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8

Es wogt ein trübes Brauen und Wallen im herbstlichen Dämmerschein über Petersburg, als irre eine sündige Seele ungesühnt durch die feuchten Nebelschwaden … Besonders schwer und drückend sinkt die Dämmerung auf die Vorstädte hinab – hier werden die Laternen erst spät angezündet und auch nicht alle, immer nur eine von zweien, und man fragt sich, wozu wohl diese verlorenen Flämmchen brennen? … Die Fabrikschlote stoßen gegen den Himmel und beflecken wie schmutzige Besen die niedrigen Wolken; den ganzen Tag sickert ein feiner Regen herab; schwer sinkt der durchnäßte Rauch zu Boden, dringt in alle Ritzen, alle Winkel ein; in den engen Gassen kann man kaum atmen in dem Qualm, muß aber doch atmen, in sich saugen den schwarzen Fabrikschweiß, der nicht nur in alle Ecken der menschlichen Behausungen, sondern auch in alle Poren des erschöpften Körpers dringt.

Darum sind die Menschen in den Vorstädten auch so finster und mürrisch. Qualm und Ruß hat sich in die Gesichter eingefressen, die Hände geschwärzt. Qualm und Ruß, mit Blut vermischt, speien hüstelnd die Menschen auf die Straße, schwarzroten Schleim; nicht nur nach Rauch, der Dunstkreis der Arbeit riecht nach Ausdünstungen des menschlichen Körpers. Müde kommen sie von der Arbeit, ziehen fröstelnd den Rock über der Brust zusammen, eilen im Laufschritt in die Bodenkammern und Keller, wirklich im Laufschritt, um ihre Ärmlichkeit nicht von den trüben Laternen bescheinen zu lassen, unter denen vor Schenken und Teestuben gleich lebendigen Schaufenstern des menschlichen Elends Frau oder Tochter steht, eines Käufers harrend – da heißt es schnell vorüberschlüpfen, damit man sie nicht sieht und auch sie nichts sehen.

Der hereindringende feuchte Qualm im Keller, die rauchenden Schlote vor der Bodenkammer beklemmen einem die Brust; da geht der Mensch in die Schenke, um Sehnsucht und Lebensüberdruß zu ersticken in Bier und Fusel, und ihm scheint, daß der alles durchdringende Rauch und Qualm vor dem Rausch machtlos ist: ihn durchdringt er nicht. Berauscht tritt der Mensch wieder auf die Straße hinaus und sieht nichts und merkt nichts mehr von dem Nebel, denn nun brodelt der Nebel auch in seinem Kopf, und die Laterne erscheint ihm als Leitstern. Er tritt näher heran und blickt in zwei lockende, hungrige Augen; es ist nackter Hunger nach einem Stück Brot, der gierig aus diesen lockenden Augen lugt, dem Berauschten aber deucht, es sei Liebesgier. Der Nebel im Kopf wird immer dichter – wer fände sich da zurecht, ob es Hunger nach Brot, ob es Liebessehnsucht ist?! Es ist ja beides – Hunger nach Leben; der eine stillt ihn mit Fuselschnaps, der andere spielt um des täglichen Brotes willen den Liebenden und stillt seine Sehnsucht mit Fuselliebe. Die spärlichen Laternen aber brennen immer vor den Schenken, und so sind sie doch am richtigen Orte angezündet worden und wissen, wozu sie brennen.

Der Mensch würde auch vergeblich den Himmel nach Sternen absuchen, er würde keinen einzigen Stern entdecken – Besen haben sie weggewischt, Besen, in die Gosse der herbstlich schmutzigen Gassen getaucht, sind über den Himmel gestrichen, und statt der Sterne gibt es nur den Widerschein von Laternen in Schmutzlachen – je größer eine Pfütze ist, desto klarer leuchten die Sterne darin.

Afonka Kaljabin kam betrunken aus einer Schenke, trat an einen Laternenpfosten, um seine Notdurft zu verrichten, und begegnete dem Blick von zwei gierigen Augen …

»Vielleicht nimmst du mich mit? …«

»Scher' dich, Luder – man hat wichtige Geschäfte zu erledigen, und da kommst du einem in die Quere!«

Das Mädchen trat beiseite, näher zum Eingang der Schenke, um den Mann nicht zu stören. Kaljabin hatte die Lache vergrößert, blickte zum Himmel auf, spuckte aus und starrte den Widerschein des Laternenflämmchens in der Pfütze so beharrlich an, als hätte er seinen Stern von Bethlehem entdeckt.

Afanassij Kaljabin verlebte die letzten Reste seines Geldes, jenes Geldes, das er vom Ingenieur Drakin aus den Händen der kleinen Fenja zum Dank erhalten hatte.

Um ihretwillen hatte er den Studenten Petrowskij in die Verbannung schicken lassen und dabei auch sie verloren – sie war fortgereist, verschwunden. Tagelang war er vor ihrer Wohnung auf und ab gewandert, in der Hoffnung, sie zu treffen. Schließlich hatte er sich an den Hausknecht gewandt.

»Wohnt das Fräulein noch hier?«

»Was für ein Fräulein? Troll' dich …«

»Antworte mir lieber, sonst …«

»Sie ist weggereist. Was treibst du dich hier herum – die Polizei ist nicht weit …«

»Mit deiner Polizei machst du mir nicht bange – vielleicht komme ich selbst von der Polizei, um nachzuforschen …«

»Das hättest du auch gleich sagen können; also sie ist wirklich weggereist.«

Er mochte nicht nach Hause gehen, so ging er in die Schenke – es war dieselbe Schenke, in der er mit Petrowskij zusammengekommen war – und ließ einen Dreirubelschein springen. Allein langweilte er sich, setzte sich darum zu einem mikrigen Männchen, das er an der Kokarde seiner Mütze als kleinen Beamten erkannte – sich zu einem Studenten zu setzen, getraute er sich nicht. Aus Leßners Fabrik hatte man ihn hinausgeschmissen, und nachdem er Petrowskijs Verbannung nach Sibirien zuwege gebracht hatte, hatte er jeden Halt verloren. Einst hatte er gemeint, einen Weg vor sich zu sehen, war abgeirrt, jetzt fand er sich nicht mehr zurecht. Wie lange hatte er gesucht, bis er schließlich Menschen fand, die um Recht und Gerechtigkeit kämpften, um Wahrheit, wie er es nannte – vielleicht hätte er seine Wahrheit nicht wieder verloren, wenn Liebe nicht dazwischen gekommen wäre und ihn wirr gemacht hätte. Er hatte gehofft, durch Entfernung jenes Studenten die kleine Fenja zu gewinnen, ihm einen Strick gedreht, sich darum an die Gendarmen verkauft – nicht Geldgier hatte ihn dazu getrieben, sondern seine Liebe zu der kleinen Fenja … Da war nun der Student entfernt worden, und das hatte ihm jeden Weg zu seinem Stern von Bethlehem verschüttet, und zugleich hatte er seine Wahrheit verloren – wie von einem Aussätzigen hatten sich alle von ihm abgewandt. Auch heute hörte er die Studenten unter sich flüstern:

»Der Rothaarige ist hier …«

»Der Verräter … Hat einen Kameraden angegeben …«

»Ein Spitzel, hat Indizien unterschoben …«

Sie steckten die Köpfe zusammen, warfen Blicke nach ihm, tranken ihr Bier aus und verließen einer nach dem anderen das Lokal …

Ihm war es jetzt gleichgültig – seine Wahrheit hatte er verloren, und alles hatte sich verwirrt, vor allem aber – vielleicht hatte er auf immer auch seinen Stern von Bethlehem verloren …

Er setzte sich zu dem betrunkenen mikrigen Beamten …

»Man wird ganz schwermütig so alleine … Darf ich mich Ihnen zugesellen?«

»Setzen Sie sich, zu zwein ist's immerhin lustiger … Auch mich hat's heute überkommen, das Trübsalblasen …«

»Macht nichts! Zu zwein ist's lustiger – wir ersäufen die ganze Trübsal.«

Langsam wuchs die Zahl der leeren Flaschen um sie herum; sie stellten sie links und rechts unter den Tisch; jedesmal, wenn eine Flasche leer geworden war, wurde mit dem Boden gegen den Tisch geklopft; zusammen mit den Flaschen wurden auch die Teller gewechselt …

Kaljabin sprach als erster – sein dumpfes Leben quälte ihn –, früher hatte er sich mit Petrowskij aussprechen können oder mit einem Arbeitsgenossen, seinem Freunde, dem Schlosser; jetzt aber, da er stellenlos war und alle sich von ihm wie von einem Aussätzigen voll Abscheu abwandten, fühlte sich Afonka verloren und verlassen in der Welt. Der Mensch kann nicht leben ohne seinesgleichen, es zog ihn zu den Menschen, mit wem aber sollte er sprechen – nur mit ebensolcheinem Verlorenen wie er.

So kam er denn mit seiner Flasche zu ihm hinüber und begann zu sprechen – hatte so wenig Worte, und in jedem Worte lag etwas von der Dämmertrübe der Herbstabende in der Petersburger Vorstadt.

»Also mit Ihrer Erlaubnis, verehrter Herr Beamter – nicht wahr, ich irre mich doch nicht –, Sie haben da eine Mütze mit Kokarde, sind also ein gebildeter Mann und können einen betrunkenen Menschen über sein Leben aufklären; mein Leben ist aber nicht das eines Trunkenbolds – ich habe mich bloß heute besoffen, wegen – na, wegen eines gewissen Vorfalls.«

Der mikrige Beamte sah ihn mit farblosen Augen an …

»Welch eines Vorfalls? …«

Ein dünnes, trunkenes Tenorstimmchen, glasige Augen, weißlich blondes Haar, sauber, wie abgeleckt – ein Sommerröckchen aus Leinwand, die zwei unteren Westenknöpfe offenstehend – ob aus geckenhaften Neigungen oder sonst warum, war nicht recht ersichtlich, und in den trunkenen Augen mit weißlichen Wimpern zuweilen unerwartet ein Ausdruck der Verachtung …

»Da mußte ich eben austreten, Sie verstehen, ging auf die Straße, an die Laterne, und an der Laterne stand eine reizende Dame. – ›Weg‹, sagte ich, sie trat beiseite, mich aber überkam solch eine Schwermut, daß es mich wieder ins Kloster zog – ich war nämlich Mönch, müssen Sie wissen, und hier in der Stadt gaben sie mir auch den Spitznamen ›der Mönch‹ – na, das war einmal, jetzt aber winde ich mich wie so 'ne verbuhlte Dirne im Schmutz … Ich knöpfe also den bewußten Knopf wieder zu und denke: Wenn doch wenigstens ein einziger elender Stern über dir leuchtete! Nichts als dies trübe Geschwele vor den Augen … Ich aber habe ja jahrelang nach so einem Stern ausgeschaut, bin ihm gefolgt, wie so 'n Weiser aus dem Morgenland in Wüstennacht, und so ein Stern hat mir geleuchtet, wahrlich ein Stern von Bethlehem – ein überirdisches Licht von engelhafter Schönheit ging von ihm aus … Um seinetwillen habe ich einem schuldlosen Menschen mutwillig sein Leben zerstört, der geht jetzt in Sibirien spazieren, sozusagen, und sehen Sie …«

Er blickte sich um – zwei Studenten saßen noch da und stritten sich.

»Sehen Sie die Studenten da? Das war auch so einer, eine ehrliche Haut, hat mich die Wahrheit erkennen gelehrt, dann aber kam er mir in den Weg, und hier unter dem Herzen, da bohrte es in mir, gab mir keine Ruhe – hätte ihn einfach erwürgen sollen, ich beging aber eine niederträchtige Gemeinheit – wollte meine knotigen Hände nicht an ihm beschmutzen; ich mach's fein sauber, sagte ich zu mir, ließ mich mit Spitzeln ein, mit dem Dreckpack, und da habe ich meine Wahrheit verloren, und mein Stern von Bethlehem ist untergegangen …«

Er seufzte, goß seinem Partner Bier ein, schüttelte den rothaarigen Kopf mit dem gebrochenen Nasenbein und stürzte sein Glas hinunter; seine riesige Hand langte nach einer neuen Flasche.

»Wozu tauge ich jetzt noch? Sie haben sich alle von mir abgewandt, nur die Dirnen sind mir geblieben, Zuhälter kann ich werden … Ich habe da zwei Mädel im Auge, die küssen mir die Hände, brauche bloß mit dem Finger zu winken, wegen meiner Manneskraft, wissen Sie – habe ja auch im Kloster Kaufmannsfrauen angenehme Dienste geleistet, die Lüste verbuhlter Weiber befriedigt … Na, darauf trinken wir noch eine, mein Geld versaufe ich sowieso – da ist ein Ingenieur, der wird sich bequemen müssen, mir noch welches zu schicken, braucht sich gar nichts einzubilden … Ich brauche nur anzutippen – ein halbes Tausend sendet er mir! Dann machen wir einen Bummel, ich bringe meine Mädel mit – beste Ware, sage ich Ihnen, sie machen's um des Vergnügens willen, nicht aufs Geld kommt's ihnen an; halten sich mehr an die Spitzel, um keine gelbe Kontrollkarte nehmen zu müssen …«

Der Blick des jungen Beamten erlosch; traurig sagte er:

»Mir hat's der Arzt verboten, darf's nicht tun … Ich habe eine üble Krankheit.«

»Die haben Sie sich wohl bei den Dirnen geholt? … Die Luder! Ersäufen sollte man sie alle, in ein Eisloch werfen, den Kopf voran – schau hin, rechtgläubiges Volk: deine Greueltaten …«

Der Beamte ließ den Kopf hängen; käsig im Gesicht, mit weinerlicher, dünner Stimme sagte er:

»Ich darf jetzt nicht …«

»Warum trinken Sie dann?«

»Ich will an kein Weib heran, wenn ich es auch den Weibern zu verdanken habe … Es ist ein Verbrechen, andere Menschen zu vergiften … Ich kann das nicht machen. Zuweilen zwar denkt man: Ich will mich rächen, ich kann's aber nicht tun. So die erste beste anzustecken ist eine Niedertracht, na und die feinen Damen mit Brillanten, die nach dem neuesten Parfüm duften, an die komme ich jetzt nicht heran. Ich habe ja meine Krankheit gerade von solch einer erworben, lieber Freund, und jetzt heißt's, meine Nase werde einsinken …«

Und wirklich tastete das weißblonde Männchen beständig mit den Fingern an seinem Nasenrücken herum, dessen Biegung sich ungewöhnlich vertieft hatte und von Fältchen umzogen war, während die Nasenspitze verdächtig hervorragte.

Es war leer geworden in der Schenkstube – die Polizeistunde rückte heran.

Der kleine Beamte seufzte wieder und fügte hinzu:

»Sie sehen, auch ich habe meinen Stern von Bethlehem gehabt – aber was für einen! Ein Andenken habe ich zum Geschenk erhalten, an dem ich mein Leben lang zu tragen haben werde, und dies Leben ist jetzt wohl bald zu Ende!«

Auf der Straße wollte der Semmelblonde mit seiner Erzählung fortfahren, aber Afonka unterbrach ihn barsch:

»Gute Nacht!«

Der Beamte blickte Kaljabin verwirrt an, blinzelte heftig mit seinen weißlichen Wimpern, wollte noch etwas sagen, doch Afonka nahm die Mütze ab und sagte, ohne ihm die Hand zu geben, um ihn schneller loszuwerden:

»Wir haben verschiedene Wege, ich gehe nämlich zu den Mädels!«

 


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