Hans Jäger
Kristiania Bohême
Hans Jäger

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

An einem Abend im Mai 1881 hielt der Verein Fram (Vorwärts) im Christianiaer Arbeiterverein an der Ecke des Voungplatzes und der Marktstraße in einem Zimmer des zweiten Stockes eine Versammlung ab. Es war in der ersten Zeit des Vereins, als die Mitgliederanzahl noch ziemlich beschränkt war.

Um den langen Tisch inmitten des kahlen Zimmers sahen etwa 20 bis 30 junge Leute. Jeder hatte seinen Toddy oder Pjolter vor sich, trank und rauchte Zigarren, kurze oder lange Pfeife. Eine große Toddywassermaschine kochte mitten auf dem Tische, eine Masse Flaschen und Gläser, große und kleine, geleerte und gefüllte, standen in buntem Wirrwarr überall umher, hie und da war Bier, Wasser und Kognak verschüttet worden. Und alles, die jungen Menschen mit ihren Toddys und Bjolter, der beschmutzte Tisch mit seinen Flaschen, Gläsern und dem Toddyzubehör, war in eine dichte Wolke von Tabakrauch und Toddydunst gehüllt.

Die beiden Gasflammen über dem Tische strahlten, ihr Licht, abgedämpft durch die Milchglaskugeln, auf den graugelben Nebel herab und warfen einen phantastischen Schein auf die jugendlichen Gesichter.

Es war bereits zwölf Uhr vorbei. Der Abend war recht lebhaft gewesen. Der Vorsitzende hatte einen längeren Einleitungsvortrag über Darwin und seine Bedeutung für die moderne Wissenschaft gehalten; nach dem Vortrag hatte eine Diskussion stattgefunden und dabei war man schließlich auf das Christentum gekommen, sein Verhältnis zur modernen Wissenschaft, zur Kunst – und zum Leben. Beim letzten Punkt besonders hatten sich die Gemüter erhitzt, und einer nach dem anderen war aufgestanden und hatte über die ungeheuren Versündigungen des Christentums am Leben gesprochen. Von allen Seiten und in den verschiedensten Formen wurde hervorgehoben wie das Christentum mit seinem Gebot der Entsagung bei dem heranwachsenden Geschlecht das Bedürfnis nach einem freieren und reicheren Leben, als es unter den alten Gesellschaftsformen gelebt werden kann, entweder vernichtet oder unterdrückt und dadurch bewirkt, daß dieses Bedürfnis, anstatt sich in gesellschaftsreformatorischen Bestrebungen zu äußern, in eine private Genußsucht ausartet, die dann wieder alle die Gesellschaftsübel hervorbringt, die man mit einem gemeinschaftlichen Namen Unsittlichkeit nennt und die unablässig Tausende und Abertausende von Opfern fordern.

Von allen Seiten und in den verschiedensten Formen wurde dies zornig und indigniert hervorgehoben, und das Christentum war infolge dessen für Frams Hauptfeind erklärt worden.

Ein langer Bursche mit offenem Gesichte, stahlblauen fanatischen Augen und gelbem lockigen Haar stand am oberen Ende des Tisches in der Nähe des Vorsitzenden. Er behandelte dasselbe Thema und beleuchtete es durch ein Beispiel aus seiner Lebenserfahrung, während die anderen still um den Tisch saßen, an ihren Gläsern nippten und mit zustimmenden Mienen zuhörten. Als dieser sich gesetzt hatte, erhob sich der Vorsitzende am Kopfe des Tisches, ein ganz junger, schwarzhaariger Mensch, kaum zwanzig Jahre alt, schon mehr dünn als schlank, mit breiter hervorspringender Stirn, die das ins Gesicht hineingestrichene Haar zur Hälfte verdeckte, einem ungewöhnlich energischen Mund und tiefliegenden schwarzen Augen. Er fragte, ob noch jemand das Wort wünschte.

»Gut, dann, denke ich, so trinken wir also zum Schluß auf das Heidentum – Hoch das moderne Heidentum!«

»Hoch! – hoch das Heidentum!« wurde von allen Seiten gerufen. Und alle tranken mit.

»Und damit erkläre ich die Versammlung für geschlossen – nun beginnt das Nachspiel,« sagte der Vorsitzende und setzte das Glas auf den Tisch. »Braucht jemand dort unten noch Branntwein?«

»Ja, hier, hier!« klang es von verschiedenen Seiten, und mehrere Arme wurden vorgestreckt. Der Vorsitzende schob eine Kognakflasche den Tisch hinunter entkorkte eine neue für sich selbst und den, der mit ihm am oberen Ende des Tisches saß – und dann trank man drauf los und plauderte und schwätzte über alles mögliche.

Allmählich löste sich die Versammlung in einzelne Gruppen auf; einige gruppierten sich um den Vorsitzenden am Tischende, andere hatten sich an die kleinen Tische in den Ecken des Zimmers unter den Gasflammen gesetzt, und der Rest blieb an dem langen Tische in kleinen Gruppen von zwei bis drei Personen. Der Tabaksrauch wurde immer dichter, die Stimmen der einzelnen Gruppen schwollen immer mehr an; das Ganze schwamm schließlich zusammen in einen Nebel, einen lärmenden Wirrwarr, der hin und wieder von jugendlichen Lachsalven unterbrochen wurde.

Etwa in der Mitte des langen Tisches, den Rücken den Fenstern zugekehrt, saß ein zartgebauter junger Mann ganz allein. Rotblondes Haar umschloß dicht und glatt den kleinen stattlichen Augustuskopf und schob sich in kleinen Locken in die weiße Stirn vor – es war Jarmann. Er hatte sich in seinen Stuhl zurückgelehnt, bequem zusammengesunken, die rechte Hand auf der Tischfläche das Glas umfassend, den Kopf vornüber gebeugt, und starrte geistesabwesend in das Gewirr von leeren Flaschen und Gläsern auf dem beschmutzten Tisch hinein; er sah nichts von dem, was um ihn vorging, hörte nicht die lärmenden Stimmen, spürte nicht den beißenden, erstickenden Geruch des Tabakqualms und Toddydunstes – er war ganz mit sich selbst beschäftigt.

Für ihn hatte dieser Abend eine ganz eigene Bedeutung.

In der kurzen Zeit, die er Mitglied des Fram war, hatte das Christentum noch nicht zur Diskussion gestanden; hin und wieder hatte er es wohl vereinzelt in der privaten Unterhaltung zwischen Mitgliedern bei einem »Nachspiel« oder sonstwo, wenn sie außerhalb des Vereins zusammentrafen, erwähnen hören; sie hatten sich aber niemals eingehend damit beschäftigt, nur darüber die Achseln gezuckt, als über etwas, über das sie schon längst hinaus waren und womit sie nichts mehr zu tun hatten. Und er hatte bei der stillschweigenden Verachtung, die auf diese Weise dem Christentum zuteil geworden war, ein Gefühl der Schadenfreude gehabt – es hatte in ihm ein lange unterdrücktes Rachegefühl befriedigt; er war aber doch geneigt gewesen, diese Verachtung als einen Ausfluß jugendlicher Übertriebenheit anzusehen; in Wirklichkeit werde wohl, meinte er, das Christentum im Innern der jungen Leute ebenso leben wie in ihm selber; man konnte das wohl nicht los werden.

Dies Gefühl hatte er früher gehabt. Heute Abend aber, als er alle die zornigen, indignierten Reden gegen das Christentum hörte, war es erschüttert worden; der Zorn und die Empörung hatten ihn selber angesteckt, und zwar, je länger er zuhörte, umso mehr.

Das Christentum vernichtete bei dem jungen Geschlecht das Bedürfnis nach einem freieren, reicheren Leben – ja das tat es gewiß bei vielen, ohne Zweifel..

Oder es unterdrückt die Sehnsucht nach der Freiheit und zwingt sie, in Genußsucht und Unsittlichkeit auszuarten, während ihr natürlicher Ausfluß gesellschaftsreformatorische Bestrebungen zeitigen würde – ja, so war es ihm ergangen.

Und das Christentum, das so hart verurteilte, war also selber schuld daran! ... Ja, so war es, so war es! – Und es war nicht nur ihm so gegangen, nein, anderen auch, und es würde auch weiterhin noch vielen anderen ebenso ergehen ... Und er und diese anderen, deren Freiheitsbedürfnis das Christentum nicht zu vernichten, sondern nur niederzuhalten vermocht hatte, – bei ihnen war ja gerade das Freiheitsbedürfnis am stärksten, in ihrer Brust lagen ja gerade die meisten Zukunftskeime, gerade sie hätten also die besten Kämpfer für Freiheit und Fortschritt werden können! ... Und anstatt dessen bummelten sie, tranken und schwätzten mit Frauenzimmern und brachten ihre Zeit hin, so gut wie's gerade ging, weil das Christentum das Bedürfnis nach Freiheit in ihnen unterdrückte und es zwang, sich diesen unnatürlichen Abfluß zu verschaffen ... O, es war schändlich.

In solche Gedanken versunken, saß er da, und der Zorn und die Indignation wuchsen, je mehr er nachdachte, und schließlich erfaßte ihn eine Begeisterung für die Ausrottung des Christentums –: o, es mußte ausgerottet werden, mit Stumpf und Stiel mußte es ausgerottet werden, damit das junge Geschlecht für Freiheit und Fortschritt gerettet werden konnte!

Plötzlich aber überkam ihn ein Zweifel: war das nicht vielleicht eitel Selbstbetrug, Verblendung, eine augenblickliche Stimmung, war das Christentum nicht in ihm ebenso lebendig, wie es immer gewesen war? – Und mit bangen Ahnungen begann er – was er so viele Jahre sich nicht getraut hatte – sich selber zu, prüfen und jeden kleinsten Winkel seiner Seele zu untersuchen.

Aber nein! In seinem Innern rührte sich keine Faser zugunsten des Christentums, keine Spur war mehr da von der altbekannten inneren Stimme aus den Tagen der Kindheit, kein Schimmer mehr von dem ehemaligen Glauben an die Wahrheit des Christentums; jetzt war es ihm nur eine abscheuliche, freiheitsfeindliche, verderbliche Fabel, und er wunderte sich, daß er je an sie hatte glauben können. – Nein, das Christentum lebte in seinem Herzen nicht mehr, es war tot, war dahin ...

Tot und dahin? – Durfte er das glauben? ...

Ja, tot und dahin, jubelte es in ihm. Und die lastende Bürde, die er insgeheim und allein in diesen Jahren getragen hatte, bis er sich so sehr daran gewöhnt, daß er sie als einen unvermeidlichen Teil seiner selbst fühlte, – sie wurde wie ein Stein von seinen Schultern gewälzt, und ein unbändiger Jubel über die Befreiung erfaßte ihn –: Tot und dahin! Tot und dahin! jubelte es in ihm ... Tot und dahin! jubelt es lauter und lauter – und der Jubel wuchs zu einem gewaltigen, alles übertönenden Siegesgesang, der seine Brust zu sprengen drohte, und er sprang auf mit glühendrotem Gesicht und flammenden Augen, als wollte er seinen Jubel in die Welt hinaus schreien.

Ein schallendes Lachen klang vom oberen Ende des Tisches her durch die dichten, graugelben Tabakswolken – und Jarmann kam mit einem Male in Erinnerung, wo er war. Der beschmutzte Tisch mit seinem Wirrwarr von Flaschen und Gläsern, die zechenden Menschen rings umher in dem graugelben Nebel, das lärmende Geschwätz Halbtrunkener, der widerliche Gestank von Branntwein und Tabak, das alles drängte sich seinen Sinnen auf und drohte ihn zu ersticken.

Nein, hier konnte er nicht atmen, er mußte ins Freie hinaus, mußte in langen, saugenden Zügen die reine Nachtluft und seine Befreiung genießen. Er warf einen Blick um sich, niemand hatte ihn beachtet, und er eilte zur Tür, holte seinen Hut vom Garderobeständer und verschwand.

Auf der Steintreppe vor dem Hause blieb er einen Augenblick stehen, sog mit Wohlbehagen die kühle Luft ein, starrte begeistert auf die schwere rohe Granitmauer des Zuchthauses, die so gewaltig und ruhig ihm gegenüber im Mondlicht dalag, mit ihren unzähligen kleinen glitzernden Kristallflächen. Dann aber ging er mit raschen Schritten fort, die Schultern hochgezogen, die Arme steif, die Fäuste geballt, und sog in langen Zügen die Luft ein.

Groß und öde lag der Voungplatz vor ihm, kein Mensch war zu sehen, das nackte Pflaster badete sich schattenlos im weißen Mondlicht.

Plötzlich erfaßte ihn eine leidenschaftliche Lust, zusammen mit seinem Schatten im Galopp über die große weiße Fläche zu springen, sich dann in der Mitte des Platzes niederzuwerfen, zum Himmel emporzusehen und hinaufzuschreien, in die Hände zu klatschen, mit den Beinen zu strampeln und gotteslästerliche Dinge zu rufen – und sich dann zu einem Klumpen zusammenzurollen, die Knie bis ans Kinn gezogen und die Arme um sie geschlungen, und sich auf dem Pflaster umherzuwälzen wie ein Verrückter und zu rufen: Kjipalam, kjipalam! ...

Er lächelte einen Augenblick über den lächerlich kindischen Einfall, bog dann links ab und ging mit raschen nervösen Schritten die Youngstraße hinab ...

Wie jung und stark er sich fühlte! ... es kostete ihn Mühe, der Neigung zu widerstehen, in dem Mondschein zu laufen ... O, aber in den Straßen der Stadt war es zu eng, er mußte in die freie Natur hinaus, erst dort konnte er aus voller Brust atmen. Und er wanderte mit hochgezogenen Schultern, steifen Armen und geballten Fäusten weiter nach der Altstadt und Ekeberg hinaus.

Von der Vaterlandsbrücke warf er zufällig einen Blick auf den Akersfluß, blieb, von der Schönheit der Gegend ergriffen, unwillkürlich stehen und stützte sich mit den Armen auf das eiserne Brückengeländer.

Gerade unter ihm floß das Wasser kohlschwarz durch die Brückenbogen; die Häuser auf dem linken Ufer warfen schwarze Schlagschatten darüber hin. Weiter draußen schlängelte sich der Fluß wie eine Silberader, wellenförmig, im Mondschein zwischen dem Grün der Bäume und Büsche glitzernd, und die Landschaft ringsum wirkte in der hellen Beleuchtung ganz phantastisch. Wie er dort, an das Geländer gelehnt, ins Weite starrte, wurde für ihn die bleiche phantastische Landschaft zu einem fernen Lande. Hinter dem Grün der Bäume und Büsche zu Seiten des silberglitzernden Flusses ahnte er weite Länder mit großen Städten, in denen die Menschen friedlich nebeneinander leben und ein jeder auf seine Weise glücklich ist, ohne sich darum zu kümmern, was nach diesem Leben kommt. Und kein zorniger Himmel sendet dort Strafandrohungen auf die Menschen herab, noch verkündet er, daß dieses irdische Glück mit Martern und Qualen in einer anderen Welt bezahlt werden soll. Nein, rein und klar wölbt sich der Himmel über den Menschen, die ganze Natur lächelt ihnen zu und spricht von Glück, Glück! irdischem Glück! – und sie opfern dem, was nach diesem Leben kommt, nicht einen Gedanken ...

Ach, daß das alles so fern liegt! ... Weshalb ist er nicht dort! ...

Er reckte sich auf.

Mag das in der Ferne liegen! Auch über ihm wölbte sich der Himmel rein und klar mit blinkenden freundlichen Sternen, und er stand jung und stark da, rein und schuldfrei – hatte das ganze Leben noch vor sich! ...

Rein und schuldfrei! ...

Ja. Freilich hatte er nie gearbeitet, nie etwas getan – das war wahr – nie etwas Nützliches studiert und gelernt wie die anderen, nie gedacht. Das war aber nicht seine Schuld; das Christentum und die schlechte Erziehung waren daran schuld ...

Und freilich hatte seine Begeisterung für alles, was Freiheit und Fortschritt hieß – wenn sie vielleicht auch größer gewesen war als die irgend eines anderen – nicht auf irgendwelchem Verständnis beruht; er hatte nicht sagen können, weshalb er begeistert war ... Aber war er denn irgendwie aufgefordert worden, zu denken?

Die anderen sahen auf ihn herab; er wisse ja gar nichts, sagten sie, verstünde nichts. Selbst die Streber taten es; erst heute hatte ein solcher Bursche zu ihm gesagt: »Aber was willst du denn mit der »Freiheit« und dem »Fortschritt«? Was meinst du denn damit? Die Staatsratssache oder die Wahlrechtsreform oder die Republik? Oder was soll uns denn so frei machen und uns solche Fortschritte bringen? Was meinst du denn überhaupt mit solchen Phrasen?« – Und er hatte dagestanden und nicht antworten können, wußte, daß er recht hatte und der andere unrecht, konnte aber weder Worte noch Gedanken finden, wurde nur glühend heiß und rot im Gesicht und ging seiner Wege, nachdem er verbittert »Esel« gemurmelt hatte, während der andere stehen blieb und ihm nachlachte ...

Der Mensch hatte aber recht, und die anderen auch: er hatte wirklich eigentlich niemals verstanden, was Freiheit und Fortschritt war, hatte es nur gefühlt, ohne sich darüber klar zu werden. Jetzt aber verstand er es: ein freieres, reicheres, glücklicheres Leben soll ein jeder von uns leben und wir alle zusammen, so daß wir uns nicht mehr vor dem Leben zurückzuziehen und unsere Befriedigung anderwärts zu suchen brauchen! ...

Noch wußte er nicht, wie dieses freiere, reichere, glücklichere Leben gelebt werden, worin es eigentlich bestehen sollte, verstand auch nicht, was das mit der Republik, der Staatsratssache, der Wahlrechtsreform und allem anderen zu tun hatte. Aber er wollte sich schon noch darüber klar werden; daß ein Zusammenhang zwischen dem allen bestand, das fühlte er, und den wollte er auch schon noch finden ... Die anderen mochten, so lange sie wollten, auf ihn herabsehen und glauben, daß er zu nichts tauge – er würde schon das Ganze noch verstehen lernen, auch er! Er wollte arbeiten! und studieren! und denken! und arbeiten! bis ihm alles klar würde, und dann sollte sich zeigen, daß in ihm vielleicht bessere Kräfte schlummerten als in allen denen, die ihn jetzt herabsetzten. Gleich morgen wollte er anfangen. Mochten sie ihn nur immer einen Faulpelz heißen, der keine Lust habe, etwas zu tun, – seinetwegen mochten sie ruhig reden: er war jung und stark, und es würde sich zeigen, daß er arbeiten konnte und etwas leisten, wenn er auch die Schulaufgaben, deren Nutzen er nicht einsah, nicht hatte einpauken und sich nicht dazu hatte bequemen können, sich einem langweiligen Brotstudium zu widmen, das für ihn keine andere Bedeutung hatte, als daß es ihm eine Unterkunft zu schaffen imstande war. – Und wenn er sich dann zu voller Klarheit über das, was ihm am Herzen lag, durchgearbeitet und das ganze volle Verständnis dessen sich erworben hatte, was es galt – dann wollte er sich eine Stellung wählen und von dieser aus gleichfalls sich an der Arbeit für Freiheit und Fortschritt beteiligen ... O, er wollte es schon noch zu etwas bringen ... ja, ganz sicher: er hatte Jugend und Kraft im Überfluß, und an Verständnis fehlte es ihm auch nicht mehr – jetzt lag das Leben offen vor ihm da! ...

Er hatte die Brücke verlassen, ohne es selber zu merken, und war in der mondhellen Nacht weitergewandert, die Schultern hochgezogen, die Arme steif, die Fäuste geballt. Und so ging er mit raschen nervösen Schritten immer weiter und weiter, zog die Luft in langen Zügen ein und berauschte sich in Zukunftshoffnungen.

Es war vier Uhr, als er endlich zu Bett kam.

Als er tags darauf in dem Rechtsanwalts-Bureau auf dem Sofa lag und darüber nachdachte, wie er nun anfangen wollte, da konnte er schlechterdings nicht fassen, auf welche Weise er beginnen und auf welche Weise er enden sollte. Schließlich verfiel er darauf, zunächst an das Studium von Stuart Mills Repräsentative System zu gehen, nahm wirklich die letzte halbe Stunde vor Zwei Urlaub, begab sich auf die Universitätsbibliothek und lieh das Buch. Am Nachmittag las er einige Seiten darin, fand sie aber entsetzlich langweilig und ließ das Buch dann zu Hause auf dem Tische liegen, ohne je wieder hineinzusehen. Und nach Verlauf weniger Tage war die ganze Begeisterung von dem Abend im Fram völlig verdunstet und der Arbeitsplan aufgegeben, und er fuhr fort, genau wie vorher zu bummeln und die Zeit totzuschlagen.


 << zurück weiter >>