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Jarmann erwachte gegen elf Uhr, kehrte sich im Bett um, rieb sich die Augen und sah in dem kleinen Zimmer umher. – Wieviel Uhr es wohl sein mochte?
Plötzlich fiel ihm ein, daß dies sein letzter Tag war. Er wurde auf einmal ganz wach, sprang aus dem Bett, zog die Gardinen in die Höhe und sah auf den engen Hofraum hinaus. Auf den Dächern glänzte die Sonne, das Frühjahr lag in der Luft, und auch in ihm begannen sich Frühjahrsgefühle zu regen. Er lächelte traurig: Nun lebte alles wieder auf, nur er allein sollte mitten im Frühling sterben.
Das Blut strömte rascher durch seine Adern. Es war, als revoltierte sein junger Leib gegen den Todesgedanken. Und es ergriff ihn ein Mitleid mit diesem jungen Leib, der heute von Leben und Kraft strotzte, morgen aber der Verwesung übergeben werden sollte. Es überkam ihn eine stille Wehmut, und er blieb im weißen Nachthemd am Fenster stehen, die Hand an der Gardinenschnur, und starrte über den Hofraum in Licht und Luft hinaus. Und die Augen füllten sich nach und nach mit Tränen, die langsam Tropfen für Tropfen die blassen, feinen Wangen hinabströmten und auf den Fußboden tropften.
Ach nein, es war doch nicht lediglich ein Vergnügen, ein Ende machen zu müssen.
Er zog mechanisch die Gardinen wieder herunter, setzte sich auf den Bettrand, die Ellenbogen auf die Kniee gestützt und die Stirn in den Händen ruhend, und ließ den Tränen freien Lauf.
Schließlich hörten sie von selber auf zu fließen. Ein weiches, sinnliches Wohlbehagen war über ihn gekommen, während er weinte, und er fühlte sich unsagbar mild und wehmütig gestimmt. Langsam zog er die Kleider an, machte sich still im Zimmer zu schaffen, setzte sich dann an den Tisch und trank seinen Kaffee. Er tat das alles in derselben weichen, wehmütigen Stimmung. Und als er mit dem Frühstück fertig war, setzte er sich auf das Sofa und rauchte seine Pfeife, sich gedankenlos ganz diesem weichen, sinnlichen Wohlbehagen hingebend. O, wie wohl es ihm tat.
So blieb er lange sitzen. Dann kam ihm aber plötzlich wieder in die Erinnerung, daß dies ja sein letzter Tag war, und er riß sich aus der weichen Stimmung heraus, stand auf und sah in seinem Portemonnaie nach. Er schüttelte den Kopf. Es waren nur noch ein paar Kronen darin.
– – Kurze Zeit darauf saß er bei Hjalmar und trank mit ihm und Henrik zusammen Portwein. Er sah mit dem Glas auf dem Fensterbrett, die Beine auf einem Stuhl, den Rücken gegen den Fensterrahmen gelehnt, und spähte durch das offene Fenster über die Straße hinüber. Die andern beiden saßen auf dem Sofa. Plötzlich winkte Jarmann: »Du, Hjalmar,« sagte er, »siehst du, dort kommt er.«
Hjalmar ging zum Fenster und beugte sich hinaus. Ganz richtig, da kam der Packträger mit allen Uniformsachen Jarmanns. Kurze Zeit darauf kam der Packträger. Er hatte für das Ganze nicht mehr als fünfzehn Kronen bekommen.
Im Verlaufe des Vormittags kam auch noch Helmer, und um die Mittagszeit nahmen sie einen Landauer und fuhren die Drammensstraße hinaus. Jarmann war unterwegs außerordentlich lebhaft und munter. Er saß flott zurückgelehnt neben Hjalmar auf dem Rücksitz, und sprach und lachte unablässig, vergnügt die Bekannten grüßend, denen sie begegneten. Bis sie dann so weit kamen, daß sie keines Menschen mehr ansichtig wurden – dann sank er in sich zusammen und sprach kein Wort mehr. Kurz vor Bygdö sagte er plötzlich: »Nein, jetzt meine ich, ist es genug. Kutscher, wenden Sie um.« Als sie wieder in die Stadt hineinfuhren, wurde er von neuem lebhaft und munter, sprach und lachte wieder ohne Unterlaß und grüßte seine Bekannten, strahlend, vergnügt. Nachdem Jarmann und Helmer bei Ingebret zu Mittag gegessen hatten, saßen sie wieder bei Hjalmar und Henrik und tranken Portwein. Woll war auch gekommen. Und sie sprachen den ganzen Nachmittag über den Selbstmord und debattierten, ob es vernünftig oder unvernünftig sei, daß Jarmann sich das Leben nehmen wollte. Hjalmar beteiligte sich nicht an der Diskussion, und auch Jarmann selbst nicht. Die beiden saßen nur auf dem Sofa, bliesen den Rauch in die Luft und hörten zu, hin und wieder vom Weine nippend; Hjalmar still und ernst, Jarmann heiter und vergnügt. Er befand sich herzlich wohl dabei, daß er im Mittelpunkt des Gespräches stand.
Als schließlich Helmer meinte, klar bewiesen zu haben, daß Jarmann besser daran täte, weiter zu leben und Schriftsteller zu werden, und durchaus haben wollte, daß er dem zustimmte, öffnete Jarmann endlich den Mund und sagte schlapp: »Ich habe keine Lust, es noch einmal durchzudenken; ich fühle aber, daß ich es tun muß – es ist nichts mehr dabei zu machen.«
»Ja,« sagte Helmer, »selbst wenn du nicht allzu viel schriebest, du würdest doch immer ebensoviel schreiben können wie zum Beispiel Gustav Holm.«
Da stand aber Jarmann ganz bleich auf: »Glaubst du, daß ich ein Leben führen möchte wie Gustav Holm?« sagte er indigniert. »Nein, dafür bin ich denn doch zu gut.« Damit setzte er sich stolz wieder hin und rauchte weiter.
Nachdem Jarmann am Nachmittag bei einem Kaufmann fünf Flaschen Champagner und ein Pack feine Zigaretten bestellt hatte – sie sollten natürlich auch am vierten Ostertag bezahlt werden – gingen sie am Abend ins Volkstheater, in dem sie eine Loge gemietet hatten. Lindbergs Gesellschaft spielte aber ein langweiliges Stück. Jarmann sah nicht auf die Bühne, er unterhielt sich nur, und es machte ihm Vergnügen, das Publikum, besonders die Damen, anzublicken. In den Zwischenakten war er forciert lustig und lächelte und nickte den Bekannten im Parkett vergnügt zu. Er zeigte sich hier wie vormittags im Landauer. Nur zwei Bekannte wollte er nicht grüßen, Fritz Hassel und Gustav Holm, die in der ersten Reihe des Parketts saßen. Als Gustav zu ihnen hinaufgenickt hatte, stieß Jarmann Henrik mit dem Arm an, und sagte: »Gustav Holm grüßte, wir haben ihm aber nicht die Gnade eines Gegengrußes erwiesen ...«
Sie hatten vor dem Theater aufeinander gewartet. Als sie alle da waren, sagte Jarmann: »Nun gehen wir also nach Hause und trinken den Abschiedsbecher.« Sie gingen stumm weiter. Dann blieb Woll stehen und sagte zu den andern: »Nun müßten wir ihn eigentlich hindern, sich umzubringen.«
Jarmann lachte. Henrik aber, der die Bemerkung im Ernst nahm, sagte indigniert: »Nein, weißt du was? So viel Respekt haben wir doch alle miteinander vor der individuellen Freiheit.«
»Ich meinte es auch nicht im Ernst,« sagte Woll lachend, und dann gingen sie weiter.
Sie begaben sich zu Hjalmar und Henrik. Der Champagner war gekommen. Nach dem Abendessen, das sie still im Speisezimmer der Wirtin einnahmen, und während dessen Jarmann nur eine Tasse Tee trank – er konnte nicht mehr hinunterbringen – gingen sie in Henriks Zimmer, in dem das Abschiedsgelage gefeiert werden sollte.
Das mattgrüne Zimmer war festlich durch zwei große Doppelbrenner und einige Lichter erleuchtet. Mit den herabgelassenen Jalousien, mit den Bücherregalen an den Wänden nahm es sich ganz gemütlich aus. Namentlich in der Ecke am Fenster, in der zwei Lehnstühle und ein amerikanischer Schaukelstuhl um den runden Tisch vor dem Sofa gruppiert waren, und die fünf Champagnerflaschen wie Trabanten um die hohe Lampe mit dem langen japanesischen Lampenschirm herumstanden, daneben ein Licht für die Zigarre.
»Nein, nun haben wir ja doch vergessen, bei Sommer Champagnergläser zu kaufen,« sagte Helmer, als sie ins Zimmer kamen. »Es ist doch verflucht, wir gingen ja an dem Geschäft vorbei.«
»Ach was,« sagte Jarmann, »das tut nichts. Du, Woll, wir gehen beide zusammen hin.« Die beiden brachen auf, die andern drei setzten sich an den Tisch – 417 –
in der Ecke, Henrik und Helmer aufs Sofa, Hjalmar in den Lehnstuhl – und zündeten sich Zigarren an. »Ich möchte wissen, ob wir davon voll werden.« »Du bist wohl verrückt,« sagte Henrik, »eine Flasche pro Mann!«
Hjalmar sagte nichts, blies nur eine dicke Rauchwolke in die Luft.
»Wenn nämlich Jarmann voll wird,« sagte Helmer, dann wird er sentimental, und dann bekommen wir eine Szene, und das ist nicht gemütlich.«
Hjalmar nahm die Zigarre aus dem Munde: »Ist es wirklich seine Absicht, sich zu erschießen? ... und das glaube ich beinahe, seitdem ich den Packträger mit den Uniformstücken habe davongehen sehen ... dann wird er sicher nicht voll, und wenn er noch so viel trinkt.«
Und sie sprachen weiter über die Wahrscheinlichkeit seiner Vornahme, bis Jarmann und Woll ins Zimmer stürmten und die Champagnergläser triumphierend schwenkten.
Da stand Helmer auf: »Rasch, laßt nun den Champagner knallen,« ergriff eine Flasche, schnitt hastig die Drähte durch, ließ den Pfropfen an die Decke knallen und den Champagner in die Gläser schäumen, während Jarmann und Woll sich an den freigebliebenen Tischenden niedersetzten und ihre Zigarren anzündeten. Und dann hob Helmer sein Glas: »Meine Herren! Ich heiße Sie willkommen zu dieser Abschiedsfeier für unseren Freund, den Todeskandidaten, und ich bitte Sie, mit mir ein Glas zu leeren mit dem Wunsche, daß er, wenn er sich erschießt, es wenigstens gut machen möge – so gut, daß er allen leiblichen Schmerz vermeidet!« »Ja, Tod und Teufel, Tod und Teufel!« riefen die anderen durcheinander, standen auf und ergriffen ihre Gläser: »Soll es getan werden, dann muß es wahrhaftig auch gut getan werden. Prosit!«
»Ihr könnt ganz ruhig sein,« sagte Jarmann, der ebenfalls auch aufgestanden war. »Prosit!«
Die Gläser wurden geleert, die jungen Leute setzten sie wieder hin, füllten sie von neuem, stießen an, tranken, rauchten und plauderten. Erst über ernsthafte Dinge, über Leben und Tod, über die Armut des Lebens und das unbefriedigte Sehnen der Jugend, über den Tod, der alles heilt.
Schließlich sagte Jarmann, er möchte eigentlich wissen, weshalb sie sich nicht alle das Leben nähmen.
Woll erklärte, er wäre einfach zu feige dazu.
Henrik kratzte sich hinterm Ohr: solange man eine ökonomische Basis habe, warum solle man es da nicht zunächst weiter treiben? ... man könne doch niemals wissen ...
Hjalmar leerte sein Glas, füllte es von neuem, und blies mit Wohlbehagen den Zigarrenrauch in die Luft. Er verstünde einfach nicht, erklärte er, wie sich jemand das Leben nehmen könnte. Er verspräche sich noch viel vom Leben: jede glückliche Situation kehre immer wieder zurück, doch beständig in verbesserter Ausgabe.
»Prosit!« sagte Helmer, »wir leben wenigstens allesamt auf der Basis der Unmöglichkeit des Selbstmordes.«
Dann sprachen sie von anderen Dingen, von den abwesenden Freunden, von dem kranken Hermann Eek, von Johnsen, der in die Welt hinausgereist war, um Schilder zu kleistern.
O, wie gerne hätte Jarmann gerade Johnsen Lebewohl gesagt, denn er war gewiß der von ihnen, der sich nach ihm am ehesten erschießen würde. Daran glaubte aber niemand von den andern.
»Weshalb nicht?« fragte Jarmann stutzig. »Glaubt ihr vielleicht, daß ich es auch nicht tun werde?«
Helmer zuckte die Achseln: »Tja ...«
Henrik und Woll glaubten wohl, daß er es tun wollte, waren aber nicht sicher, ob er es auch tun könnte, wenn es zum Treffen kam.
Und Hjalmar? Glaubte er vielleicht, ihn morgen wiederzusehen?
Hjalmar sah lachend zu ihm hinüber und sang: »In Reih' und Glied, in Reih' und Glied, trarata, trarata, trara.«
Jarmann wurde ernst und stand mit dem Glase in der Hand auf. »Ich versichere euch,« sagte er, »ich bin so sicher, daß ich es tun werde, als hätte ich es schon getan. Ich fühle es als etwas, das nicht mehr zu ändern ist; als – ja, wie soll ich sagen? – als ob ich meinem Arm einen letzten Befehl gegeben und dann das Kommando über meinen Leib niedergelegt hätte. Wenn die Zeit kommt, wird der Arm den Befehl ausführen, das fühle ich, und ich werde ihn nicht zurückhalten können, selbst wenn ich es wollte. Selbst wenn mir jetzt plötzlich eine Erbschaft in den Schoß fiele, würde ich es nicht unterlassen können. – Natürlich, das würde ich ja können, da würde ich es wohl auch noch weiter treiben ... Na, die Erbschaft kommt ja jedenfalls nicht – Prosit.«
Sie tranken, und es trat eine peinliche Pause ein, während der sie nur rauchten und ins Leere starrten. Dann wandte sich aber Helmer scherzend an Jarmann: »Na ja, ja, morgen befindest du dich also in der Hölle.« Jarmann lachte: »Ja, und wenn ich dort mit Seiner satanischen Majestät und mit all den intelligenten Menschen, die gelebt haben, zusammentreffe, dann werde ich dich verteidigen, Helmer! Ich werde ihnen von deinen elenden Nerven erzählen, die es nicht einmal zulassen, daß du mit Frauen verkehrst. Von dem Schweiß, der von deinen Schläfen perlt, sobald du nur ein gutes Beefsteak ißt; kurz gesagt, ich werde ihnen erklären, was du für ein elender Kadaver bist, daß du dir selbst den Teil des Lebens hast entgehen lassen, den wir armen Stümper zu fassen bekommen können. Und dann, wirst du sehen, werden sie dich doch hineinlassen, wenn du ankommst. Prosit! Auf baldige Nachfolge.«
Sie lachten, stießen an und sprachen weiter über die Berechtigung Helmers, sich der intelligenten Gesellschaft in der Hölle anzuschließen. Dann sprachen sie von jenen, denen der Zutritt versagt sei. Und das Zimmer hüllte sich immer mehr in einen gelbgrauen Nebel; die Gesichter wurden vom Champagner gerötet, die Stimmen lauter, sie redeten wirr durcheinander, während sie in dem phantastischen, gelbgrauen Lichte saßen und ihre Verachtung über all diese verdammten Geschöpfe niederhageln ließen, die in der Gesellschaft die Totenwacht halten, die, deren Jugend in dem Bestreben aufgeht, sich eine ökonomische Stellung zu verschaffen, damit sie heiraten, Kinder zeugen und als brave, geachtete Bürgersleute sterben können.
»Und die andern sind auch nicht besser,« sagte Jarmann verächtlich. »Diese affektierten, blasierten Burschen, die mit schlaffen Mienen und hochgezogenen Augenbrauen herumlaufen und so tun, als ob sie verächtlich auf das Leben herabsehen, das sie im Grunde genommen so sehr gerne haben. – Zum Beispiel Gustav Holm und Fritz Hassel – habt ihr gesehen, wie sie heute abend mit ihren hochgezogenen Augenbrauen und hängenden Mundwinkeln in der ersten Parkettreihe saßen – sahen sie nicht wahrhaftig aus, als ob sie vom Galgen heruntergeholt worden wären, nachdem sie bis zu ihrem Tode daran gehangen hatten?«
»Ach, du kennst sie nicht so genau,« sagte Henrik, »daß du wissen kannst, wie es ihnen geht.«
»Das ist gleichgültig,« sagte Jarmann. »Ich hasse sie. Das ist genug. Prosit! Gott sei Dank, daß noch andere im Theater zu sehen waren. Das herrliche Fräulein Roustan. Ihr habt sie ja gesehen, nicht wahr? Auf ihren herrlichen Nacken, ihr feines Profil, ihre dralle Büste, ihre ganze herrliche Gestalt – sie soll leben!« Und er trank das Glas ganz aus und sank in den amerikanischen Schaukelstuhl zurück, über diesen reizenden Kopf und die bezaubernde Figur nachdenkend.
»O,« rief er schließlich, »wenn ich bei ihr meine letzte Nacht zubringen könnte, anstatt bei einer Dirne. Der Teufel soll mich holen.«
Die andern sahen ihn an, während er ins Leere starrte.
»Ja,« sagte Henrik schließlich. »Die letzte Nacht sollte eine Liebesnacht sein.«
Jarmann barg sein Gesicht in den Händen: »Ach,« sagte er klagend, »daß man sterben muß, ohne geliebt zu haben ... Lieben, lieben ...« Dann fuhr er heftig auf. »Ist einer unter euch, der geliebt hat, wirklich geliebt hat – nein, richtig –« er sank wieder schlapp zusammen, ohne auf eine Antwort zu warten – »Es hat ja niemand von uns geliebt. Niemand, niemand. Ach, in was für einer Welt leben wir. Niemals geliebt zu haben und doch sterben zu müssen. Ach!« – Und er sank zusammen und barg sein Gesicht in den Händen.
So blieb er eine Weile sitzen, legte dann die Arme auf die Seitenlehne des Schaukelstuhles und bog sich stark nach vorn, so daß die Füße hart gegen den Boden stießen. »Nein, nun will ich gehen,« sagte er brüsk, ergriff das Glas und leerte es bis auf den Grund. »Kann mir einer von euch ein paar Kronen leihen?«
Hjalmar hatte soviel und schob ihm das Geld über den Tisch hin.
Jarmann merkte es aber nicht, vornübergebeugt und das Gesicht in den Händen, wie er dasaß.
»Gebt mir den Mantel und die Mütze,« sagte er matt, wie im Schlaf, »ich will gehen.«
Hjalmar begab sich ins Nebenzimmer, um den Mantel zu holen. Als er zurückkam, fand er Jarmann noch in derselben Stellung vor, die andern saßen in dem graugelben Lichte da und betrachteten ihn durch die Tabakswolken.
»Hier ist der Mantel.« Hjalmar klopfte ihm auf die Schulter.
Da fuhr er empor, dankte, nahm den Mantel, warf ihn über die Schultern, setzte mechanisch die Mütze auf, blieb mit schlaff herabhängenden Armen stehen und sah die anderen stumpf an.
»Nein,« sagte er dann, »ich will noch ein Glas trinken, das ist das letzte Glas Champagner, das ich trinke.« Und er schenkte sich ein und trank auf einen Zug aus und starrte sie wieder dumpf an. Dann blitzte es aber in den kleinen Augen merkwürdig auf.
»Lebt wohl,« sagte er weich, »ich liebe euch alle,« und streckte zuerst Henrik die Hand entgegen.
Plötzlich aber fiel er, anstatt Henriks Hand zu fassen, vor dem Sofa auf das eine Knie nieder, warf sich über ihn und barg das Gesicht an seiner Schulter.
Man erwartete ein leidenschaftliches Schluchzen, es kam aber kein Laut. Ruhig, ganz ruhig, wie ein schlummerndes Kind, blieb er wohl eine ganze Minute lang so liegen. Und Henrik rührte sich nicht, sah nur verstohlen mit blanken Augen auf Jarmanns Kopf herab und kämpfte mit den Tränen.
Helmer und Woll sahen stumm auf ihren Plätzen. Hjalmar stand aufrecht mitten im Zimmer. Sie kämpften alle mit den Tränen.
Die Stille fing an unheimlich zu werden.
Da ließ sich aber plötzlich Wolls gemütliche schleppende Stimme hören: »Ist es nicht verflucht?« fragte er, und es klang, als wenn er plötzlich eine interessante Entdeckung gemacht hätte. »Alles Ernste auf Erden involviert im Grunde genommen etwas Komisches.«
Alle lächelten. Jarmann stand still auf und zeigte ein völlig ruhiges Gesicht; nur schimmerten die blaubraunen Augen merkwürdig weich. »Nein,« sagte er, »etwas Komisches soll es nicht werden.«
»Ja – aber –« sagte Henrik nach einer kurzen Pause, und er war nahe daran, in Tränen auszubrechen – »weshalb soll denn das Menschliche immer komisch sein!?«
Jarmann wurde gerührt, ergriff seine Hand, drückte sie herzlich und sah ihm dankbar in die Augen: – »Leb' wohl!«
Henrik hielt die Hand fest und sah Jarmann so angestrengt ins Gesicht, als wollte er diese bekannten teuren Züge seiner Erinnerung für immer einprägen.
Dann ließ er endlich die Hand los und sagte tonlos: »Leb' wohl!«
Dann reichte sie Jarmann Helmer hin, der in der anderen Sofaecke saß. Und Helmer beugte sich vor, ergriff sie und sagte forciert lustig, mit einer Handbewegung aufwärts und abwärts: »Also leb' wohl! Wir sehen uns wieder – entweder oben oder unten!«
»Tja,« lächelte Jarmann, zuckte leicht die Achseln und wandte sich dann zu Woll, der sich am gegenüberliegenden Tischende erhob und ihm entgegenging. An der Mitte des Tisches, wo Hjalmar gesessen hatte, trafen sie zusammen.
»Leb' wohl, Woll; und herzlichen Dank für das, was wir zusammen erlebt haben!«
Woll sah ihn eine Weile an, dann ließ er seine Augen seitwärts ins Zimmer schweifen und sagte nachdenklich und gleichsam gleichgültig verwundert: »Es ist im Grunde genommen ganz seltsam, sich so zu trennen.«
Darauf wandte sich Jarmann an Hjalmar, der, seine Zigarre rauchend und das Ganze beobachtend, langsam im Zimmer auf- und abgegangen war. »Leb' wohl!« sagte er.
Hjalmar ergriff die Hand, drückte sie und sagte: »Auf Wiedersehen in Reih und Glied. – Übrigens will ich dir aufschließen.«
Jarmann sah sie alle noch einmal an und sagte dann: »Also lebt wohl! Wie ich euch alle liebe! ... Es ist herrlich, mit intelligenten Menschen zusammen zu sein. – Grüßt die anderen und sorgt für meinen Nachruf!«
»Deinen Nachruf erhältst du ja in Hermanns, Buch!« sagte Henrik. – 426 –
Jarmann zog die Augenbrauen zusammen und starrte einen Augenblick finster vor sich hin: »Es ist im Grunde genommen ein schändliches Buch!«
Die andern sahen ihn an. »Wieso?« fragte Henrik.
»Ach!« sagte Jarmann nervös leidenschaftlich, »ich habe mein ganzes Wesen offen vor ihn hingelegt, mich ganz hingegeben – ich habe ihn lieb gehabt. Hermann aber kann niemand lieb haben!«
Hjalmar hatte sich wieder in den Lehnstuhl gesetzt. Jetzt sah er zu Jarmann auf: »Wer weiß, vielleicht hat Hermann selber am meisten darunter gelitten, daß er niemand lieben kann! – Oder hast etwa du, ein solches Totendasein geführt wie er?!«
Jarmann überlegte einen Augenblick. »Nein,« sagte er dann, »du hast recht. Es ist doch herrlich, sich hingeben zu können. Grüße Hermann von mir. Er hat mir zwar in der letzten Zeit so vieles Häßliche gesagt – grüße ihn aber trotzdem!«
Damit ging er zur Tür. Die andern blieben sitzen, Hjalmar ausgenommen, der ihn begleitete, um die Haustür aufzuschließen.
An der Tür blieb aber Jarmann stehen und kehrte sich um. Ein nervöser Schauer ging durch seinen Leib. »Ich weiß,« sagte er, »daß ich zugleich meine Mutter töte, aber ...« Die Stimme versagte ihm, er konnte kein Wort mehr hervorbringen und hüllte sich mit einer beinahe krampfhaften Bewegung in den Mantel. Dann ergriff er die Klinke und wollte gehen, kehrte sich aber nochmals um und sagte: »Du, Woll, komm mit hinaus.«
Damit ging er, von Hjalmar begleitet.
Woll stand auf und folgte. Auf dem Korridor stand Jarmann allein. Hjalmar war bereits im Treppenhaus. Jarmann ergriff Wolls Hand, drückte sie lange und herzlich, sagte aber nichts. Und Woll sagte auch nichts. Schweigend, wie sie miteinander gelebt hatten, nahmen sie auch Abschied. Hand in Hand, blieben sie wohl eine ganze Minute lang im Dunkeln draußen stehen. Dann zog Jarmann plötzlich die Hand heftig zurück wie mit einer Kraftanstrengung und schritt ganz ruhig die Korridortür hinaus und die Treppe hinab.
Hjalmar ging voraus. »Hast du die zwei Kronen?« fragte er nach einer Weile.
Jarmann fuhr sich nervös über die Stirn und dachte nach. »Ich weiß nicht,« sagte er endlich, »ich habe sie wohl nicht ...«
»Wart' einen Augenblick!« Hjalmar sprang schnell die Treppe hinauf und holte das Geld, das auf dem Tisch neben Jarmanns Glas liegen geblieben war.
Als Jarmann unten auf der finsteren Treppe das Geld in Empfang nehmen sollte, merkte Hjalmar, daß seine Hand heftig zitterte. Er faßte sie deshalb von unten und hielt sie fest, während er das Geld hineindrückte.
»Bist du sicher, daß es zwei Kronen sind?« fragte Jarmann; er merkte, daß es Kleingeld war.
»Es sind genau zwei Kronen!«
Dann steckte Jarmann das Geld mechanisch in die weite Manteltasche und stieg die Treppe weiter hinab.
Vor der Haustür nahm Jarmann nochmals Abschied. Hjalmar sagte wieder ruhig: »Auf Wiedersehen morgen in Reih und Glied! – Oder wenn nicht,« fügte er hinzu, »dann leg' ich die Hand an die Mütze.« Und er führte, den Oberkörper leicht vorgebeugt, die Hand an den Mützenrand und blieb in ehrerbietiger Stellung stehen.
Jarmann ergriff seine Hand und drückte sie: »Ich danke dir ... Leb wohl!«
»Du, Jarmann,« sagte Hjalmar, seine Hand festhaltend, »ich habe oben nichts dafür oder dagegen sagen mögen, weder heute nachmittag noch heute abend. Es ist deine Sache gewesen, alles dafür und dagegen abzuwägen, und ich hätte es wie einen Versuch, in dein Selbstbestimmungsrecht einzugreifen, aufgefaßt, wenn ich mich hineingemischt hätte, nachdem du einmal den entscheidenden Entschluß gefaßt hättest. Und das wollte ich nicht, deshalb sagte ich nichts. Aber wie gesagt: auf Wiedersehen morgen in Reih und Glied – oder wenn nicht! ...«
Er ließ Jarmanns Hand los und führte wieder mit ehrerbietiger Bewegung des Oberkörpers die Rechte an die Mütze.
»Leb' wohl!« sagte Jarmann gerührt; »wir sehen uns nie wieder.«
Damit wandte er sich um und ging rasch fort.
Hjalmar sah ihm nach, bis er verschwunden war, schüttelte dann langsam den Kopf und ging in einer merkwürdig wehmütigen Stimmung zu den andern hinauf.
Sie saßen in dem graugelben Nebel still um den Tisch herum. Die Luft benahm einem den Atem, wenn man von draußen kam. Durch die leeren Flaschen bekam das Ganze den Eindruck eines Gelages kurz vor dem Aufbruch.
»Glaubst du, daß er es ausführt?« fragte Helmer, unmittelbar nachdem Hjalmar zurückgekehrt war.
»Freilich tut er es,« sagte Henrik, nervös fröstelnd.
Woll starrte ins Leere, ohne zu antworten. Hjalmar setzte sich und rauchte, die Augenbrauen zusammenziehend, weiter. Es wurde nichts mehr gesprochen. Sie waren bei der letzten Flasche. Sie wurde schweigend geleert, und dann begleitete Hjalmar Helmer und Woll hinaus. Als er wieder hinaufkam, hatte Henrik beide Fenster geöffnet; er selbst stand über das Waschbecken gebeugt, und wusch sich das Gesicht.
Hjalmar setzte sich müde und beobachtete ihn.
Plötzlich richtete Henrik sich auf, starrte ihm einen Augenblick wie in Angst in die Augen und sagte, während ihm die Tränen über das verstörte Gesicht hinabrannen: »Du! Ich glaube, er hat es schon getan!«
»Nein,« sagte Hjalmar, auf den Boden stampfend, stand dann auf, ging in sein Zimmer und schloß hinter sich die Tür.
Jarmann war auf seinem Zimmer gewesen, hatte das Paket mit dem Revolver und den fünfundzwanzig Patronen geholt und sich dann in das Vika-Viertel begeben. Langsam und mechanisch ging er mitten in der Straße, das Paket unter dem linken Arm, beide Hände schlaff in den Manteltaschen.
Die Straße lag bei ihrer sparsamen Gasbeleuchtung dunkel da. Die Straßenlaternen standen in langen Zwischenräumen auseinander. Er ging an einer nach der andern vorüber. Wie einsam sie aussahen, wie sie allein im Dunkel dastanden und ihr unsicheres Licht auf das Trottoir und an der nächsten Hauswand in die Höhe warfen. Nicht ein Mensch war zu sehen, und es war ganz still, still wie auf einem Friedhof. Das Schallen seiner eigenen Schritte auf dem harten Erdboden war das einzige, das er hörte. Und es klang ihm ganz gespensterhaft, es war, als wären es gar nicht seine eigenen Schritte. Ihm war zumute, als ob er im Schlaf wandelte. Die Beine trugen ihn mechanisch, er regierte sie nicht, sie gingen ganz von selbst.
Er ging durch die Seestraße und die Hügelstraße hinauf. In das erste Haus linker Hand, das erste, in dem Licht war, trat er ein und klopfte bei Luise an.
»Wer ist da?«
»Ich.«
»Bin nicht allein.«
So klopfte er bei einem Frauenzimmer nach dem andern an, erhielt aber überall dieselbe Antwort. Dann suchte er die ganze Winkelstraße ab, mechanisch von einer Tür zur andern gehend. Überall erhielt er dieselbe Antwort: »Bin nicht allein.«
Er wurde aber nicht ungeduldig. Ob etwas eher oder etwas später, das war ja ganz gleichgültig. Er hatte keine Eile, vielmehr das sichere Gefühl, daß er doch schließlich irgendwo unterkommen würde.
Er ging am »Taubenschlag« vorüber, durch die Zwischenstraße an der »Mutter« vorbei. Dann begab er sich in den Hof nebenan, klopfte erst vergebens an der ersten Tür an, ging dann weiter in den Hofraum hinein und wollte eben in die Küchentür eintreten, um durch die Küche hindurch zu Anny zu kommen, als ein großes Frauenzimmer ihm entgegentrat und den Weg versperrte.
»Soldaten dürfen hier nicht herein,« sagte sie verächtlich. Es war die Wirtin.
Jarmann sah sie schlapp an, schlug den Mantel zur Seite und zeigte auf die breiten, roten Streifen an der Hose: »Ich bin kein Soldat,« sagte er.
»Ach so, Sie sind ein Kadett. Verzeihen Sie, bitte!« Und das Frauenzimmer trat beiseite und ließ ihn vorbei.
Er klopfte an die Türe. Anny rief: »Herein!« und er ging ins Zimmer. Es war ein schmaler, blau angestrichener Raum. An dem einen Ende war ein Fenster, an dem andern stand ein großes Bett, das mit seinen großen, weißen Vorhängen wie ein Zelt ausschaute. Über dem Sofa und der Kommode hingen einige der herkömmlichen Öldruckbilder. Mitten in der Zeltöffnung saß Anny in weißer Nachtjacke, mit der roten Bettdecke zugedeckt, und sah ihn mit blinzelnden, schläfrigen Augen an.
»Ich will heute nacht hier bleiben,« sagte er kurz und legte das Paket mit dem Revolver auf den Tisch.
»Ach, ich bin so müde,« sagte sie, legte sich ins Bett zurück, gähnte und streckte sich aus.
»Du bekommst zehn Kronen.«
»Nein, ich bin so müde.« Sie gähnte wieder.
»Das nützt nichts. Ich will hier bleiben.« Damit warf er ruhig den Mantel aufs Sofa und fing an, sich ganz mechanisch auszukleiden.
»Da ich so müde bin, mußt du mir wenigstens fünfzehn Kronen geben.«
»Gern, ich habe sowieso heute schon fünfzig Kronen gebraucht.« Und er zog sich weiter aus, schlüpfte durch die Zeltöffnung zu ihr herein und kroch unter die rote Bettdecke.
Sie schlang ihren Arm um seinen Hals und war trotz ihrer Schläfrigkeit sehr liebenswürdig. Und mit einem Male war das mechanische Schlafwandlergefühl in ihm weg, und die Triebe erwachten in dem jungen Leibe ...
»Bin ich nicht ein kecker Bursche?« fragte er nach einiger Zeit.
»Ach, ungefähr so wie alle andern,« antwortete sie kalt und hörte auf, ihn zu streicheln. Er sah sie traurig an: »Es wäre mir lieb, wenn du das fändest,« sagte er; »ich mag dich gut leiden, und da würde es recht hübsch sein.«
Sie lächelte und schlang die Arme wieder um ihn, sagte, er wäre doch ein süßer Junge, und schmiegte sich zärtlich an ihn. Und seine Triebe erwachten wieder. – »Nun muß ich aber schlafen,« sagte sie nachher. »Ich bin so müde. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Er betrachtete sie eine Weile, wie sie mit geschlossenen Augen dalag. »Ja richtig,« sagte er dann und faßte sie beim Arme. »Du mußt mich morgen um sechs wecken.«
»Ja,« antwortete sie halb im Schlaf.
Er betrachtete sie noch eine Weile und wünschte, daß sie nicht schläfrig gewesen wäre. Dann wurde er aber selbst müde. Alles wurde ihm gleichgültig, und er starrte gedankenlos an die Decke.
Kurze Zeit darauf schlief er wie ein Stein.
Es war beinahe halb acht, als Anny erwachte. Die Lampe brannte auf dem Tische, aber trotz der herabgelassenen Gardinen überstrahlte das Tageslicht vollständig den Schein der Lampe. Jarmann lag ruhig neben ihr auf dem Rücken mit gekreuzten Armen und schlief wie ein Kind. Sie rüttelte ihn: »Es ist spät.«
Er schlug die Augen auf, sah sie einen Augenblick an und erinnerte sich dann an das Ganze. Es war ihm aber, als ginge ihn das nichts an, die mechanische Stimmung war wieder über ihn gekommen, und er fragte ruhig: »Ist es nach acht?«
»Nein, aber gleich halb.«
»Na, dann tut es nichts.« Er karessierte sie noch etwas, stand dann auf und kleidete sich an. Sie blieb müde mit halbgeschlossenen Augen liegen.
»Ich lasse den Mantel hier, ein Dienstmann wird ihn für fünfzehn Kronen holen.« Er stand fertig angezogen mitten im Zimmer.
»Ja, ja,« sagte sie im Halbschlaf. Dann ging er ans Bett, beugte sich über sie, küßte sie, sagte: »Gute Nacht,« nahm das Paket mit dem Revolver unter den Arm und ging.
Draußen war frische Morgenluft. Es hatte gegen Morgen etwas geregnet, war aber nun wieder vollständig klar. Die ganze Straße lag im Sonnenschein, und die kleinen, niedrigen Häuser sahen ganz freundlich aus. Ein Haus weiter sonnte sich die Wirtin in der offenen Haustür. Er sagte fröhlich: »Guten Morgen« und führte die Hand lächelnd an die Mütze. Er fühlte sich ganz leicht und froh ums Herz und wollte allen Menschen wohl. Die Wirtin erwiderte seinen Gruß und er ging weiter. Am Westbahnhof zeigte die Uhr fünf Minuten vor dreiviertel acht. Die Piperviksbucht lag in der nebligen Morgenluft spiegelblank da. Vier, fünf Schuten lagen schwarz und grün angestrichen, die Segel zum Trocknen ausgespannt in der Richtung nach Akershus hin, ebenso ein paar Schoner am Quai; sie löschten. Die Arbeit ging munter vonstatten, die Leute sahen vergnügt aus, und er war auch vergnügt: warum hätte er auch nicht vergnügt sein sollen? Er schlenderte gemütlich die Filipstadstraße entlang, öffnete das Paket, steckte die Patronen in die Tasche und ließ den blanken Revolver im Sonnenschein glänzen. Weiter draußen spielten ein paar schmutzige Jungen auf der Straße und versperrten ihm den Weg. Er vertrieb sie leicht, indem er mit dem Revolver drohte: »Weg, Bengels, sonst schieß ich,« und er ging dann langsam weiter. Die Kinder sahen ihm einen Augenblick erschreckt nach und spielten dann ruhig weiter.
Gleich oberhalb von Akers mechanischer Werkstätte erhebt sich ein knorriger Berggipfel vom Strande aus und schiebt sich ein Stück in den Fjord hinaus. Es ist der Tyveholm. Dort stieg er hinauf und ging ein Stück weiter.
Links davon hörte er Hammerschläge aus der mechanischen Werkstätte, die durch den Tyveholm verdeckt wurde. Rechts unten lag der Boothafen von Filipstad, wo ein Mann von Boot zu Boot ging und die Segel zum Trocknen aufspannte, während ein paar andere am Boothause unten kleine Arbeiten verrichteten. Geradeaus lag der Christianiafjord spiegelblank im Morgennebel da, nur hie und da leicht an der Oberfläche gekräuselt. Über dem Ganzen volle Windstille und Sonne.
Er blieb stehen und sah schlaff und friedlich gestimmt erst zu dem Boothafen hinunter, dann über den Fjord hinaus. Und es kam ihm der Gedanke: Wie, wenn er nun weitergelebt haben würde? Das war aber ein müßiger Gedanke, und er dachte ihn nicht zu Ende, gab sich selber keine Antwort darauf, legte mechanisch eine Patrone in den Revolver, spreizte die Beine auseinander, um fest zu stehen, spannte den Hahn und führte den Revolver in den Mund. Er stutzte: er fühlte den kalten Stahl am Gaumen, aber merkwürdigerweise revoltierte in seinem Innern nichts dagegen.
Dann drückte er los.
Er fiel schwer seitwärts vornüber, und die linke Schläfe zerschmetterte auf dem harten Steingrund.
Hätte ihn die Kugel nicht getötet, so würde es der Fall getan haben.
Die Kugel war aber mitten durch den Lebensknoten gegangen und hatte ihn zerrissen; er hatte seinen eigenen Schuß nicht gehört.
Von beiden Seiten strömten die Leute zusammen, etwa zehn bis zwölf Menschen. Ein paar von ihnen hoben ihn auf – er war mausetot. Dann wurde eine Droschke geholt, und er wurde ins Spital gefahren, – In voller Uniform auf einen Tisch in der Leichenkammer ausgestreckt daliegend, wurde er von dem Reservearzt untersucht und der Tod konstatiert.
»Sehen Sie nach, ob es Syphilis ist,« sagte der Reservearzt zu einem der Volontäre, als er fertig war.
Der Volontär knöpfte Jarmanns Kleider auf und untersuchte ihn: »Nein, es ist nichts zu sehen.«
Der Reservearzt stutzte: »Vierundzwanzig Jahre – und keine Syphilis?« Was konnte es dann sein? Dann mußte er geisteskrank gewesen sein.
Es wurde ein Laken über ihn gebreitet, und der Reservearzt und die anderen Mediziner gingen ihrer Wege, über das Motiv zu diesem Selbstmord debattierend.
Um die Mittagszeit zwischen zwei und drei stieg ein großer, dunkelhaariger, magerer Kadett die Hospitalsanhöhe hinauf; seine Augen waren starr, der Gang nervös, die schmalen Lippen fest geschlossen. Es war Hjalmar, der kam, um die Leiche zu sehen. Hinter den zusammengepreßten Lippen biß er die Zähne zusammen, und in den weiten Manteltaschen bewegten sich seine Finger wie Klauen: Hätte er die fassen können, die das verschuldet hatten!