Hans Jäger
Kristiania Bohême
Hans Jäger

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X.

Am Vormittag des nächsten Tages ging ich zu Bruns und brachte Lily ein Theaterbillet für die Abend-Vorstellung im Tivoli. Ich sah, daß sie es am liebsten zurückgewiesen hätte; sie tat es aber nicht, da dann die Mutter, die zugegen war, und die wußte, wie gern sie das Theater besuchte, Unrat gewittert hätte. –

Mittags lag die Karljohannstraße in strahlender Winterfarbenpracht da. Die Sonne schien auf den weißen Schnee, die Musik spielte im Pavillon, die Töne erfüllten die Luft, die Bürgersteige zu beiden Seiten waren schwarz von sich drängenden Menschen, die Straße lag breit dazwischen, glänzend weiß im Sonnenlicht.

Ich schlenderte langsam und guter Dinge die Parkseite entlang und spähte unter den frohen Menschengesichtern nach einer roten Schleife unter einem mattgoldenen Kindergesicht ...

Dort drüben kam sie am Außenrande des Trottoirs langsam dahergeschlendert, einige Schulbücher unter dem Arme; sie sah sich gleichfalls um, bemerkte mich aber nicht, wie ich quer über die Straße auf sie zuging.

Wie gut sie sich ausnahm! Der kleine dumme Hut, der violette, verschlissene Wintermantel, die ausgetretenen Schuhe unter dem halblangen Rock – was tat es, daß sie versuchten, häßlich auszusehen! Ihr mattgoldenes Gesicht unter dem schwarzen Stirnhaar mit strahlenden, keck umherspähenden Kinderaugen, ihre vollentwickelte jungfräuliche Gestalt mit den lässigen und doch keck wiegenden Bewegungen der weichen Hüften straften die abgetragenen Kleider Lügen ...

Da bemerkte sie mich und lächelte mit den braunen Kinderaugen und den stolz-sinnlichen Lippen. Ich erwiderte ihr Lächeln, holte sie ein und sprach sie an: »Wie geht's ?«–und dann arbeiteten wir uns schweigend Seite an Seite durch das Menschengedränge hindurch, während die Sonne den feinen Flaum auf ihrer Wange vergoldete und die klaren Töne der Musik den Lärm der Menschen übertönten. – Ich sah sie von der Seite an. Auf einmal wurde sie ganz ernst und sagte, ohne mich anzusehen: »Ich war gestern auf Karljohann.« – »Ich hatte leider keine Zeit zu kommen.« – »Ich war da!« Das klang kurz, fast streng.

Ich konnte nur mit Mühe ein Lachen unterdrücken. Dann sagte ich: »Wissen Sie, daß ich heute wegen des schlechten Referats Schelte bekommen habe, das ich gestern geliefert habe? Und wissen sie, weshalb es so schlecht war? Weil ich die ganze Zeit, während ich schrieb, nur immer an Sie dachte und mich beinahe schwarz ärgerte, daß ich dasitzen und schreiben mußte und nicht mit Ihnen spazieren gehen und mich unterhalten konnte.«

Ein dankbar zärtlicher Blick war der Lohn für diese Lüge, und damit war der Zorn über meine Nachlässigkeit vorüber.

Wir bogen nach dem Schloßhügel ab, wo weniger Leute gingen. Wir schritten langsam hinauf, sie lächelnd geradeaus blickend, ich sie von der Seite ansehend und den herrlichen Seitenblick bewundernd, den sie mir hin und wieder zur Belohnung zuwarf. Keines von uns sagte ein Wort, wir gingen nur weiter und genossen das Glück, so nebeneinander herzuwandeln – bis sie plötzlich auf der Anhöhe stehen blieb, sich mit lachenden Augen mir zuwandte, aus der Tasche eine eingepackte Schokoladentafel hervorzog und deren eine Ecke vorsichtig zwischen die begehrlich entblößten Zähne steckte, jedoch ohne zuzubeißen, mir nur immer lachend ins Gesicht sehend, während ihr im Munde das Wasser nach der Schokolade zusammenfloß.

»Beißen Sie doch zu!« sagte ich.

»Nein,« antwortete sie und zog die Hand mit einem Ruck wieder an sich, als ob sie die Schokolade den Zähnen mit Gewalt entreißen müßte. »Sie ist für meine Schwester,« sagte sie. »Sie ist krank, und da sollte ich ihr etwas Gutes kaufen.« Und sie zog noch eine Tüte mit Zuckerzeug hervor.

Ich blieb vor ihr stehen und sah sie an. »Mögen Sie Schokolade gern?« fragte ich.

»Ja.«

Ich schlug die Hände zusammen. »Und ich, der ich so dumm war, Ihnen nichts mitzubringen!«

Sie antwortete nichts.

»Übrigens sind Sie selbst daran schuld,« fuhr ich fort. »Wie oft habe ich Sie schon eingeladen, mit mir in eine Konditorei zu gehen! Sie haben aber niemals gewollt; ich glaubte, Ihnen läge nichts daran.«

»Ich habe mich bloß nicht getraut,« sagte sie etwas verschämt.

»Na, nächstesmal werde ich etwas mitbringen.« –

Dann gingen wir weiter und unterhielten uns zunächst über die Schwester. Ich fragte, was ihr fehle »Bleichsucht.«

»Natürlich!«

»Weshalb natürlich?«

»Ja, liebes Fräulein, wie alt ist sie denn jetzt?«

»Dreiundzwanzig.«

»Ja. Und nicht verheiratet!« Ich zuckte die Achseln.

Gerda sah mich schalkhaft lächelnd, nicht im geringsten geniert, an. »Es gibt aber doch viele Damen,« sagte sie, »die sich nicht verheiraten.«

»Das ist schon richtig. Die Natur fordert aber ihr Recht. Und bekommt sie das nicht, dann rächt sie sich beinahe immer.«

Sie antwortete nicht; ich sagte auch kein Wort mehr, ging nur, sie bewundernd, neben ihr her, während sie wieder lächelnd geradeaus sah und mich von Zeit zu Zeit mit dem herrlichen Seitenblick belohnte, der bewies, daß sie meine Bewunderung zu schätzen wußte.

Beim Schlosse bogen wir links ab und kamen auf die Drammensstraße. Dort begegneten wir Nummer zwei von meinen zukünftigen Schülerinnen, klein Kamma, dem Blondkopf von vierzehn Jahren mit kurzen Röcken. Als ich sie grüßte, dankte sie zuerst wie eine Dame, schnitt dann aber vor Gerda eine verächtliche Grimasse, warf ihr, als wir vorüber waren, einen Schneeball in den Rücken, lachte laut und lief davon.

»Die ekelhafte Gans!« sagte Gerda mit den Augenbrauen runzelnd, und stampfte mit dem Fuße auf, während ich ihr den Schnee abwischte.

»Weshalb finden Sie sie so ekelhaft? Doch nicht etwa des Schneeballs wegen?«

»Nein, sie ist aber ein unartiges Mädchen.«

»Was hat sie denn getan?«

Gerda überlegte einen Augenblick, dann sagte sie: »Ach, zu Weihnachten war ich bei Drammens zu Besuch.

Und auf einem Balle dort war ein Junge, und ich fand ihn so schön – und da ging ich auf ihn zu und küßte ihn vor aller Augen. Und hinterher ist die Geschichte in der Stadt bekannt geworden, und nun erzählt sie das ekelhafte Ding weiter und zieht mich damit in der Schule auf. – Ja, sie ist sehr unartig!« Und Gerda runzelte wieder die schwarzen Augenbrauen.

»Dann erzählen Sie doch von den Jungen, die sie im dunklen Hausflur küßt!«

»Ach, meinetwegen mag sie so viele küssen, wie sie will!« – Gerda warf stolz ihren Kopf zurück, und wir gingen wieder weiter, ohne ein Wort zu sprechen.

»Morgen ist Sonntag,« sagte ich nach einiger Zeit. »Was fangen Sie denn morgen Vormittag an?«

»Ich gehe in die Schloßkapelle.«

»Und hören meinen Freund, den Pastor Heuch?«

»Ja. Kennen Sie ihn denn?«

»Nein. Ich mag ihn bloß gut leiden. Ich glaube, er selber glaubt kein Wort von dem, was er sagt.«

»Ach, Unsinn!«

»Das glaube ich doch, aber trotzdem will ich morgen hingehen.«

»Ich gehe aber mit Mama in die Kirche und mit Alma, wenn sie wieder gesund ist – Sie können nicht neben mir sitzen.«

»So? – das ist dumm! – Ach, gehen Sie doch morgen lieber spazieren!«

»Nein, ich muß jeden Sonntag in die Kirche. Ich werde ja konfirmiert, müssen Sie wissen.« Dabei sah sie naiv zu mir empor.

»Es ist ja richtig« – ich lächelte – »Sie studieren ja den Katechismus. Macht Ihnen das eigentlich Spaß?«

Sie sah mich verwundert an. »Pfui!« sagte sie. »Na, der Katechismus ist aber doch trotzdem langweilig, nicht wahr?«

Ich sah sie von der Seite an; sie runzelte die schwarzen Augenbrauen und sagte in entschiedenem Tone: »Ich verbitte mir, daß Sie noch ein Wort darüber reden!«

Ich lachte. »Glauben Sie an die Kirchenlehre?«

»Ja. Sie etwa nicht?«

»Nein.«

Sie blieb stehen, sah mich an und sagte äußerst ernst: »O pfui! Sie sind ein Freidenker!«

»Glauben Sie, daß ich deswegen ein schlechter Mensch bin?«

»Nein, aber es ist häßlich, ein Freidenker zu sein.«

»Sie werden das sicher auch noch einmal werden, wenn Sie nur älter werden.«

Sie sah mich einen Augenblick ängstlich an, nahm dann einen abgegriffenen Katechismus, der eines der Bücher war, die sie unterm Arm trug, hielt ihn mit Daumen und Zeigefinger in die Höhe und ließ ihn ein paarmal hin- und herschwingen, während sie ihn wie neugierig betrachtete. Dann sah sie plötzlich zu mir auf und sagte energisch: »Wollen Sie nun aufhören, über so etwas zu reden!« Und bei jedem einzelnen Worte versetzte sie mir mit dem Katechismus einen Schlag über den Arm.

»Au, au, au!« schrie ich. Und dann lachte sie, und ich lachte auch, und der Katechismus wurde weggesteckt, und damit waren die Religion und der Freidenker für dieses Mal vergessen.

Als wir uns in der Straße, in der sie wohnte, trennten, verabredeten wir ein Stelldichein für den Nachmittag. Es war nach sechs Uhr nachmittags. Gerda und ich hatten einen Spaziergang nach Skarpsno gemacht und kehrten in die Stadt zurück. Der Abend war sternhell; rings war es still, und nur selten begegnete uns jemand.

Wir sprachen über die Herren, die sie kannte. Wer ihr am besten gefiele, fragte ich. – Ein Student Herzberg.

»Weshalb?«

»Er ist so süß!«

»Wieso süß?«

Gerda runzelte die Augenbrauen. »Nein, seien Sie nun nicht ekelhaft! Keine Wortklauberei!«

»Nein, nein. Welchen von den Herren kennen Sie nun am besten?«

Wieder kannte sie Herzberg am besten.

»Ja, kennen Sie ihn denn nun eigentlich?«

Sie stampfte mit dem Fuße. »Hören Sie! Sie sollen nicht ekelhaft sein!«

»Aber begreifen Sie denn nicht – ich meine ja: wissen Sie wer er ist ... was er vorhat ... was ihn am meisten beschäftigt ... was ihm am meisten hier auf Erden gefällt ... wie er sein Leben einzurichten gedenkt ... und wie er fühlt ... z. B. in Bezug auf Sie ... und in Bezug auf alles andere ... und was dergleichen mehr ist?«

Daran hatte sie nie gedacht.

»Das ist doch seltsam. Sie sollten nur wissen, wie gern ich in Ihr Hirn blicken und all das sehen möchte, was Sie da drinnen denken und fühlen!«

Sie blieb stehen, lachte und sah mich kokett an – und so blieben wir bei einer Gaslaterne am Eingang in die Observatoriumsstraße stehen und sahen uns in die Augen. »Nein, richtig,« sagte ich plötzlich, »ich hab' Ihnen ja Ihr Bild noch nicht gezeigt, das' ich in einer alten Nummer der Neuen Illustrierten Zeitung gefunden habe – so wie Sie jetzt dastanden und lachten, glich Ihnen das Bild ganz brillant«« Und ich griff in die Brusttasche des Überziehers, um das Bild hervorzuholen.

»Lassen Sie sehen,« sagte sie lebhaft.

Das erste aber, was ich in der Tasche zu fassen bekam, war eine Düte Zuckerzeug, die ich für sie mitgebracht hatte, und ich nahm sie zuerst heraus: »Hier ist etwas für Sie!«

Sie streckte die Hand rasch vor, ohne ein Wort zu sagen, und sah mir mit einem merkwürdig festen, geradezu magnetischen Blick ins Auge. Wie orientalisch sie aussah! Der voluptiöse, aussehende Körper offenbarte plötzlich gleichsam eine wilde, brutale Kraft mittelst der dunklen Augen, die einen naiv-verschmitzten Ausdruck bekamen, wie sie aus dem vollen von keiner Muskel bewegten Kindergesicht heraussahen. Sie nahm die Düte, führte sie langsam und wie verstohlen zu der Manteltasche und steckte sie hinein, während sie meine Augen durch den magnetischen Blick gefesselt hielt – als wollte sie mich so lange in Zauberbanden festhalten, bis sie ihre Düte in Sicherheit gebracht habe. Dann gab sie meine Augen gleichsam wieder frei, trotzdem sie fortfuhr, mich anzusehen und streckte wieder die Hand vor:

»Und dann war es das Bild!« sagte sie in befehlendem Tone. .

Das hatte ich wahrhaftig über ihren Anblick ganz vergessen. Ich zog es hervor und gab es ihr. Es stellte zwei junge Mädchen dar, die einen Burschen auslachen, als er vergebens versucht, eine Nadel einzufädeln; das spezifisch Männliche in der Ungeschicklichkeit des Burschen wirkt augenscheinlich stark auf die Mädchen, und es liegt etwas halb Naives, halb bewußt Sinnliches in der Art, wie sie lachen. Das eine Mädchen glich Gerda auffallend.

»Das sind Sie!« sagte ich und zeigte auf die eine Figur, »so lachen Sie.«

Sie betrachtete das Bild eine Weile nachdenklich beim Schein der Gaslaterne – wie um festzustellen, welchen Zug an ihr ich bei dem Mädchen auf dem Bilde wiedergefunden hatte. Dann sagte sie energisch: ,.Das will ich haben!«

Und als fürchtete sie, daß ich ihr das Bild wieder nehmen könnte, verbarg sie es mit der einen Hand auf dem Rücken, während sie die andere wie abwehrend gegen mich ausstreckte und die Augen wiederum mit dem merkwürdig intensiven Blick auf mich richtete.

In diesem lag wirklich eine magnetische Kraft. Ich hatte das Gefühl, als könnte ich, selbst wenn ich wollte, die Augen nicht wieder von den ihren abwenden.

»Ach nein,« sagte ich bittend, »lassen Sie es mir. Sie können sich ja selber sehen, so oft Sie wollen – wenn ich aber nicht mit Ihnen zusammen bin, Hab' ich nichts anderes als dies Bild.«

Sie bedachte sich einen Augenblick und gab mir dann das Bild mit naiv-königinhaftem Blick zurück.

»Sie können es behalten,« sagte sie und schenkte mir einen herrlichen Blick: die Augen wurden tiefer und dunkler als gewöhnlich, sahen ganz schwarz aus und bekamen einen rührend hingebenden Ausdruck, den sie nicht meistern, konnte. Ich wäre am liebsten vor ihr niedergekniet und hätte ihre Füße geküßt – so herzlich sah sie aus. »Gehen wir hier hinunter,« sagte ich dann – unwillkürlich etwas gedämpft – und zeigte die Observatoriumsstraße hinab, die dunkel und schmal vor uns lag, ohne Trottoirs, ohne Häuser, menschenleer, von hohen Gartenzäunen eingeschlossen.

Ohne zu antworten, wie willenlos, bog sie in die Straße ein – auch ihre ganze Haltung hatte etwas Hingebendes angenommen – und langsam und still schritten wir nebeneinander durch das Dunkel, sie geradeaus blickend, ich die hingebungsvolle, sich leise wiegende Gestalt neben mir betrachtend, ganz überwältigt von einem zärtlichen Drang, sie in meine Arme zu schließen und ihr zuzuflüstern: Gott, wie ich dich liebe!

Keines von uns sprach ein Wort.

So gingen wir eine Zeitlang weiter. Dann mußte ich aber etwas anfassen, was ihr gehörte.

»Ich möchte so gern Ihre Zöpfe anfassen,« sagte ich leise.

»Das dürfen Sie.«

Ihre Stimme klang auch merkwürdig weich, und ein Gefühl süßer Zärtlichkeit durchrieselte alle meine Glieder, während ich mich ihr noch mehr näherte und ihre starken schwarzen Zöpfe faßte und einen um den andern langsam mit der Hand streichelte und sie an meine Wange führte und küßte.

Sie ließ es ruhig geschehen.

Dann ergriff ich ihre Hand, die sie mir willenlos gab und ging so, ganz überwältigt, neben ihr her und sah nun auch geradeaus ins Dunkle.

Ohne ein Wort zu sprechen, wanderten wir so Hand in Hand weiter und fühlten die Berührung unserer Hände wie eine zärtliche Umarmung, bis wir an die Ecke der Straße kamen, in der sie wohnte. Dort blieben wir unwillkürlich beide stehen – es war wieder bei einer Gaslaterne – und sahen uns eine Weile an.

»Ich getrau' mich nicht, länger auszubleiben,« sagte sie schließlich. Es klang mutlos, und ihre Augen entschwebten mir und sahen ins Weite.

»Nur einmal noch das Viertel rund?« sagte ich bittend.

Sie sah mich an. »Ja, noch einmal«

Und wieder verfielen wir der weichen hingebungsvollen Stimmung, während wir Hand in Hand ganz mechanisch den Rundgang machten, ohne uns anzusehen und ohne zu sprechen, nur unsere Nähe fühlend.

»Noch einmal?« sagte ich leise, als wir wieder unter der Gaslaterne an der Ecke standen.

»Nein.« Es war ihr gewöhnliches entschiedenes Nein. Gewaltsam riß sie sich gleichsam selber zurück, indem sie meine Hand losließ, und der hingebungsvolle Ausdruck in Gesicht und Haltung war geschwunden.

Ich faßte ihre Hand und sah ihr zum Abschied in die Augen. »Nun gehen Sie nach Hause – wird es Ihnen Vergnügen machen, heute Abend bei Ihrer Mutter und Schwester zu Hause zu sitzen?«

»Nein,« sagte sie langsam.

»Ich werde nach Hause gehen und mich langweilen – ach, wie werde ich mich heute Abend langweilen!«

»Sie? Müssen Sie sich denn langweilen?«

»Wenn Sie jetzt von mir gehen, wird mir zumute, wie euch Mädchen am Morgen nach dem Ball.«

Ich erhielt einen dankbaren Blick.

»Denken Sie sich, wenn es so wäre,« sagte ich, indem ich ihre Hand streichelte, die ich die ganze Zeit festgehalten hatte, »denken Sie sich, wenn es so wäre, daß alle Menschen nicht in Familien, sondern jedes für sich wohnten und sich besuchen könnten, wenn sie wollten, und allein sein – wenn sie wollten, und alles tun, wozu sie Lust hätten, wenn sie nur anderen Menschen keinen Verdruß bereiteten. Dann könnten wir jetzt so lange zusammen spazieren gehen, wie wir Lust hätten, dann bei Ingebret zusammen zu Abend essen – und hinterher könnte ich Sie besuchen oder Sie mich und wir könnten den Abend ganz so zubringen, wie es uns selbst gefiele ...«

Sie sah naiv zu mir auf. »Aber es ist nicht so ... das würde ja nicht angehen.«

»Nein, aber das ist das Verkehrte. So sollte es sein! Wozu leben wir Menschen denn sonst auf Erden, als um miteinander glücklich zu sein?!«

Sie sah eine Weile vor sich hin, hob dann wieder die Augen naiv zu mir empor und sagte: »Ja, weshalb ist es nicht so?« Und wieder kam in Gesicht und Augen dieser Ausdruck weicher Hingebung, der mich so stark ergriff, und ihre Hand lag schwer in der meinen.

Ich antwortete nicht, starrte nur ergriffen in die hingebungsvollen Augen.

»So wird es wohl niemals werden,« sagte sie dann leise vor sich hin.

»Doch, einmal wird es so werden – wer weiß aber, wo wir dann sind!«

Sie starrte ins Leere. Dann sagte sie: »Ich darf nicht länger bleiben.« Sie sagte es aber leise und zog ihre Hand nicht zurück, sondern blieb stehen und ließ ihre Hand willenlos in der meinen ruhen – sie wollte sich mir nicht selber entziehen.

Da drückte ich ihr leise die Hand, sagte Adieu und ließ sie los.

»Ich sehe Sie wohl morgen Mittag,« sagte ich beim. Weggehen. »Wenn ich kann, ja. Wenn nicht, am Montag – Adieu!« Und sie ging langsam die Straße hinab.

Ich blieb an der Ecke allein bei der Gaslaterne stehen und sah ihr nach. Zweimal wandte sie sich um und nickte mir zu, einmal auf der Straße, und einmal, als sie in die Haustür hineintrat. Dann war sie weg.

Ich ging nervös in die Stadt hinein – du großer Gott, sollte ich wirklich mich verlieben können? ... Dieses Gefühl des Überwältigtseins hatte ich nicht gehabt, seitdem ich zum letztenmale verliebt gewesen war ... vor ganzen zehn Jahren, als ich siebzehn Jahre alt war ... Ich hatte es nicht für möglich gehalten, daß es wiederkommen könnte ... bei dem Leben, das ich in diesen zehn Jahren geführt hatte ... und so, wie ich geworden war! Nein, es war nicht möglich ... Und doch ...

O, wäre es so! Mein Herz schlug ... Herrgott, ich hatte zehn Jahre lang nicht gelebt ...


Ich kam gerade noch zurzeit, um Lily abzuholen. Wir beeilten uns, ins Theater zu kommen. Ich sah den ganzen Abend nichts vom Stück, dachte nur an Gerda. Nach der Vorstellung machte ich mit Lily einen Spaziergang. Ich erzählte ihr von der Schule, von Gerda und den anderen Mädchen, und ließ sie selber ganz aus dem Spiel. Sie hörte mit Interesse zu, sagte aber nicht viel. Als ich vor ihrer Haustür Gute Nacht sagte, war das Verhältnis zwischen uns genau so, wie in der Zeit, bevor ich die Schlacht geliefert hatte, und mehr hatte ich nicht gewollt. Erst in einer Woche beabsichtigte ich, den Angriff zu erneuern.


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