, dann sprach er mit derselben festen, leicht singenden Stimme:

»Ich weiche nicht von der Stelle, bis ich nicht über das Schicksal unseres Lehrers beruhigt worden bin.«

Afonka sah den Mönch lachend an:

»Na, sage mir einer: der wahre Gelehrte! … Zu meiner Zeit gab's hier solche Mönche nicht!«

Die kleine Fenja hatte den Unbefleckten an Stimme und Augen erkannt. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an; sein Blick traf sie, erschrocken, erschüttert. Ihr Herz krampfte sich zusammen. Rasch wandte sie die Augen ab und sah Afonka an. Dieser hatte Fenjas Blick bemerkt und saß mit gefurchten Brauen da; Eifersucht zehrte an ihm.

»Du willst wohl sein Schicksal teilen?!«

Er lachte auf, schob den lahmen Fuß vor, fuhr sich durch das rote Zottelhaar.

Erschrocken flüsterte Fenja Petrowskij ins Ohr:

»Nikodim, er ist's … Ich bin nur seinetwegen hergekommen … Ich wußte …«

Petrowskij antwortete leise, ohne auf Fenjas Worte oder Boris acht zu geben, strahlend:

»Ich habe ganz vergessen, es Ihnen zu sagen … Wissen Sie noch, wie wir zu dritt Ähren verkauften, Sie, ich und Sina? … Sie ist hier!«

Der junge Mönch sagte:

»Ich muß der Bruderschaft eine Antwort bringen.«

Petrowskij ließ Afonka nicht zu Worte kommen, stand rasch auf und stellte sich vor Boris.

»Was wollen Sie von uns?«

»Weshalb haben Sie Vater Polykarp vor Ihr Gericht gestellt?«

»Wir sitzen nicht zu Gericht über ihn. Es liegt keine Anklage gegen ihn vor.«

»Dann geben Sie ihn frei.«

»Gehen Sie und sagen Sie denen, die Sie hergeschickt haben, daß Vater Polykarp in Haft bleiben muß, bis die gerichtliche Untersuchung abgeschlossen ist. Ihm droht keine Gefahr.«

Während Petrowskij sprach, bewegte er sich langsam auf den Mönch zu, der ebenso langsam zurückwich, sich allmählich, rückwärtsschreitend, der Tür näherte; als Boris der Tür bereits ganz nah war, wiederholte Petrowskij noch einmal mit Nachdruck:

»Gehen Sie.«

Die kleine Fenja hielt angstvoll alle drei im Auge – Afonka, Nikodim, Boris.

»Genosse Petrowskij, ich meine, wir sollten auch diesen Mönch den anderen zugesellen. Er flötet gar zu süß …«

»Vergessen Sie nicht, Genosse Kaljabin, wozu wir hergekommen sind.«

»Ja, meinen Sie denn, wir sollten die Mönche einfach laufen lassen?!«

»Nein, aber wir müssen alles vermeiden, was unnütz böses Blut macht.«

»Das sähe ja aus, als ob wir Furcht hätten?!«

»Heute kamen die Bauern her, um das Kloster niederzubrennen, morgen aber, wenn wir den Reliquienschrein öffnen, werden wir es sein, gegen die sich ihr Zorn wendet. Sie wissen, Kaljabin, daß wir gezwungen sind, Vorsicht walten zu lassen – die religiösen Vorurteile sind noch längst nicht überwunden, und unsere Handlungen sollen uns das Wohlwollen der Massen einbringen, nicht das Gegenteil. Unnütze Opfer würden morgen neue Feinde hervorrufen, und das Volk würde ein solches Vorgehen als religionsfeindlich auffassen.«

»Also sollen wir alle laufen lassen?«

»Nein, die Schuldigen behalten wir in Haft, die Zeugen aber können ruhig ins Kloster zurückkehren. Aus dem Kloster können sie sowieso nicht fort. Stellen Sie Wachen aus.«

Afonka furchte die Brauen.

Petrowskij verließ das Zimmer. Der Untersuchungsrichter war eingeschlafen.

»Fjokla Timofejewna?«

»Was ist, Kaljabin?«

»Ob wir nicht in den Wald gehen? Kommen Sie!«

Fenja lächelte, zog ihre Lederjoppe an, setzte die Kappe auf und ging mit Afonka spazieren.

Sie spürte, daß Kaljabin heute ganz im Bann seiner Klostererinnerungen stand, und schritt darum ruhig an seiner Seite hin, um aber seine Gedanken von diesen Erinnerungen nicht abschweifen zu lassen, beschloß sie, unermüdlich auf ihn einzusprechen.

Die braunroten Fichten schwankten und rauschten, graue, zerrissene Wolken jagten dahin, der Regen hatte aufgehört, und blaue Inseln erschimmerten am Himmel.

 


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