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3

Nach Anbruch der Dunkelheit stahl sich der Abt, in dunkler Kutte, im Käppchen statt der hohen Mütze, nach dem Vorwerk. Herbstwinde hatten eingesetzt. Sprühregen schlug ihm ins Gesicht.

In Arischas Zelle ließ er sich auf die Bank am Tisch nieder, die schweren Hände auf die Tischplatte gestützt, sah die junge Nonne verstohlen an und wußte nicht, was sagen, was tun: die Wiege hinter dem weißen Vorhang, das Weinen des Kindes, die Mutter, die sich besorgt mit dem Kleinen zu schaffen machte, waren ihm unheimlich und bedrückten ihn. Leichtfertig, sich seiner sieghaften Männerschönheit bewußt, war er gewöhnt, Frauen zu nehmen, ohne an das Weitere zu denken. Wald und grünes Moos, der blaue Himmel darüber, die heiße Sommersonne oder große klare Sterne – da atmete es sich leicht und freudig. Lauernde Spannung, Zugreifen im rechten Augenblick führten zu Sieg und Eroberung, und dann kam wieder die stille Zelle, die weiße Klostermauer – er war frei wie der Vogel – einem Mönch gegenüber konnte man ja keinerlei Ansprüche geltend machen! … Auch über seine Liebschaft mit Arischa hatte er nicht weiter nachgedacht, hatte seine Freiheit genossen, solange die junge Nonne in Seligkeit schwelgte und keine Wiege da war, in der ein Kind lag und weinte. Niemand konnte etwas davon erfahren, niemand würde ihm Fragen stellen, und dabei brauchte er nicht bei heimlichem Stelldichein im Walde zu warten, sich im Dickicht zu verbergen, um nicht gesehen zu werden, konnte ruhig zu ihr kommen und die durch seine Liebkosungen Beglückte nehmen, wann immer er wollte. Dann kam das Kind – er wußte nicht einmal recht, wann sie geboren hatte: durch Gäste aus der Stadt war er in jener Zeit zu sehr in Anspruch genommen, um Arischa zu besuchen. Und allmählich hatte sich ein Gefühl der Ablehnung, ja der Feindseligkeit gegen das kleine Wesen bei ihm eingestellt, das seine Freiheit beschränkte, ja ihn gefährdete. Insgeheim war er zuerst stolz gewesen auf sein Kind, dann aber waren ihm Bedenken gekommen; er, der Mönch, der Abt Gerwaßij, hatte ein Kind! Das durfte nicht sein, es beunruhigte ihn, dieses Kind war eine stete Bedrohung, war sein Feind. In einem zärtlichen Augenblick hatte es zu weinen begonnen, Arischa hatte sich aus seiner Umarmung gelöst und war an die Wiege geeilt – er wußte, daß er ihr daraus keinen Vorwurf machen konnte, trotzdem war er ärgerlich aufgestanden und fortgegangen.

Die Sache mit der Klageschrift und die Untersuchung danach hatten ihn vom Vorwerk ferngehalten. Nach der Demütigung der Angeber war er, frohlockend über seinen Sieg, wieder zu Arischa geeilt. Jetzt war alles geklärt, ihm drohte keinerlei Gefahr mehr; kaum aber hatte er die Schwelle der jungen Nonne überschritten und die Wiege erblickt, da fühlte er wieder Arger und Zorn in sich aufsteigen, und sein Liebeshunger vermengte sich mit Erbitterung.

Arischa setzte ihm Tee vor und sagte bittend, mit unterwürfigem Blick:

»Geh lieber nach Hause, Nikoluschka – der Kleine ist nicht ganz gesund, und auch ich fühle mich nicht wohl.«

Zorn stieg in ihm auf; er sah sie eigensinnig an, schlang den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich.

»Ich bin hergekommen, um bei dir zu übernachten; wir haben jetzt nichts mehr zu fürchten.«

Sie entwand sich ihm, stieß seine Hände zurück und sagte mit der gleichen bittenden Stimme:

»Ich kann nicht, quäle mich nicht! … Vom letzten Male her ist er erkrankt, es muß an der Milch liegen. Ich will nicht! …«

Er schrie sie böse und grob an:

»Hast ja genug Kühe da!«

Doch die Nonne riß sich wieder los. Da ging er und warf die Tür krachend hinter sich zu. Mehrere Tage blieb er fern; schließlich hielt er es nicht mehr aus, kam in der Nacht zu ihr geschlichen. Ihre sanften Augen in dem abgemagerten Gesichtchen blickten ihn schmerzlich und ergeben an:

»Bist du wiedergekommen? … Mach', was du willst, aber quäle mich nicht – ich bin doch ganz dein.«

Sie trat auf ihn zu, sank plötzlich auf die Knie und drückte ihre trockene, heiße Stirn gegen seine Hand. Ein Tränenstrom benetzte diese Hand. Er zog die Weinende zerknirscht an seine Brust empor.

»Ich bin dir nicht böse – aber man ärgert sich halt …«

Am Morgen, noch vor dem ersten Lichtschein, geleitete Arischa ihn hinaus, kehrte, als seine Schritte verhallt waren, in ihre Zelle zurück und flüsterte, über ihr Kind geneigt:

»Unglücklich hat er mich gemacht, mein Leben zerstört! …«

 

Immer seltener kam er, trank schweigend Tee, ging zu Bett, löschte die Lampe aus, wurde zärtlich. Sie gab sich ihm hin, unterwürfig und gleichgültig; er geriet in Wut, quälte sie. Er ersann allerlei Ausflüchte, um sein Fernbleiben vor sich zu entschuldigen: bald war die Herbstnacht zu regnerisch, bald herrschte Glatteis – er könnte ausgleiten, sich den Arm brechen, das Bein verrenken – dann wieder war frischer Schnee gefallen, da könnte man seine Spuren bemerken, oder ein Schneegestöber hatte alle Pfade verschüttet. Und im Frühjahr, von Beginn der großen Fasten bis zu Ostern, war er kein einziges Mal zu ihr gegangen.

Und je mehr er sich von Arischa entfernte, desto sehnsüchtiger gab er sich seinen Träumen von der Archimandritenmütze hin, von der Würde eines Oberabts, von der Heiligsprechung der Reliquien. Und als zusammen mit den Schwalben die ersten Wallfahrer und Pilger heranzogen, begann er ungeduldig auf Wundertaten des Klostergründers zu warten. Er schickte Vater Akindin wieder in die unterirdische Kapelle der alten Kathedrale, wo er die Wundertaten des Starez, seine Erscheinungen in Traumgestalt, mögliche Himmelszeichen vermerken sollte …

Jeden Abend ließ er Vater Akindin in die Abtei kommen und erkundigte sich, ob nicht ein Wunder geschehen sei. Und Tag für Tag antwortete dieser:

»Nein, Vater Abt, es hat sich nichts Wunderbares ereignet.«

»Vielleicht bemerkst du die Wunder nicht, Vater Akindin? Vielleicht wirkt der Starez Wunder im geheimen, du aber bist nicht würdig, sie zu erschauen?«

»Kann auch sein, Vater Abt!«

»Bete, Vater Akindin, bete eifrig!«

 

Mehrere Male ging er in Wirtschaftsangelegenheiten auf das Vorwerk. Duftendes Harz perlte aus den Stämmen, das Moos war frisch und grün geworden, die jungen Farnwedel, die grünen Raupen ähnelten, entfalteten sich. Es zog ihn nicht mehr zu der jungen Nonne, nur einmal fragte er sie auf dem Hofe, ohne sie bei Namen zu nennen:

»Wie steht's?«

Arischa wußte nicht, was sie darauf antworten sollte, wand sich ein wenig, konnte aber schließlich doch nicht an sich halten:

»Er macht die ersten Gehversuche – längs der Wand …«

 

Abt Gerwaßij richtete sein Augenmerk wieder auf die Klosterwirtschaft. Den ganzen Winter über hatte er ungeduldig auf eine Mitteilung aus dem heiligen Synod über die bevorstehende Entdeckung der Reliquien und auf Anweisungen über die damit verbundenen Schritte gewartet; vergeblich! Nach Ostern fuhr er in die Gouvernementsstadt zum Bischof, traf aber Seine Eminenz nicht an – der Bewahrer der Kirchengeräte erklärte ihm, der Bischof befände sich in der Hauptstadt, um die Sache durchzudrücken. Das beruhigte den Abt. Er wartete nun auf das Eintreffen eines gelehrten Hieromonachen, der das Kloster zu den Feierlichkeiten vorbereiten sollte, doch kam weder ein Hieromonach noch eine Benachrichtigung; auch keine Wundertaten geschahen. So beschloß er denn, zu warten und inzwischen das Kloster instand zu setzen. Er begann mit der Sakristei, ließ dann die Klostermauern neu weißen und die Seiten der heiligen Pforte mit Bildern aus dem Leben des Starez Simeon schmücken – die Errichtung des Klosters, die Heilung kranker Mönche durch den Starez, seine wunderbare Errettung vor der Hinrichtung und seine Einkleidung als Skimnik. Ein hausbackener Kunstmaler unter den Mönchen und sein Gehilfe, ein Novize, standen den ganzen Tag im Sonnenbrand auf dem Gerüst, und unter ihren Pinselstrichen entstanden die Blockhäuschen der Zellen, Mönche, der Starez, dunkle Kiefern und meerblauer Himmel. Wallfahrer und Pilgerinnen blieben stehen, blickten gerührt auf die bunte Pracht. Abt Gerwaßij, der oft hinkam, um den Fortschritt der Arbeit zu verfolgen, erzählte jedem – jedesmal anders – das Leben des Klostergründers.

Der Maler-Mönch und der Novize ließen ihre Pinsel im Stich, lauschten den Worten des Abts und wunderten sich im stillen darüber, woher Vater Gerwaßij alle die Einzelheiten aus dem Leben des Starez und des Klosters hernahm, und wenn der Abt fortging, setzte der Mönch die Erzählungen fort, wobei er alles durcheinanderwarf, was er über das Leben der vielen Heiligen gelesen hatte.

Der Novize fragte ihn zuweilen verdutzt:

»Vater Valentin, das ist aber doch aus dem Leben des heiligen Sawwa?«

»Ach, Bruder, laß das Zweifeln und Tüfteln! Das Leben des Mönches ist sich überall gleich. Auch unser Starez hat so gelebt wie die übrigen Heiligen, von denen uns die Überlieferung meldet. Du aber grübelst, wo nichts zu grübeln ist – male mir lieber die Kiefern hier zu Ende …«

 

Wieder waren Kaufmannsfrauen eingetroffen, die in den Landhäuschen des Klosters den Sommer verbringen wollten und zum Abt kamen, um seine Genehmigung und seinen Segen zu empfangen. Nikolka dachte seufzend an die schöne Zeit, als er sich mit seinen Freunden den ganzen Tag im Walde umhertreiben konnte und mit Witwen oder ihren Töchterlein in Himbeerdickichten verschwand; voll Neid blickte er auf die Novizen, die an den Fenstern der Landhäuschen vorüberstreiften, nach gleichen Möglichkeiten Ausschau haltend.

 

In der Mühle traf er den Starez Akakij mit seinem langen weißen handtuchförmigen Bart, dem glatten Silberhaar, dem Krückstock; einige Schritte hinter ihm ging Waßja, der Blöde, in schwarzem Käppchen und seiner alten geflickten Kutte – lang, mager und still. Als er den Abt erblickte, sah er ihn kurz an, senkte aber gleich wieder die Stirn. Der Starez trat auf Vater Gerwaßij zu, der Blöde blieb in einiger Entfernung mit gesenktem Kopf schweigend stehen, nur die knochigen Finger seiner langen Hände bewegten sich unablässig. Der Starez sah Nikolka lange und prüfend, aber ebenso gütig und freundlich an, wie er alle Menschen anblickte. Er nahm den Segen des Abtes entgegen und sagte mit leiser, tonloser Stimme:

»Versuche den Herrn deinen Gott nicht, mache dich nicht zum Werkzeug des Verführers der Menschen. Du bist Mönch; dir ist viel gegeben, und viel wird von dir gefordert werden. In deinen Händen ruhen die Seelen der Reumütigen und Demütigen. Vermagst du im Kloster den Weg der Wahrheit nicht zu gehen, so zieh in die Welt hinaus und suche dort nach Wahrheit … Aber versuche den Herrn nicht.«

Und unerwartet erfaßte den Abt plötzlich eine unbegreifliche Angst; als bedrückend empfand er plötzlich seine Feindseligkeit gegen sein Kind, seine Verbindung mit Arischa. Zum ersten Male spürte er, daß sich in seinem Leben alles verwirrt hatte, und sah keinen Ausweg. Dem Klosterleben war er verfallen, ihm gehörte er mit seinem Trachten und Sinnen und jedem Gedanken. Sein Wunsch, alle seine Kräfte dem Heil und Frommen des Klosters zu widmen, war aufrichtig und ehrlich und wurde immer schärfer und hartnäckiger, zugleich aber wußte er, daß er auch hierbei in erster Linie an sich selbst dachte. Die Festlichkeiten anläßlich der Heiligsprechung des Klostergründers zogen in verschwommenen Bildern an seinem Auge vorbei, und davor verblaßten Arischa, die kleine Fenja, sein ganzes, durch Sinneslust und fleischliche Begierde getrübtes Leben; seine Seele wandte sich vom Weibe ab. Die zufällige Begegnung mit dem Starez war wohl nur ein letzter Anstoß; es hatte schon lange in ihm gegärt. Die Demütigung auf dem Vorwerk, in Gegenwart der hohen Gäste, war jener Tropfen gewesen, der das Maß der Heimsuchung zum Überlaufen gebracht hatte, und die Geburt des Kindes hatte ein übriges getan. Einen Augenblick lang fühlte er sich schuldbelastet. Durch seine Verbindung mit Arischa hatte er es ermöglichen wollen, zweien Herren zu dienen – Abt zu sein und zugleich der Welt zu frönen; das hatte Verwirrung in sein Leben gebracht, dessen Zügel ihm entglitten waren. Jetzt konnte er Arischa nicht einfach abschütteln und sie ihrem Schicksal überlassen; er mußte sich aber von ihr zurückziehen, sonst drohten ihm Entweihung, Entsetzung von der Abtswürde, Solowki, eine feuchte Kellerzelle, Tod. Alles, was er in den Jahren nach der Trennung von der kleinen Fenja erstrebt und errungen hatte, würde in nichts zerfließen! Ihm selbst unerwartet sank er zu Füßen des Starez mit dem halbunterdrückten Aufschrei:

»Vater, erlasse mir meine Sünden! Weise mir den rechten Weg!«

»Stehe auf! Gehe den Weg der Wahrheit und der Demut. Viele Sorgen lasten auf dir, und groß ist deine Verantwortung, aber immer wieder unterliegst du der Versuchung des eitlen Sinnenlebens. Die Kraft und die Gaben, das Meer des weltlichen Lebens zu meistern, sind dir nicht gegeben, so lenke dein Schifflein in die stille Zuflucht der Klostermauern.«

Vater Akakij hob langsam den Arm und wies in die Richtung nach dem Vorwerk:

»Du wurdest versucht und bist unterlegen; tue Buße! Jetzt hast du auch nicht eine Stunde Zeit zum Gebete. Dir ist viel gegeben, und viel wird von dir gefordert werden; laß deine Taten für dich sprechen. Von jenem Leben aber« – wieder hob er die Hand und streckte den Zeigefinger aus – »wende dich ab, zerstöre nicht länger ein fremdes Menschenleben; viele Seelen verlockt dein Tun zu Sünde und Zweifel. Was du gefehlt hast, mache wieder gut durch Demut und Liebe und nimm anderen nicht, was ihr Leben ist.«

Waßja hatte stumm den Worten des Starez gelauscht, und als der Abt sich erhob, lief der Blöde auf den Starez zu, kniete vor ihm nieder und verneigte sich tief, mit der Stirn den Boden berührend. Dann stand er auf, drehte sich um und verneigte sich ebenso tief vor dem Abt. Da erst bemerkte Vater Gerwaßij den Blöden und schrak vor Überraschung zusammen.

Waßja stand auf und sagte leise, ohne in sein gewöhnliches Gezeter zu verfallen:

»Nikoluschka, nimm mich nicht wieder von dem Starez fort, der Starez schlägt mich nicht, der Starez ist so gütig …«

»Vor dem Worte der Güte tut sich des Menschen Seele auf. Die Seele des Mönches aber ist Buße und Demut. Waßenka ist still und friedlich, wenn man ihm nicht wehe tut, er ist ein demütiger Mönch …«

»Du magst ruhig bei dem Starez bleiben, Waßenka, ich will dich nicht von ihm nehmen, und der Segen des Herrn sei über dir.«

 

Zusammen mit Vater Akakij ging der Abt bis zum Domänenwald, wo der verkaufte Klosterforst begann. Die Bauern von Polpenki rodeten Baumstümpfe aus. Dort, wo im Vorjahre der Wald gefällt worden war, wucherte ungestüm Gras und grünes Buschwerk empor. Der Starez blickte auf die Lichtung hinaus und sprach, ohne sich an den Abt oder Waßja zu wenden, traurig vor sich hin:

»Diese Gottesschönheit ist dahin! Als junger Mann kam ich ins Kloster, da stand schon dieser Wald in seiner Herrlichkeit seit Menschengedenken. Nun ist es hier wüst und leer …«

Der Abt spürte in diesen Worten einen Vorwurf und wollte sich rechtfertigen.

»Das Kloster hat große Ausgaben – die Aufnahme der Gäste, die Reliquien …«

Der Starez unterbrach ihn:

»Ich habe dir bereits gesagt, Mönch – wem viel gegeben ist, von dem wird auch viel gefordert werden.«

Vater Akakij ging in den dichten Domänenwald hinein, Waßja folgte ihm wie früher in einiger Entfernung.

Der Abt hatte sich vor dem Starez verneigt und schritt den Graben entlang, der den Klosterwald vom Domänenwald trennte. Der Graben war ganz mit Farnen überwuchert und zog sich als schmale Schneise hin. Nikolka war noch niemals hier gewesen. Der Wald war still, rauh, finster. Die Gipfel der Fichten verdeckten den Himmel und rauschten herb. Der Abt wollte feststellen, wohin der Grenzgraben führe. In das feuchte, hier niemals trocken werdende Moos sank tief der Fuß. In der Ferne, am Ende des langen, dunklen Korridors, winkte ein heller Schein; die Eisenbahnlinie durchquerte hier den Wald. Jenseits des Dammes fraß sich der Graben weiter in die dunkle Waldestiefe. Es war ein sonniger, klarer, fast heißer Sommertag; durch den Wald aber strichen kalte, feuchte Lüfte; zuweilen sank der Fuß schmatzend in sumpfigen Boden. Allmählich lichtete sich der Wald, an einer Seite begannen Felder, von der dunklen Wand des Klosterwaldes begrenzt. Einige kleine Hügel hinab, auf denen ein Dorf lag – Nikolka wußte nicht einmal, was das für ein Dorf war – schlängelte sich ein Weg, der im Klosterwalde verschwand.

Nikolka beschloß, den Graben entlang bis zu diesem Wege zu gehen, der ihn wohl zurück zum Kloster führen würde. Den Rain entlang erreichte er den Weg und kam wieder in Wald. Nahe am Wege, auf Klostergrund, stand ein Blockhaus. Der Abt war hungrig geworden und bog in den Hof ein. Wie viele Jahre war er schon im Kloster, hatte wohl den ganzen Wald zwischen Kloster und Polpenki kreuz und quer durchstreift, auf dieser Seite aber, rechts von der Mühle und dem Eisenbahndamm, war er noch niemals gewesen. Auch die Mönche wußten wohl kaum von diesem Anwesen. Vor dem Hause spielten zwei dunkeläugige kleine Jungen, mit schwarzem Kraushaar und bloßem Hemde im weißen Sande. Beim Anblick des Mönches verschwanden sie im Hause. Ein hakennasiger weißhaariger Greis kam dem Abt dienernd entgegen.

Nikolka wurde sogar verlegen, fragte:

»Ist dies Klosterwald?«

Der Alte lachte, und seine Augen blickten spöttisch:

»Woher kommen Sie denn?«

»Aus dem Kloster.«

»Und da wissen Sie nicht einmal, daß dieser Wald dem Kloster gehört?!«

»Kann ich bei Ihnen etwas zu essen bekommen?«

»Warum denn nicht? Wir leben ja davon, beherbergen Wallfahrer des Nachts, verpflegen sie.«

Der Alte führte ihn in die Stube, Vater Gerwaßij blickte in die Ecke, wollte sich bekreuzigen, es war aber kein Heiligenbild da.

»Warum haben Sie denn kein Heiligenbild?«

»Wozu sollten wir eins haben? …«

»Was heißt, wozu? Jeder Rechtgläubige muß ein Heiligenbild haben.«

»Das mag bei den Rechtgläubigen so sein, wir aber brauchen keins; wir sind Juden.«

»Wie kommt es dann, daß Sie auf dem Grund und Boden des Klosters leben?«

»Schon mein Vater hat hier einen Krug unterhalten, der wird ja wohl gewußt haben, wer ihm die Erlaubnis dazu erteilt hat – mir hat er nichts davon gesagt, ist friedlich gestorben, ohne was zu sagen.«

In der Stube herrschte jener besondere, ärmlichen Judenbehausungen eigentümliche Geruch – ein Gemisch von Knoblauch, Zwiebeln und von noch etwas Penetrantem, das wohl mit der Speisenzubereitung zusammenhing.

Der Alte war hinausgegangen und kehrte mit seinem Sohne zurück, der einen Krauskopf hatte, eine lange Hakennase wie sein Vater und schwarze lebhafte Augen.

Der Abt wußte nicht recht, ob er in diesem jüdischen Hause essen sollte, vielleicht verunreinigte er sich dadurch? Schließlich nahm er doch ein Stück Schwarzbrot, brach es und begann zu kauen.

Der junge Mann musterte den Mönch prüfend von Kopf zu Fuß mit einem hurtigen Blick und nickte ihm zu, ohne die Mütze abzunehmen. Der Alte sagte:

»Das ist mein Sohn Moissej; die Kleinen sind seine Kinder, seine Frau ist in die Stadt gefahren.«

Dem Abt kam der Gedanke, daß der Klostergründer Simeon wohl darum keine Wunder wirkte, weil auf dem Gebiet des Klosters Ungläubige wohnten, Unreine, und beschloß, die Juden von hier zu entfernen, um die Rechtgläubigen von dem Ärgernis zu befreien. Ohne sein Stück Brot aufgegessen zu haben, stand er vom Tisch auf und wollte gehen. Der junge Mann fragte mit einem ebenfalls etwas spöttischen Lächeln wie vorher sein Vater:

»Vielleicht wünschen der Herr Priester etwas zu trinken?«

»Was habt ihr denn zu trinken?«

»Vielleicht ein Schnäpschen? Monopolbrand?«

Vater Gerwaßij sagte ärgerlich:

»Was habt ihr für ein Recht, mit Schnaps zu handeln, Rechtgläubige betrunken zu machen, die auf der Wallfahrt zu unserem Starez hier vorüberkommen?!«

»Müssen wir denn jedem Mönch Rede und Antwort stehen?«

»Ich bin der Abt.«

Als der Alte, der bisher geschwiegen und seinen Sohn wohlgefällig angesehen hatte, vernahm, daß der Mönch der Abt sei, mischte er sich hastig ein und erklärte, daß sie nicht mit Schnaps handelten und die Wallfahrer nicht betrunken machten, wenn aber mal ein Bauer auf der Rückkehr aus der Stadt im Winter hier Rast mache, um seine Pferde zu füttern und Tee zu trinken, so schlügen sie ihm seinen Wunsch nicht ab, wenn er um ein Schnäpschen bat.

»Ein Mensch darf sich doch wohl erwärmen, Herr Abt, sonst käme er oft gar nicht mehr nach Hause zurück. Darum handeln wir aber noch längst nicht mit Branntwein! Wenn sich auch einmal ein Fläschchen im Hause befindet, so nur zu persönlichem Gebrauch – mein Moischa da trinkt gern ein Schnäpschen nach der Arbeit.«

Seinen Gedankengang von vorher wieder aufnehmend, sagte Vater Gerwaßij:

»Darum tut unser Starez auch keine Wunder, er zürnt, weil auf Klostergrund Unreine leben, das beeinträchtigt auch die Einkünfte unseres Klosters.«

»Ihr Starez, Herr Abt, wird armen Juden gewiß nicht zürnen, weiß er doch, daß sie Kinder haben, die auch essen wollen.«

»Gleichviel – ihr werdet sehen müssen, wo anders unterzukommen, auf Klostergrund dürft ihr nicht bleiben. Ich lasse das nicht zu …«

Ohne sich zu verabschieden, schritt Gerwaßij hinaus; Moischa, der mit seinem Vater schnell ein paar Worte gewechselt hatte, stürzte ihm nach und redete auf ihn ein.

»Sie sagen, wo anders unterkommen – wohin aber sollen wir denn von hier? Wie sollen wir verdienen unseren Unterhalt? Wir wollen aber beten zu unserem Gott, daß der möge Ihren Starez Wundertaten vollbringen lassen.«

Vater Gerwaßij blieb hartnäckig auf seinem Standpunkt, daß das Kloster durch die Anwesenheit der Juden verarmen und der Starez den Mönchen und ihm, dem Abt, nur noch mehr zürnen könnte, jetzt, da er, Gerwaßij, von der Sache wisse.

»Vielleicht hat er mich gerade aus diesem Grunde heute hierher geführt, hat auf euch hingewiesen – wie könnte ich da gegen seinen Willen euch hier lassen?!«

»Und wenn nun Ihr Starez Sie aus einem ganz anderen Grunde hergeführt haben sollte …«

»Aus welchem Grunde denn?«

»Um uns zu helfen. Das Kloster hat nur geringe Einkünfte, und nur wenige Wallfahrer kommen hier vorüber. In anderen Klöstern dagegen, wo es Ihre Heiligen gibt, kommen oft Wundertaten vor, und Juden leben in nächster Nähe. Ich weiß, in Kiew leben viele Juden, sehr viele sogar, und auch viele Ihrer Heiligen gibt es in Kiew, und die Heiligen denken gar nicht daran, den Juden zu zürnen, sondern wirken ihre Wunder, und die Juden sind ihnen noch dabei behilflich.«

»Wie das?!«

»Die Anwesenheit von Juden veranlaßt Ihre Heiligen, recht viel Wunder zu wirken, um sie durch ihre Wundertaten zu bekehren und dem Glauben an euren Gott zuzuführen.«

»Also was willst du von mir?«

»Ich will, daß der Herr Abt uns nicht aus dem alten Krug aussiedelt, er steht schon lange hier, mein Großvater war früher der Krugwirt, und Ihr Starez war gar nicht böse darüber, mein Großvater lebte von den Wallfahrern, und der Großvater meines Großvaters hat auch schon den Krug hier gehabt, und Ihr Starez war auch damals nicht böse darüber, warum sollte er nun plötzlich zürnen meinem Vater und mir? In Kiew zürnen eure Heiligen uns doch kein bißchen?«

Der Jude redete ohne Ende auf den Abt ein, bemüht, ihm klarzumachen, daß er und seine Familie auch leben müßten, daß jedes Volk seine Heiligen habe, die auch Wunder wirkten, daß überall aber nur ein Gott sei, der niemandem zürne, daß ja auch die Juden ihre Heiligen hätten – Moses, Aaron, die Propheten –, die auch Wunder gewirkt hätten, und daß ja diese jüdischen Propheten in allen rechtgläubigen Kirchen dargestellt seien, ihre Predigten und Wunder in den rechtgläubigen Kirchen gefeiert würden und daß auch die christlichen Mönche diese Juden für Propheten und Heilige hielten.

Der Abt hatte längst genug von dem Redestrom des jungen Juden, Entgegnungen hielt er für unangebracht, vielleicht darum, weil er nicht wußte, was er hätte erwidern können; so machte Vater Gerwaßij schließlich eine Handbewegung und sagte:

»Nun gut, ihr könnt einstweilen dableiben; nachher sehen wir weiter.«

»Vielen Dank, Herr Abt … Daß aber Ihr Starez wird Wunder vollbringen, das weiß ich bestimmt, und ebensowohl weiß ich, daß er den armen Juden in dem alten Krug nicht zürnt.«

 

Einige Tage später ging der Abt nach dem Mittagsmahle auf das Vorwerk. Er begrüßte die junge Nonne ruhig, auch die Wiege störte ihn nicht mehr. Er blieb aber nicht bei ihr in der Zelle, sondern schritt auf den Hof hinaus und sprach über Wirtschaftsangelegenheiten. Beim Fortgehen sagte er:

»Begleite mich ein Stück, ich habe mit dir unter vier Augen zu sprechen.«

Im Walde übergab er ihr ein Päckchen Geld …

»Das ist für ihn und auch für dich. Sobald ich wieder etwas habe, bringe ich dir mehr … Ich kann jetzt nur selten aufs Vorwerk kommen, die Bruderschaft murrt, in der Stadt könnte man aufmerksam werden …«

Arischas Stimme erbebte, das Päckchen entglitt ihren Händen; Nikolka hob es auf und reichte es ihr.

»Ach, Kolenka, du hast mein Leben zerstört, und nun wendest du dich von mir ab! …«

»Nein, ich verlasse dich nicht, aber ich kann jetzt nicht kommen – die Bruderschaft murrt.«

»Du willst mich verlassen, das ist es, mich und ihn – er ist dir im Wege.«

»Das ist nicht wahr.«

»Du hast nur dein Spiel mit mir getrieben, und jetzt, wo er da ist … Ach, Kolenka!«

Nikolka stieß mit dem Fuß ein Ästchen am Boden beiseite, runzelte die Stirn, sagte, schon im Gehen:

»Du willst mich nicht verstehen!«

»Ich verstehe dich sehr wohl, Kolenka! …«

»Leb wohl!«

»Also du kommst überhaupt nicht mehr – brauchst mich nicht mehr!«

Unter seinen Füßen knirschte das trockene Reisig; die schwarze Kutte entschwand in der Dämmerung.

 

Der junge Moißej war in den Krug zurückgekehrt. Unruhig fragte ihn sein Vater aus; er war wütend auf die Heiligen der Rechtgläubigen, auf das Kloster, auf die Mönche. Sein Sohn grübelte lange, warf schließlich den Kopf zurück, sagte:

»Ihr Starez wird ein Wunder tun, ich weiß jetzt schon, wie – wir werden nicht brauchen auszuziehen.«

 

Wie immer rasteten Wallfahrer in der Herberge, übernachteten in der Flechtscheune auf dem Hof oder im Walde neben dem Kruge; Bauern kehrten ein, um ihre Pferde zu tränken, der Brunnenschwengel ließ knirschend den Eimer in die Tiefe hinab, wo dieser laut polterte und beim Aufstieg klingend Wasser verschüttete. Wie immer lief Sara, die Frau des jungen Moißej, zum Empfang der Wallfahrer auf den Hof hinaus, stellte in der Kammer den Samowar auf, schnitt Brot, holte Schnaps aus dem Keller. Moißej schritt zuweilen durch die Felder; die Ähren, gelb geworden, reiften heran und flimmerten rauschend. Eines Morgens spannte Moischa den Wallach an, fuhr in die Stadt und kehrte am Abend wieder heim. Nach einer Woche fuhr er wieder in die Stadt und blickte nach seiner Rückkehr oft prüfend auf die Felder, als warte er ungeduldig auf den Beginn der Ernte. Und als die Bauern zum ersten Male die Hügel heraufgezogen kamen, um das Korn zu schneiden, ging Moischa am Abend nicht zu Bett, sondern machte sich lange in der Scheune zu schaffen, schritt darauf ins Feld hinaus, kam zurück, spannte wieder den Wallach an und fuhr noch vor Morgengrauen in die Stadt.

 

An der Ecke am Klosterwald, wo der Weg sich in diesen verlor, sollte dem Brauch nach der Älteste des Hofes, dem das Land gehörte, mit dem Schneiden des Kornes beginnen. Der alte Bauer kam mit all seinen Familienangehörigen auf den ganzen Tag heraus, spannte das Pferd ab, koppelte es und ließ es am Rain grasen. Die Schwiegertochter band die Enden der Deichsel zusammen, stützte sie auf einen Knüppel und hängte eine Wiege daran auf. Der alte Bauer warf seinen Kittel ab, löste den Gürtel, wandte sich an seine Söhne:

»Na, Jungens, machen wir uns an die Arbeit!«

Die Sense des Alten blitzte im spitzen Winkel der Waldecke auf, zwei weitere Sensen gruben sich hinter ihm ins Korn. Der Alte hatte erst ein paarmal ausgeholt, als er plötzlich ausrief:

»Halt! Ein Gotteswunder!«

Seine Söhne und die Weiber eilten herbei.

»Ein Heiligenbild aus Gotteshand! Ein alter Einsiedler ist darauf!«

Im Roggen, fünf Schnitte einer Bauernsense vom Wegrand entfernt, stand auf der Erde ein Heiligenbild, vor dem eine dicke Wachskerze flackerte.

Die Weiber brachen vor freudiger Erregung in Weinen aus, alle begannen zu beten, dann lief jemand ins Dorf, um Leute zu holen. Die Bauern strömten herbei, knieten nieder, verneigten sich tief, mit der Stirn den Boden berührend. Dann wurde darüber verhandelt, was weiter geschehen, was man mit dem Heiligenbild aus Gotteshand machen sollte, denn niemand wagte, es zu berühren. Man sandte ins Dorf nach dem Priester und nach dem Wachtmeister. Auf den Lärm hin kam auch der alte Jude aus dem Kruge gelaufen und staunte zusammen mit den Bauern.

Der Priester traf zuerst ein, erkundigte sich nach allen Einzelheiten der wunderbaren Erscheinung, vernahm den alten Bauern, der das Heiligenbild als erster bemerkt hatte, besah dieses mit prüfenden Blicken.

»Steinalt … Ein Skimnik ist dargestellt«, das Kloster kam ihm in den Sinn – »es ist der Starez Simeon – man muß nach dem Abt senden. Wassilij Nikiforytsch, schick' mal deinen Sohn Wassilij mit dem Wagen hin, auf deinem Acker ist ja das Heiligenbild erschienen.«

Wassilij hieb unterwegs fortwährend auf den Wallach ein, das Tier war mit Schaum bedeckt, als er an der heiligen Pforte ankam. Er ließ den Wagen draußen stehen und lief ins Kloster; vor Erregung hatte er sogar vergessen, die Mütze abzunehmen und sich zu bekreuzigen. Hinter der Pforte traf er Vater Awraamij und eilte auf ihn zu.

»Ich muß den Vater Abt sprechen! Ein Wunder ist geschehen, ein Gotteswunder!«

»Was für ein Wunder?«

»Ein wunderbares Heiligenbild ist erschienen, auf dem Acker meines Vaters, in der Waldecke – euer Starez Simeon. Führ' mich zum Abt.«

Vater Awraamij humpelte mit Wassilij nach der Abtei, erzählte den Mönchen, die sie unterwegs trafen, von der Erscheinung des Heiligenbildes, im Handumdrehen wußte es das ganze Kloster, und die Mönche strömten in Scharen zur Abtei.

Nikolka bemerkte durchs Fenster Vater Awraamij mit dem atemlosen Bauern und die herbeieilenden Mönche, erschrak in der Annahme, ein Unglück sei geschehen, und lief auf die Treppe hinaus. Wassilij sank am Fuß der Treppe auf die Knie und rief:

»Vater Abt, das Heiligenbild eures Starez ist auf dem Acker meines Vaters erschienen, in der Waldecke, ein Gotteswunder! Die Gemeinde hat mich zu dir abgesandt, unser Priester, Vater Afanassij ist bereits da, er hat den Rat gegeben …«

»Welchen Rat?«

»Sie zu holen, Sie sollen schnell hinkommen.«

Der Abt wandte sich mit feierlicher, erhaben frohlockender Stimme an die Mönche und Wallfahrer, die herbeigeströmt waren.

»Brüder, unser Starez hat zum größeren Ruhme des Klosters das Wunder seiner Erscheinung gewirkt …«

Durch die Menge stob ein Flüstern von Mund zu Mund:

»Ein Wunder, ein großes Wunder, unser Starez tut Wunder!«

Mit der gleichen feierlichen Stimme wandte sich der Abt an Wassilij:

»Berichte vor dem Angesicht der Mönche und allem Volke, wie sich das Wunder ereignet hat.«

Der Bauer hatte in seiner Hast sogar vergessen, seine Mütze vom Kopf zu nehmen; Vater Awraamij flüsterte ihm von hinten zu:

»So nimm doch deine Mütze ab!«

Wassilij kam zu sich, nahm mit einer weiten Armbewegung die Mütze vom Kopf; die Menschen reckten erwartungsvoll die Hälse.

»Aber wir müssen doch fahren, Vater Abt, der Dorfschulze hat nach dem Wachtmeister geschickt.«

Der Abt wurde zornig und fuhr Wassilij an:

»Berichte!«

Überstürzt und verworren erzählte Wassilij von der Entdeckung des Heiligenbildes. Der Abt hörte aufmerksam zu und wiederholte von Zeit zu Zeit, an die Mönche gewandt:

»Ein Wunder, ein großes Wunder!«

Als Wassilij geendet hatte, ordnete der Abt an, daß die ganze Bruderschaft an der heiligen Pforte auf das Eintreffen des Heiligenbildes aus Gottes Hand zu warten hätte, ließ den großen Bahnhofswagen anspannen – in Wassilijs Wagen sollte jemand hinterdrein fahren –, eilte in die Abtei, schmückte sich mit hoher Mütze und Soutane und stieg in den Wagen; Vater Akindin und den Vater Haushalter Paißij nahm er als Zeugen zur Bestätigung des Wunders mit sich.

Der Novize jagte durch den Wald, so daß der Wagen auf die Wurzeln aufstieß und in die Luft schnellte und hier und da einmal einen Baum streifte. Als sie an dem jüdischen Kruge vorbeikamen, bemerkte Vater Gerwaßij wieder die beiden schwarzköpfigen Knaben, die vor der Schwelle im Sand buddelten, und gedachte der Versicherung des jungen Juden, daß der Starez bestimmt Wunder wirken und sich davon durch den jüdischen Krug nicht abschrecken lassen würde; vielleicht hatte er doch recht getan, die Juden nicht auszuweisen.

Sie gelangten an den Waldrand und erblickten die Volksmenge, die sich vor dem Heiligenbilde versammelt hatte. Der Priester und der Wachtmeister standen in der Mitte des Kreises.

»Wer ist Zeuge? Wer hat das Heiligenbild zuerst erblickt?«

Der alte Wassilij wiederholte:

»Ich sah es zuerst und die brennende Kerze davor …«

»Gleichviel, ein Protokoll müssen wir jedenfalls aufnehmen.«

Der Abt mit den Mönchen näherte sich, die Menge wich vor ihm auseinander. Stumm schritt er durch die Menschengasse, ohne nach rechts oder links zu schauen und ohne an irgend jemand das Wort zu richten, sank vor dem Heiligenbilde auf die Knie, verneigte sich tief, mit der Stirn den Boden berührend, dreimal; das gleiche taten zu seinen Seiten Paißij und Akindin. Danach erhob er sich und trat auf den Wachtmeister zu.

»Ein großes Wunder, wahrlich ein großes Wunder hat unser Starez Simeon gewirkt! … Eine Messe muß am Erscheinungsort des Heiligenbildes zelebriert werden.«

Der Wachtmeister bat den Abt und den Priester ein wenig beiseitezutreten und sagte halblaut:

»Gewiß, Vater Abt, es ist ein großes Wunder, trotzdem aber müssen wir vorher feststellen, ob niemand das Heiligenbild heimlich hier aufgestellt hat.«

Der Abt schlug die Hände zusammen.

»Aber das wäre ja Gotteslästerung – wessen Hand würde sich zu so einer Tat erheben?!«

»Nicht fern von hier im Walde befindet sich ein jüdischer Krug – man muß die Sache aufs genaueste untersuchen.«

Der Abt protestierte; ein Ungläubiger würde es nicht wagen, so etwas zu tun, er liefe sonst Gefahr, daß seine Behausung niedergebrannt und seine Familie verjagt würde.

»Ich kann nicht anders, Vater Abt, ich muß meiner Pflicht nachkommen und die Wahrhaftigkeit des Wunders genau prüfen; bis dahin muß ich, kraft meines Amtes, verbieten, das Heiligenbild anzurühren.«

Der Abt dachte an seine Anordnung, daß die Bruderschaft ihn mit dem wunderbaren Heiligenbilde an der heiligen Pforte erwarten sollte; wenn er es nicht noch heute hinbrachte, würde sich des Klosters große Erregung bemächtigen. Ihm kam sogar der Gedanke – die Versicherung des jungen Juden war ihm wieder in den Sinn gekommen –, daß es nicht mehr anginge, das Wunder der Offenbarung eines Heiligenbildes aus Gottes Hand abzulehnen, selbst wenn wirklich der alte Jude das Heiligenbild in das Korn gestellt haben sollte. Er drang darum in den Wachtmeister, die Untersuchung möglichst zu beschleunigen, den alten Juden, seinen Sohn, seine ganze Familie unverzüglich zu verhören und jedenfalls noch heute das Heiligenbild zur Überführung ins Kloster freizugeben.

»Sie bringen die Bruderschaft um eine große Freude, die Mönche warten sehnsüchtig auf das Eintreffen des wunderbaren Heiligenbildes und werden die Nacht durch warten, daß wir es ihnen bringen.«

Der Wachtmeister stellte einen Landjäger als Wache neben das Heiligenbild, die Bauern begaben sich allmählich wieder auf ihre Felder zurück, der alte Wassilij mit seinen Söhnen begann vom anderen Ende seines Feldes mit dem Schneiden des Korns, während der Wachtmeister und der Priester den alten Juden einem Verhör unterzogen und ihn fragten, ob nicht er das Heiligenbild hingestellt habe oder nicht wisse, wer es getan habe. Der Alte sah sie verwundert an und beteuerte, daß er von nichts wisse, er sei bloß auf den Lärm hin hergekommen.

»Und wo ist dein Sohn?« fragte der Wachtmeister.

»Der ist doch nicht zu Hause, Herr Wachtmeister.«

»Wo ist er denn?«

»Er ist doch schon gestern gefahren in die Stadt und über Nacht fortgeblieben.«

»Schön, gehen wir mal in die Herberge, ich will selbst nachschauen.«

Der Wachtmeister durchsuchte Haus und Hof, fragte die junge Jüdin, aber sie sah ihn mit verwunderten Augen groß an. Es war offenbar, daß weder der alte Jude noch seine Schwiegertochter etwas über die Sache wußten.

»Na, gut denn, Vater Abt, nehmen Sie das Heiligenbild einstweilen mit ins Kloster.«

Der Abt setzte sich mit dem Heiligenbilde auf den Bock zum Kutscher, während der Wachtmeister, Vater Paißij und Akindin im Wagen Platz nahmen. Diesmal wurde mit größter Vorsicht gefahren, und als der Wagen sich dem Kloster näherte, ertönte feierliches Glockengeläut. Nikolka zuckte zusammen, lächelte angenehm überrascht, und aus seinen Augen strahlte Freude und Frohlocken.

Vor der heiligen Pforte scharten sich viele wartende Wallfahrer und als schwarze Wand dunkelten die Reihen der harrenden Mönche. Ein hoher, stämmiger Greis, der Hieromonach Rafail, erklärte laut und beredt, man müsse das Heiligenbild aus Gottes Hand feierlich empfangen, mit einer Kirchenprozession, in vollem Ornat, mit allen Heiligenbildern und Kirchenbannern, denn der Starez Simeon sei wahrlich ein Heiliger des Herrn, der vor allem Volke unanfechtbare Wunder vollbringe; seine Reliquien würden ja doch bald entdeckt werden, nach seinen Wundertaten aber sei er jetzt schon als Heiliger zu ehren. Die Bruderschaft geriet in Erregung, wurde aber wieder still, als der Starez Akakij aus seiner Einsiedelei erschien. Vater Rafail erklärte ihm seinen Vorschlag. Der Starez senkte die Stirn, schwieg eine Weile, dann geriet sein langer, weißer, handtuchförmiger Bart in Bewegung, der Greis hob den Kopf und sagte, an Rafail und die Mönche gewandt:

»Väter und Brüder, solange der Starez von der rechtgläubigen Kirche nicht heilig gesprochen ist, dürfen wir auch sein heiliges Bild aus Gottes Hand nicht mit Gebet und Messe begrüßen. Nach meiner bescheidenen Ansicht müssen wir es ohne Feierlichkeit empfangen, in klösterlicher Demut, und den Herrn nicht versuchen. Wahrlich, der Starez ist ein großer Gerechter, aber das Kirchengesetz verletzen dürfen wir nicht.«

Nach einem erregten Meinungsaustausch wurde beschlossen, den Rat des Starez zu befolgen und das wunderbare Heiligenbild nur mit Glockengeläut zu empfangen.

Der Abt trug das Heiligenbild feierlich durch die heilige Pforte in die neue Kathedrale und kniete zusammen mit der Bruderschaft vor dem Bilde des Starez nieder. Danach begab er sich mit dem Wachtmeister in die Abtei und ließ die Kirchentür schließen.

Vater Paißij bestellte schnell ein besonderes Abendessen und schickte es in die Abtei.

 

Gegen Abend hielt wieder ein Wagen vor der heiligen Pforte. Moißej war einen anderen Weg – diesseits des Bahndamms – aus der Stadt zurückgekehrt und hatte, ohne zu Hause vorzusprechen, vor dem Kloster halt gemacht. Er schritt durch die heilige Pforte und blieb, Umschau haltend, stehen; der Pförtner, Vater Awraamij, kam aus seiner Zelle und trat auf ihn zu.

»Was wünschst du?«

Moißej antwortete mit bebender Stimme, abgerissen, halb flüsternd:

»Ich muß zum Herrn Abt, zum Herrn Abt; ich muß sofort zum Herrn Abt …«

Vater Awraamij erkannte an seiner Sprechweise und seinem Äußeren, daß er einen Juden vor sich habe, und antwortete mißmutig und argwöhnisch:

»Der Vater Abt ist heute sehr in Anspruch genommen – ein Wunder ist geschehen; er kann niemand empfangen.«

Der Jude schlug die Hände zusammen und flüsterte hastig:

»Ein Wunder? Ja, ja, auch mir ist ja ein Wunder widerfahren, oh, solch ein Wunder, solch ein Wunder! Darum muß ich ja gerade sehen den Herrn Abt – solch ein Wunder!«

Vater Awraamij blickte ihn verblüfft an und wies ihm den Weg.

»Na, dann geh schon – rechts, das Haus mit den Säulen.«

Der Krugwirt stürzte in das Empfangszimmer des Abts, der mit dem Wachtmeister und Vater Paißij zu Tisch saß und Tee trank; auf dem Tisch stand eine Flasche, und die Stimme des angetrunkenen Wachtmeisters klang tief und zufrieden. Moißej eilte an den Tisch, schlug die Hände zusammen, kreuzte sie über der Brust, an die er dabei seine Mütze drückte, und sagte mit bebender Stimme, nur an den Abt gewandt:

»Was ich habe erlebt, Vater Abt, oh, was ich habe erlebt, was ich habe erlebt!«

Der Jude war so unerwartet ins Zimmer gestürmt und hatte so eilig zu sprechen begonnen, daß alle am Tisch Sitzenden zusammenfuhren und sich erschreckt nach ihm umwandten. Der Krugwirt sprach stotternd, verworren, wiederholte endlos »Herr Abt«, und sein ganzes Wesen verriet ungeheure Erregung.

Der Abt fragte:

»Was ist geschehen?«

»Ich weiß gar nicht, was mir geschehen ist, Her Abt, ich kann mir das nicht reimen zusammen; also ich machte in der Stadt meine Besorgungen, kehrte bei einem Bekannten ein. ›Oi‹, sagte der, ›was bist du denn so traurig, Moißej, ist Sara krank oder sonst was los, weil du bist so traurig, Moißej, und dazu blaß, oi wie blaß?‹ ›Warum sollte ich denn sein blaß?‹ antwortete ich ihm, er aber, Herr Abt, er sagte: ›Ja,‹ sagte er, ›du bist blaß, sogar ganz blaß, ich lasse dich nicht fort, du mußt übernachten bei mir …‹ So blieb ich denn bei ihm über Nacht, mein Herz aber, Herr Abt, das machte immer tuck-tuck-tuck, ganz laut, als wollte es springen raus aus der Brust, ich konnte darum gar nicht schlafen, und kaum wurde es hell, da weckte ich meinen Freund. ›Ich muß fort, ich muß gleich fort,‹ sagte ich zu ihm, ›mein Herz so laut pocht, ob zu Hause nicht ist etwas vorgefallen?‹ Und was denken Sie, Herr Abt, ich kam heraus aus der Stadt, fahre meines Weges, komme die Anhöhe hinauf, da mein Pferd bleibt stehen … ich gebe ihm die Peitsche. Es rührt sich aber nicht vom Fleck, will nicht weiter, was ich auch anstellte … Da sah ich zum Himmel auf, Herr Abt, und vom Himmel sinkt herab eine weiße Säule und brennt und strahlt etwas in dieser Säule – ich weiß gar nicht, wie es kommt, daß ich nicht bin geworden blind, und wie hätte denn auch mein Pferd weiter sollen, wo ich doch selber war so ganz erschrocken! Ich war aufgesprungen, stand da, wollte weiter fahren, zerrte an den Zügeln, das Pferd aber ging nicht, und die Säule bewegte sich nicht, stand ganz still eine Weile, und dann war sie weg, und da ging auch das Pferd wieder, und ich fuhr weiter … Aber was das nur war? Ich lenke nach Hause, das Pferd aber biegt den Weg zum Kloster ein und hat mich hergebracht … Was war das nur, was mir ist widerfahren, Herr Abt?«

»Ein Wunder ist dir geschehen, Ungläubiger! …«

»Ja, ja, Herr Abt – ein großes Wunder!«

»Unser Starez hat dir den Weg hierher gewiesen zur Stunde, da sein heiliges Bild in Erscheinung trat.«

Der Wachtmeister sah den Juden spöttisch an, fragte:

»Wo warst du, Moischa?«

»In der Stadt, Herr Wachtmeister, und auf dem Heimwege ist mir widerfahren dieses erschreckliche Wunder.«

»Sag' mal, hast du nicht das Heiligenbild beim Klosterwald in den Roggen gestellt?«

»Ich bin doch Jude, Herr Wachtmeister, und wie sollte ich das getan haben, da ich doch gar nicht zu Hause war, und was meinen Sie eigentlich, was für ein Heiligenbild?«

Der Abt mischte sich ein, sagte, an Moißej gewandt:

»Dieses Himmelszeichen hat dir der Starez Simeon gewiesen, als sein heiliges Bild auf Erden in Erscheinung trat, damit du glaubest und dich zum rechtgläubigen Christentum bekehrst. Der Starez hat sich deiner erbarmt und dich statt nach Hause, hierher ins Kloster geführt, auf daß du dich taufen läßt und vor seinem Grabe niederkniest in Andacht, dann wird er dir auch gestatten, weiter auf dem Boden zu leben, wo sein heiliges Bild erschienen ist. Das ist der Sinn des Wunders, das dir geworden ist.«

Der Jude erzählte noch einmal umständlich von der wunderbaren Erscheinung und wiederholte seinen Bericht vor Vater Akindin, nach dem der Abt geschickt hatte, damit er das Wunder aufzeichne. Zum Schluß sagte der Abt:

»Und nun, Vater Akindin, schreibe, daß der Ungläubige nach dem wunderbaren Himmelszeichen, das der Starez ihm gewiesen hat, gläubig geworden und bereit ist, dem rechtgläubigen Christentum beizutreten. Und der Oberwachtmeister wird dein Taufvater sein … Fahre jetzt nach Hause, ich will dir einen Mönch senden, der dich in den Satzungen der heiligen christlichen Kirche unterweisen soll …«

 

Die Botschaft von dem neuen Wunder rief aufs neue ungeheure Aufregung im Kloster hervor; der Bericht des Juden wurde staunend erörtert; tiefen Eindruck machte auch die Bekehrung des Ungläubigen, den der Starez auf so wunderbare Weise der ewigen Wahrheit zugeführt hatte, weil der Jude auf dem heiligen Boden des Klosters lebte, und dort, wo der Fuß eines Heiligen gewandelt habe, dürfe kein sündiger Ungläubiger schreiten.

Der laute, redegewandte Vater Rafail erbot sich, den jungen Krugwirt in die Offenbarungen des christlichen Glaubens einzuführen, und da der alte Mönch nicht so weit gehen konnte, kam Moißej jeden Abend nach der Abendmesse ins Kloster und lauschte den Belehrungen des Mönches.

An dem Tage, an dem der Oberwachtmeister Taufvater des Bekehrten wurde, traf mit dem Abendzug ein hoher, hagerer, schwarzer Mönch, der Augen gleich glimmenden Kohlen hatte, im Kloster ein, und schritt, ohne in der Herberge einzukehren, sich kurz bekreuzigend durch die heilige Pforte; mit festen, ruhigen Schritten schlug er den Weg nach der Abtei ein, die er mit geübtem Auge an ihrem äußeren Gepräge und an der Anordnung der Klostergebäude sofort erkannt hatte.

 


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