Hans Jäger
Kristiania Bohême
Hans Jäger

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XXVI.

Es war etwas über ein Jahr vergangen. Ich verbrachte die Sommerferien auf einem einsamen Bauerngute im Gebirge. Ich ging die Woche zweimal zum Krämer, um meine Zeitungen zu holen, die der Postbote dort niederlegte. Das war aber auch so ziemlich die einzige Bewegung, die ich machte. Sonst lag ich den ganzen Tag in meiner Hängematte, die zwischen den beiden großen Linden im Garten des Bauern aufgespannt war, rauchte eine Unmasse von Pfeifen und starrte meistens in das Laubwerk hinauf, las zuweilen auch irgendein philosophisches Werk.

Es war im August, nachmittags zwischen fünf und sechs.

Ich lag in meiner Hängematte unter den beiden ehrwürdigen Linden und las Fichtes Rechtsphilosophie: eine Entwicklung des Begriffes der Freiheit und der Art, wie die Gesellschaft geordnet werden müsse, um die Freiheit zu realisieren, d. h. um allen ihren Gliedern die größtmögliche Freiheit zu gewähren.

Sonst pflegte ich, wenn ich las, meiner Lektüre zwar völlige Aufmerksamkeit zu schenken, um mir die Zeit zu vertreiben, aber ihr doch kein eigentliches Interesse entgegenzubringen. Dieses Buch interessierte mich aber, ich wußte selbst nicht recht weshalb, und ich studierte es eifrig.

Die Sonne war immer tiefer hinabgesunken und fing nun an, an den dicken Baumstämmen hinter mir vorüber und unter das dichte Laub der Zweige zu blicken. Sie warf ihr weißes Licht über mein Gesicht und auf die Blätter des Buches. Ich kehrte ihr den Rücken zu und versuchte, das Buch im Schatten zu halten. Es gelang auch eine Zeitlang; schließlich wurde es aber zu unbequem, ich gab es auf, legte das Buch in den Schoß, nahm meinen Sonnenschirm, der auf der Holzbank links von der Hängematte lag, öffnete ihn, sah, von ihm geschützt, in das Laubwerk hinauf und versetzte mich in Gedanken in eine solche Gesellschaft freier, gebildeter Menschen, unter denen keiner seine Freiheit mehr einschränkte, als unumgänglichst notwendig war, damit alle anderen ebenso frei sein könnten, wie er selber; in eine Gesellschaft, deren Mitglieder sämtlich wie Glieder einer großen Familie waren, die zusammen arbeiteten, um in Gemeinschaft die Früchte ihrer Arbeit genießen zu können: es war ein offenes, freies Zusammenleben von offenen, freien Männern und Frauen, die für das soziale Leben keine anderen Gesetze kannten als Liebe, Freiheit und irdisches Glück; in dieser Gesellschaft saugte jedes einzelne Individuum Nahrung aus dem offenen freien Zusammenleben mit allen anderen, entwickelte sich in seiner ganzen individuellen Eigentümlichkeit wie ein üppiger Baum auf gutem, fettem Boden ... Was für Menschen mußte das geben! ... Göttergestalten im Vergleich mit den elenden Geschöpfen, die jetzt auf der Erdoberfläche herumlaufen und die sich in die finsteren Zellen alter, freiheitswürgender Institutionen und Traditionen sich verkriechen in banger Furcht vor dem hellen, befruchtenden Tageslichte des offenen freien Zusammenlebens! ... Ja, mit solchen Menschen zusammenzuleben, das hatte noch einen Sinn ...

...Und es war schon hundert Jahre her, daß dies Buch geschrieben, daß diese Gedanken gedacht worden waren – und noch hatte niemand daran gedacht, sie durchzuführen! ... Du großer Gott, was für großartige Idioten doch die Menschen waren!

Na, was ging mich übrigens, im Grunde genommen, ihre Dummheit an? ... Ich, ich würde ja selbst wenn ich in eine solche Gesellschaft freier Menschen mitten hineingestoßen würde, dieses Leben doch nur als Zuschauer betrachten können; ich würde mit diesen Menschen nicht zusammen leben können, die Keime meines Wesens nicht in einem Zusammenleben mit ihnen entfalten können ... diese Keime waren ja schon lange vernichtet, und der Tod gibt nicht zurück, was er einmal mit seiner Knochenhand ergriffen hat ... Nein, mir war es gleichgültig. Ich konnte ja nicht mehr leben.

Plötzlich richtete ich mich aber mitten in der Hängematte auf, mich auf beide Hände stützend: Ich hätte es aber gekonnt! Ich hätte in einer solchen Gesellschaft leben können – wenn ich nicht vorher in der elenden, ärmlichen Gesellschaft zugrunde gerichtet worden wäre, die wir jetzt haben!

Ich sank matt zusammen. O, wenn die Menschen diese hundert Jahre darauf verwandt hätten, eine solche Gesellschaft zu schaffen, anstatt sie wie Toren nutzlos verstreichen zu lassen ... Ach ja, ihre Dummheit ging mich leider recht viel an.

Dann fuhr ich wieder empor: Und ich hatte mit überlegener Miene dreingesehen und über diese jämmerlich bornierten Menschen gelächelt und mich als den einzigen Freien unter ihnen gefühlt ... hatte über meine eigenen Büttel gelächelt ... ! O, hassen hätte ich sie sollen, mit energischem, willensstarkem Hasse! ...

Ich besaß ja aber keinen Willen und keinen Haß mehr; auch das hatten sie mir wie alles andere genommen ... mit mir war es vorbei!

Und ich blieb mitten in der Hängematte in der Quere sitzen, die Beine auf der Holzbank, und starrte auf das stille Tal hinab, das dort unten im Sonnenschein so unschuldig sich ausstreckte, als wenn gar nichts geschehen wäre.

Dann hielt ich's aber nicht länger aus, in dieser Ruhe zu verweilen ich sprang mit einem Fluch zur Erde, eilte ins Haus und auf mein Zimmer, warf den Schlafrock ab, nahm Hut und Überzieher – und wanderte mit raschen nervösen Schritten die Landstraße entlang an der Kirche vorüber über die sonnbeschienenen Hügel durch den Wald ...

Es war vorbei ... es war vorbei ... und hätte nicht vorbei sein brauchen ...

Aber du großer Gott! Hatten denn die Menschen in diesen hundert Jahren nichts anderes zu tun gehabt als zu essen, zu trinken, zu schlafen und Toren zu sein! ... Lebten denn die großen Geister vergebens? ... Hatte denn all diese Zeit her niemand, gar niemand daran gedacht, das durchzuführen?

Ja richtig, die große Revolution! ... Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! ... Das waren ja dieselben Ideen ...

Es war aber nicht gelungen ...

Natürlich nicht. Der Pöbel hatte ja die Revolution durchgeführt, und der verstand die Ideen nicht. Der hatte das Ganze in den Schmutz gezogen. Der hatte geglaubt, Freiheit, das wäre Gleichheit und Brüderlichkeit mit ihm, dem Pöbel ... nicht geahnt, daß er sich zur Freiheit erheben mußte, um der Gleichheit und Brüderlichkeit teilhaftig werden zu können! ... Und die Führer? ... Die hatten es wohl mehr oder weniger begriffen – die hatten aber der Masse nicht das Verständnis beibringen können ....

Ich mußte lächeln: die Masse? . . Nein, wie hätte die Masse das auch begreifen sollen? Ich selber hatte es ja erst heute begriffen ...

Die Masse? ... Mußte denn gerade sie es durchführen? ...

Freilich, die »Gebildeten« taten es ja nicht. So oft es versucht worden war, war es die Masse gewesen. Ihr ging es am schlechtesten und deshalb hatte sie, die Witterung des Richtigen, während die »Gebildeten« einer ganz schlaffen Idiotie verfallen waren ... Außerdem – wenn die Masse nicht wollte, so ging es auch nicht ... Nein, der Masse mußte das Verständnis beigebracht werden. –

Aber wie? ... Dadurch, daß man auch sie den Unterricht der höheren Schulen genießen ließ? ... Nein, das hatte ja den Gebildeten nichts genützt ...

Wie war es aber mit anderen Schulen, mit Schulen, in denen die Soziologie den Katechismus und die Bibelerklärung ersetzte? – Ja, das mußte nützen ... Woher aber diese Schule bekommen? Die »Gebildeten« schafften sie wahrhaftig nicht. Nein, da mußte die Masse wohl auch vorgehen ...

Wie aber, wie war die Masse dafür zu gewinnen? Wie konnte ihr das notwendige Freiheitsbedürfnis eingeflößt werden, damit sie wollte?

Es gab nur einen Weg. Die Massen mußten zu der Einsicht gebracht werden, daß die Gesellschaftsordnung ausschließlich dazu da ist, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und dann mußte die Masse fühlen lernen, daß sie die Macht hat, die Gesellschaft danach einzurichten. Dann würde schon die Masse anfangen, ihre Bedürfnisse geltend zu machen und ihre Befriedigung zu verlangen. Es gab ja aber kein anderes Mittel, um der Masse diese Einsicht beizubringen und ihr dieses Gefühl ihrer Macht zu verschaffen, als indem man ihr die Zügel in die Hand gab und sie selber regieren ließ ...

Selber regieren ... Selbstregierung? – Damit mußte also angefangen werden ...

Und ich hatte über die »Herrschaft der Masse« gehöhnt, über die »Majorität der Zahl«, über das »Regiment der Roheit und Unwissenheit«! Und ich war der Ansicht gewesen, die »Gebildeten« müßten regieren! Und ich hatte über Sverdrup gelächelt und sein Gerede von der Selbstregierung des »Volkes«! ... Du großer Gott, hatte ich wirklich so töricht sein können? ...

Ich schüttelte den Kopf: fünfundzwanzig Jahre alt, ein ganzes Vierteljahrhundert, hatte ich über diesen Mann gelächelt, der, noch ehe ich geboren ward, sein ganzes Leben dem Kampf gegen die Dummheit und Schlaffheit geweiht hatte – um das durchzusetzen, was allein Leute wie mich vor dem Zugrundegehen bewahren konnte ... Ach, das war zu töricht ... ich wußte nicht, ob ich lachen oder weinen sollte ...

Er war ein herrlicher Mann! Woher in aller Welt hatte er aber alle diese kolossale Energie, die er in einem ganzen Leben angestrengter Arbeit entfaltet hatte – nur um dem Ziel, das er sich gesetzt hatte, ein ganz klein wenig näher zu kommen? ... Woher in aller Welt hatte er alle diese Energie hernehmen können? ...

Ich erinnerte mich eines Wortes, das er einmal gesprochen hatte: es war in meinem Gedächtnis haften geblieben, weil es so schön gesagt war und weil soviel Wehmut in dem Ton gelegen hatte, in dem er es sagte: »In der Jugend zeichnet man die Perspektive der Zukunft mit zu kurzen Linien, im Verlaufe des Lebens aber erfährt man, daß die Linien der Wirklichkeit immer länger und länger werden« ... Vielleicht hatte er anfangs geglaubt, er werde ganz ans Ziel gelangen und selber die Erreichung des Zieles erleben ... Dann hatte er aber eine Enttäuschung nach der anderen erlebt und hatte schließlich eingesehen, daß nichts anderes übrig blieb, als sich mit der Beruhigung zu trösten, daß es doch auf dem Wege zum Ziele vorwärts ging ... und mit dem Genusse, den es bereitete, in allen kleinen Treffen auf dem Wege von Fall zu Fall zu siegen ... auch mit der Befriedigung des Ehrgeizes ...

Nun ja, das war ja immer etwas, aber trotzdem ... o, es war bewundernswert, daß er sich die Energie hatte bewahren können, als das Ziel so weit hinausgerückt wurde! Das hätte uns willenlosen Menschen passieren sollen ... ich hätte wahrscheinlich nicht einmal versuchen mögen, etwas zu tun ...

Nein, das war ja auch gerade die Hauptsache: er hatte nicht nur den stählernen Willen gehabt, der dazu gehörte, sondern auch das, was unter solchen Umständen die Energie allein in Bewegung zu setzen vermag: die Liebe! ... Sie mußte, mußte weichen, diese unglaubliche Dummheit und Schlaffheit, damit die Menschen doch einmal frei und glücklich werden könnten! Dieser Gedanke hatte ihn vorwärts getrieben ...

Vielleicht hatte er auch an mich und meinesgleichen gedacht und sich gesagt, es sollten nicht mehr von uns zugrunde gehen, als notwendig wäre ...

Und mir wurde wehmütig weich ums Herz, wie ich an diesen Mann dachte, der sich in seiner Jugend vertrauensvoll die Aufgabe gestellt hatte, sein Volk zu Freiheit und Glück vorwärts zu führen und zu verhindern, daß mehr als notwendig auf dem Wege zugrunde gingen ... der sein ganzes Mannesalter hindurch in seiner energischen Arbeit ausgeharrt hatte, während er das Ziel beständig zurückweichen sah ... und der noch heute gleich stark und gleich energisch ausharrte, wenn auch sein Haar bereits ergraut war und sah er auch ein, daß trotz eines langen und siegreichen Kampfes noch Menschenalter nach seinem Tode vergehen würden, ehe der Tag der Freiheit anbrechen würde ...

Und wie ich wehmütig unglücklich auf der stillen einsamen Landstraße weiterschritt, wurde er mir teuer, dieser einzige Mann – teurer als alle anderen Menschen auf der Welt ...


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