Hans Jäger
Kristiania Bohême
Hans Jäger

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II.

Es war an einem Nachmittag im März. Im Herbst zuvor war Jarmann als ein fleißiger, braver und christlich gesinnter Junge von 15 Jahren nach Christiania gekommen, um hier die Lateinschule zu besuchen und später Theologie zu studieren.

Jarmann hatte gerade zu Mittag gegessen und seinen Kaffee getrunken. Nun saß er in seinem kleinen Zimmer, das auf den Hof hinausging, am Tisch vor dem Fenster und las eifrig in Holger Drachmanns »Östlich von der Sonne und westlich vom Mond«. Plötzlich unterbrach er die Lektüre und las die letzten Verse noch einmal:

Nichts ist Leben, was im Leben nicht fehlte:
Die Dirne hat ihren Sonnenschein, doch du nur ein Schloß!

Das war schön ausgedrückt! Er lehnte sich in dem Stuhle zurück, steckte beide Hände in die Hosentasche, streckte die Beine weit unter den Tisch und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf den holprigen, schlecht gepflasterten Hofplatz und den häßlichen Hinterhof.

Du nur ein Schloß!? ...

Er schüttelte den Kopf. Nein, das war kein Schloß.

Dann stand er auf und ging mehrmals mit gesenktem Haupte im Zimmer auf und ab, gerade vor sich hinstarrend.

Nein, er hatte weder ein Schloß! weit gefehlt! noch Sonnenschein! noch irgend, irgendetwas auf der Welt! ...

Eine Zeitlang ging er in dem engen Zimmer auf und ab, dann aber blieb er plötzlich mitten darin stehen und sah sich um. Er maß mit den Augen die Entfernung zwischen dem Bette dort an der rechten und dem Sofa an der linken Wand –: Ein Schloß?! – he! Und er fiel auf das eine Knie nieder und versuchte, die Entfernung zwischen Sofa und Bett mit den Armen zu messen. Es fehlte nicht viel daran und es wäre ihm gelungen.

Er stand wieder auf und blieb einen Augenblick mit ausgestreckten Armen stehen –: Ein Schloß! – Er lachte bitter und ließ schlaff die Hände sinken. – Wer noch ein Schloß hätte ... und in hoher Vornehmheit auf alle Freuden des Lebens verzichten könnte! ...

War es denn aber so ganz unmöglich, sich nur einigermaßen glücklich zu fühlen, wenn man nicht fehlte, nicht sündigte?!

Nein, das konnte, das durfte nicht unmöglich sein.

Was wollte er denn dann aber haben?!

O, er wollte sich mit wenigem begnügen. Hätte er nur ein größeres, geräumigeres Zimmer! auch keine Schule. Das aber gehörte dazu! Ach, dieses ekelhafte kleine Zimmer mit seinen altmodischen, mit hellgelblichen Figuren bedruckten weißen Tapeten. Da hatte man ihn ja in eine Schachtel gesteckt, und darin mußte er leben wie in einem Gefängnis und fühlte sich von Tag zu Tag geringer.

Ach Gott, wie klein und elend er sich hier vorkam.

Am frühen Morgen fing es an, wenn er bei Tagesgrauen im Bette lag, nachdem das Mädchen dagewesen war und ihn geweckt hatte. Halb wach lag er dann da und dachte nur an das eine, daß er nun wieder in die Schule gehen mußte und daß er wieder in den Aufgaben überhört werden sollte, die er niemals konnte, weil er sie niemals gelernt hatte, da sie immer so langweilig waren – ach, so langweilig!

Und am Abend hörte es auf, wenn er wieder in demselben Bette lag und kläglich bereute, daß er auch heute nichts studiert hatte. Dann gelobte er sich hoch und heilig, er werde morgen seine Pflicht erfüllen. Und er bat Gott, er möge ihm dazu verhelfen. Aber er wußte genau, daß er trotzdem nicht dazu kommen würde ...

O, diese Morgen und diese Abende! Und diese Vormittage in der Schule, und diese Nachmittage daheim; wo er nur auf dem Sofa lag und an liederliches Zeug dachte, anstatt etwas zu schaffen! ...

Er fiel vor dem Sofa nieder, stützte die Ellbogen auf seine Knie und verbarg das Gesicht in den Händen: Ach diese Sinnlichkeit, diese überhandnehmende Sinnlichkeit! – die war es ja im Grunde genommen, die ihn so elend machte! Sie war es ja, die ihn immer am Arbeiten hinderte. Nahm er ein Buch und begann zu lesen, dann konnte er ja gar nicht an das denken, was er las, vor diesen nackten Weibergestalten, die zwischen den Zeilen tanzten, bis er das Buch vergaß und die Linien und nur noch die Weiber sah. – Ja, die Sinnlichkeit war es, die ihn daran verhinderte, seine Pflicht zu tun, sie erfüllte ihn mit der verzehrenden Sehnsucht, die ihn nicht Rast noch Ruhe finden ließ ...

Was in aller Welt sollte er aber tun? Er hatte ja alles versucht, was in seiner Macht stand, um es zu überwinden. Er hatte sich von seinen Kameraden zurückgezogen. Sie hatten angefangen, zu viel und zu frech über diese Dinge zu sprechen. Einer von ihnen hatte gar erzählt, er hätte es getan ... und gesagt, er wolle damit fortfahren: es wäre zu herrlich, als daß er wieder aufhören möchte. Und die anderen waren mehr oder weniger darin einig gewesen und hatten ihn ausgelacht, als er erklärt hatte, sie führten freche Reden. Und dann hatte er gemerkt, daß so etwas ansteckend war, und hatte sich vor sich selber gefürchtet und sich von ihnen zurückgezogen.

Das hatte aber nichts geholfen. Es war nur schlimmer geworden.

Denn jetzt, wo er keinen Verkehr mehr hatte, dachte er den lieben langen Tag überhaupt an nichts anderes. Er konnte tun, was er wollte – es kam ihm nicht mehr aus dem Sinn. Früher hatten ihn doch noch andere Dinge beschäftigt, er war doch nicht ganz in dem einen aufgegangen – aber jetzt? ...

Ach, es war ihm früher viel besser gegangen. Er nahm die Hände vom Gesicht, hob den Kopf und sah traurig über den Tisch, auf dem zu beiden Seiten des Schreibzeugs Björnsons und Ibsens Büsten aufgestellt waren. Wie sehr hatte er zum Beispiel nicht diese beiden geliebt! Wie manche frohe, festliche Stunde hatten sie ihm nicht verschafft – Stunden voll reiner, edler Begeisterung, in denen alles Unreine seinem Denken fern stand!

Er entsann sich wohl, was für herrliche Tage das gewesen waren. Björnsons, Ibsens und Drachmanns Gedichte hatten beständig auf dem Tisch gelegen, und stundenlang hatte er im Zimmer auf und ab gehen können und mit glühender Begeisterung die Verse dieser Dichter laut deklamiert – und was waren das für Stunden gewesen! Und bekam er das dann satt und kam zufälligerweise niemand zu ihm, dann hatte er kreuzfideler Laune irgendeinen anderen Kameraden aufgesucht – am liebsten einen, der ebenso faul war wie er und ebensoviel übrige Zeit hatte –, und dann hatte er sich dort aufs Sofa geworfen, um Tabak zu rauchen und Bier zu trinken und über alles mögliche zu plaudern ... Am liebsten übrigens über Weiber ... ja, im Grunde genommen, hatten sie nicht von vielem anderen gesprochen; aber sie hatten davon gesprochen, nicht als von etwas Begehrenswertem, sondern als von einer Versuchung, der man widerstehen sollte, leider aber nicht immer widerstand. Ja, das waren gemütliche, unterhaltende und belehrende Abende gewesen ...

Aber jetzt?! – ach, da lag und träumte er den ganzen Nachmittag über auf dem Sofa, von sinnlicher Begierde verzehrt ... und dazu immer Gewissensbisse, daß er nichts arbeitete und diese häßlichen Gedanken nicht los werden konnte.

Übrigens ... Gewissensbisse? – nein, die hatte er eigentlich nicht. Wären es doch nur wirkliche Gewissensbisse gewesen! Gewissensqualen! wie er sie jeden Abend hatte, wenn er wieder einmal nach einem verbummelten Tage im Bette lag, an die versäumten Pflichten dachte, an Gott und an seine armen, lieben Eltern, von denen er in die Stadt geschickt worden war, um etwas zu lernen, und die er schändlich betrog, indem er sie so das teure Geld zum Fenster hinauswerfen ließ! – Wären es nur solche Gewissensbisse gewesen! Denn die nahmen doch von ihm Besitz, hielten, so lange sie dauerten, die häßlichen, unreinen Gedanken fern, erfüllten ihn mit Reue und Zerknirschung und ließen ihn gute Vorsätze fassen. Hätte er diese Gewissensbisse den ganzen Tag über gehabt – vielleicht wäre er da gerettet worden. Aber die Gewissensbisse wurden nur am Abend zu wirklichen Qualen; am Tage war das Gewissen nur halbwach, das Bewußtsein, seine Pflicht versäumt zu haben, lastete nur wie ein dunkles, unbehagliches Gefühl auf ihm, das er nicht eigentlich auf etwas Bestimmtes bezog, und das nicht von ihm Besitz nahm und nicht die geilen Gedanken vertrieb, ihn nicht mit Reue und Zerknirschung erfüllte und keine guten Vorsätze reifen ließ, sondern ihn nur quälte, den lieben langen Tag langsam marterte, ihm alles, selbst das Geringste, verdarb und ihn nur noch unfähiger zur Arbeit machte..

O, diese widerliche, erschlaffende Marter ! Und die sollte anhalten Tag für Tag, vielleicht Jahr für Jahr. Und dabei ward es schlimmer von Tag zu Tag – nein, er hielt es nicht mehr aus. Wieder stützte er die Ellenbogen auf die Knie und verbarg das Gesicht in den Händen. Dann fuhr er aber plötzlich zusammen, hob den Kopf und sah wie geistesabwesend ins Leere. – Er mußte sich Reue und Zerknirschung verschaffen ... ordentliche Gewissensqualen, die ihn den ganzen Tag über beschäftigen, die geilen Gedanken vertreiben, ihn mit Reue und Zerknirschung erfüllen konnten. – Ja, das war das einzige, was ihn vielleicht retten konnte.

Die Hände auf den Knien, saß er da und starrte ins Leere; angsterfüllt hörte er die Schläge seines Herzens, während er den Entschluß in seinem Innern reifen fühlte. Einen Augenblick dachte er daran, den Entschluß zurückzudrängen, dann aber fuhr er mit einem Male auf und raste im Zimmer hin und her: Nein! Die Sünde, die Sünde, und die Dirne und den Sonnenschein! ... hinaus, nur hinaus aus dieser drückenden, schwülen Atmosphäre, in der er zu ersticken drohte! ... Donner und Blitz ! – und dann frische, gereinigte Luft, in der man atmen konnte! ... Fall und Erhebung! ... Ja, die Sünde, den Sonnenschein, die Dirne!

Dann sank er wieder aufs Sofa, blieb, eine Hand auf jedes seiner Knie gestützt, sitzen und starrte zu Boden. Das Blut sauste ihm in wilder Hast durch die Adern, er hörte nicht mehr ängstlich sein Herz klopfen, seine Phantasie hatte Fieber. –

... Die Dirne! ... die Dirne! – er sah sie vor sich, das große, dralle Mädchen von gestern Abend. Ruhig wanderte sie mit einem Manne die Hauptstraße entlang. In der Nähe des Parkes, wo es fast menschenleer war, gingen sie fest aneinander gepreßt; sie lehnte ihren Kopf an seine Schultern und sah mit großen, zärtlichen Augen zu ihm auf, – und er küßte sie wild und preßte die Hand, die er unter das aufgeknöpfte Leibchen gesteckt hatte, leidenschaftlich gegen ihre nackte Brust ...

Er sah das alles ganz deutlich. Er stand auf dem Rasen hinter dem Busch, an dem sie vorüber kamen, als sie sich küßten; ihre Gesichter waren nicht mehr als eine oder zwei Ellen von dem seinen entfernt.

Er stürzte hervor und entriß sie ihm –: sie war ja die Dirne, und er mußte ja sie haben ... Er riß das aufgeknöpfte Leibchen weg ... strotzend, fest wölbten sich die Brüste, blendend weiß ...

Das war aber noch nicht genug. Noch mehr weg! – und er riß ihr die Kleider vom Leibe, eines nach dem andern, während das Blut in seinen Adern siedete und ihm in den Ohren sauste. Bis sie dann in nackter, unnahbarer Majestät vor ihm lag ...

Dann wälzte er sich mit einem förmlichen Brüllen auf dem Sofa zurück, rollte sich zu einem Klumpen zusammen und stieß einen heiseren, röchelnden Schrei aus.

So blieb er eine Weile in dem halbdunklen Raume liegen und wand sich in unleidlicher Brunst.

Plötzlich fuhr er zusammen, sprang wieder empor und sah auf die Uhr. Du großer Gott, erst wenige Minuten nach fünf!

Nervös lief er in dem engen Raume auf und ab. Was sollte er nun anfangen, um die Zeit bis spät Abend totzuschlagen! Denn eher wagte er doch nicht, dorthin zu gehen. Ach, es war ja nicht auszuhalten ...

Wieder setzte er sich an den Tisch und versuchte Drachmann weiterzulesen. Nein, es ging nicht.

Er holte Ibsens und Björnsons Gedichte und las darin ... Nein, es war ihm nicht möglich, seine Gedanken zu sammeln. Endlich stand er auf, ging einige Male durchs Zimmer und überlegte, was in aller Welt er nur anfangen sollte. – Ja, das war's! – und er knipste mit den Fingern – er wollte einen Spaziergang machen, einen langen Spaziergang, und erst nachts zurückkommen!

Eben wollte er auf den Vorsaal gehen, um den Mantel zu holen, als es klopfte.

Ach so! ... Er wußte, wer es war ... natürlich dieser Henschen, an sich ein braver Bursche, der einzige Kamerad, der ihm geblieben war, weil er ernst war und nicht leichtfertig wie die anderen; aber weshalb in aller Welt mußte er gerade jetzt kommen! – Und verlegen setzte er sich wieder an den Tisch und tat, als ob er läse.

Henschen kam still herein, wie gewöhnlich, setzte sich und legte ein Buch auf den Tisch –: »Hast du das gelesen?«

Jarmann las auf dem Titelblatt: Eine Soirée dansante(von Gunnar Heiberg). – »Nein,« sagte er, während er in dem Buche blätterte und sah, daß es Verse waren.

»Das mußt du lesen!«

»So?«

»Ja. Die Unsittlichkeit, die in der letzten Zeit die Literatur der großen Kulturländer verseucht hat, fängt nun auch an, bei uns einzudringen. Dieses Buch legt davon Zeugnis ab. Es muß etwas dagegen getan werden!«

»Ist es gut?« fragte Jarmann.

»Es ist viel Schönes darin; aber es ist alles unsittlich.«

Jarmann kniff die Augen zusammen und starrte durch das Fenster auf die altmodischen kleinen Fenster des Hinterhauses; dann wandte er sich plötzlich zu Henschen um und sagte: »Es ist doch merkwürdig, wie schön das Unsittliche gemacht werden kann!«

»Ja, leider.«

»Nimm zum Beispiel das hier: – er zeigte auf die Verse in Drachmanns Buch und las:

Nichts ist Leben, was im Leben nicht fehlte:
Die Dirne hat ihren Sonnenschein, doch du nur ein Schloß!

– ist das nicht schön?«

Henschen fand nicht, daß das gerade so schön wäre.

Jarmann stutzte und warf einen forschenden Blick auf das Gesicht des Burschen. Es war ganz ruhig; nicht im geringsten begeistert, saß Henschen da und blickte weiter in das Buch hinein.

Jarmann warf ihm einen eigentümlich bösen, förmlich giftigen Blick zu, voller Verachtung und Mitleid, mit Mißgunst und Haß gepaart. Es kochte in ihm: er kapierte also nicht, daß das schön war, er fühlte also nichts bei diesen Zeilen, die ihn so sehr ergriffen hatten – fühlte also gar nicht wie er! – Natürlich nicht ... daß er das nur nicht früher schon bemerkt hatte! Dieser ernste, brave, fleißige Junge, der in der Schule immer seine Aufgaben konnte und beständig alle Unsittlichkeit so absolut verurteilte – es war ja sonnenklar: er hatte selber niemals das Bedürfnis gefühlt, etwas Törichtes zu tun, und konnte es daher auch bei anderen nicht verstehen ...

Und er starrte in einemfort in dieses ruhige, ernste, aber, wie es ihm jetzt schien, so geistlos vertrocknete Gesicht, und das Mitleid und die Verachtung, die Mißgunst und der Haß taten sich in ihm zu dem einzigen Gefühl leidenschaftlichen Widerwillens zusammen. Dann aber hielt er es nicht länger aus, dazusitzen und ihn anzusehen, er bekam förmlich Lust, ihn zu morden.

»Es ist spät,« sagte er nervös und stand auf. »Ich habe in der Stadt etwas zu besorgen; ich wollte gerade gehen, als du kamst.«

Henschen erklärte, er wolle auch wieder nach Hause gehen; er habe ihm nur das Buch zeigen wollen.

Sie gingen zusammen weg, und Jarmann war froh, als er den Burschen schon an der Haustüre los wurde. Er machte dann allein einen langen Spazierweg in der Umgegend und kehrte erst gegen 10 Uhr zurück.

Es war finster. Der Himmel war bewölkt, die Luft etwas rauh, aber die Straßen waren trocken. Etwa eine Stunde wanderte er umher, ganz ruhig, nicht im geringsten mehr fieberhaft erregt. Die Frauen, die ihm begegneten, betrachtete er schon mit ganz anderen Augen als früher, er war ihnen gleichsam näher auf den Leib gerückt; er würde sich gar nicht gewundert haben, wenn eine ihn angesprochen und aufgefordert hätte, mit ihr zu gehen. Er wußte zwar, daß das nicht geschehen würde, erwartete es aber trotzdem bei jedem Weibe, das ihm begegnete. Endlich schlenderte er in die innere Stadt hinein. Als er durch die schmalen Straßen des Vaterlands (eines Stadtteiles) ging, kam ihm in den Sinn, daß ja auch hier Dirnen wohnten: weshalb sollte er es also nicht ebensogut hier vollbringen? Er wollte es sich nicht selber eingestehen, aber er wurde ängstlich. Nein, er hatte sich nun einmal vorgenommen, daß es im Vika-Viertel geschehen sollte.

Er ging weiter, verlangsamte aber unwillkürlich seine Schritte, je weiter er kam. Und von der Karl-Johann-Straße aus ging er nicht etwa den geraden Weg über den Eidsvoldsplatz, sondern machte einen Umweg über die Universität und die Klingenbergstraße.

Auf dem kleinen dreieckigen Platze vor dem Eingange zum ersehnten Ziele blieb er stehen und überlegte –: da erstreckte sich finster die Hügelstraße, nur in »Napoleons Schloß« war Licht ... weiter rechts lag die schmale Schulstraße mit ihrer einsamen Gaslaterne, am anderen Ende neben der Polizeiwache – diese Straße sah noch am verlockendsten aus ...

Nein, er getraute sich nicht.

Und er ging nach der Westbahn hinunter und wieder zurück. Nicht bloß einmal, nein, zweimal – wie die Katze um den heißen Brei.

Als er dann zum dritten Male auf dem fatalen dreieckigen Platz stand, nahm er sich nervös zusammen –: Es mußte gehandelt werden; geschah es heute nicht, so ging ja morgen dieselbe Geschichte von vorne los! – und still und beklommen schlich er in die schmale Schulstraße mit ihren niedrigen einstöckigen Häusern und ihrer einsamen Gaslaterne neben der Polizeiwache. Die erleuchteten Fenster der Mädchen waren übrigens für ihn mehr als genug Gaslaternen. Sobald er jemand begegnete, suchte er sich immer in den finstersten Winkeln zu verstecken, so weit als möglich vom Schein der erleuchteten Fenster entfernt, und kehrte dem Kommenden stets den Rücken zu. War dann die Straße wieder leer, so schlich er vorsichtig an ein erleuchtetes Fenster heran, beugte sich vor, legte das Ohr ans Fenster und lauschte mit klopfendem Herzen und heiser röchelndem Atem – oder er versuchte, durch den schmalen Spalt zwischen dem Vorhang und dem Fensterrahmen hindurchzusehen. Wenn er dann aber mit zitternder Hand an das Fenster klopfen wollte – so verließ ihn der Mut.

So ging er von Fenster zu Fenster.

In einer Türe in der Zwischenstraße stand eine dicke, betrunkene Dirne und spähte über die Straße.

»Komm herein, Schatz!« sagte sie, als er eben vorüberschleichen wollte.

Er blieb stehen und überlegte einen Augenblick. Sie war häßlich wie die Nacht, aber daran dachte er nicht im geringsten. Wenn er sich nur getraute! Das Herz klopfte ihm zum Zerspringen, er hörte es schlagen und atmete mühsam. Und es klopfte heftiger und heftiger, je länger er überlegte ...

Da erfaßte ihn mit einem Male ein furchtbares Entsetzen, und er lief durch die schmalen Gassen so schnell, als ihn die Beine nur tragen konnten. Erst als er das ganze Quartier weit hinter sich hatte, ließ er im Laufen nach und begann allmählich wieder im Schritt zu gehen, aber er ging doch nervös schnell bis zu seiner Wohnung.

Als er auf sein Zimmer gekommen war, riß er sich die Kleider vom Leibe, vergrub sich hastig ins Bett und fing an, fieberhaft zu beten. Er dankte seinem Herrgott von Herzen dafür, daß er ihm die Kraft gegeben hatte, der Versuchung zu widerstehen, versprach, sich ihr nicht wieder auszusetzen, bat um Kraft, daß er morgen die häßlichen Gedanken in die Flucht schlagen und anfangen könne zu arbeiten, wie er es in der ersten Zeit seines Stadtaufenthaltes getan hatte. Als schließlich während des Gebetes eine milde Ruhe über ihn gekommen war, ergriff er das Gesangbuch, das wie gewöhnlich auf dem Tische neben dem Bette lag, sang ein Lied, einen Lobgesang auf den Herrn, und schlief dann leichten Herzens ein. –

Den ganzen nächsten Tag dachte er über seinen Ausflug vom vergangenen Abend nach, erzählte aber seinen Kameraden kein Wort davon; er schämte sich im Grunde seines Herzens vor sich selber. Daß er das hatte tun wollen! ... Ach, aber das sollte sich nicht wiederholen, nein, das sollte sich nicht wiederholen ... nie gehe ich wieder dorthin, ich tu' es nicht, ich tu' es nicht, wiederholte er in einem fort den ganzen Tag über vor sich selber.

Und doch – es war kaum zehn Uhr abends, da ging er schon links von der Klingenbergstraße aus über den dreieckigen Platz und schlich wieder in die Schulstraße.

In der Tür des letzten Hauses der Schulstraße stand ein Mädchen in weißer Nachtjacke und kurzem rotwollenem Unterrock und sah auf die Straße.

»Kann ich mit Ihnen hineingehen?« flüsterte er heiser, ohne sie anzusehen; er zitterte wie Espenlaub.

»Ja, komm nur, armer Junge!« sagte sie ruhig und ging voraus. Als sie in das niedrige Zimmer mit der eigentümlich schwülen Luft hineingekommen waren, schloß sie bedächtig die Tür ab und ging vor ihm in das kleine Hinterzimmer, wo eine kleine Nachtlampe zu Häupten des Bettes mit den weißen Vorhängen brannte.

Zitternd folgte er ihr ...

Er richtete sich zur Hälfte im Bette auf und sah verwirrt auf sie nieder. Sie lächelte und streichelte ihm die Wange. Und jetzt entdeckte er erst, daß sie sehr hübsch war.

»Teufel in Engelsgestalt«; murmelte er vor sich hin, fuhr auf, warf zwei Kronen auf den Tisch – lief nach der Tür und direkt nach Hause.

In seinem Zimmer zündete er nicht einmal die Lampe an, er riß sich nur die Kleider vom Leibe, stürzte ins Bett, vergrub das Gesicht im Kopfkissen und versuchte sofort zu schlafen. Aber das gelang nicht. Er wälzte sich hin und her und her und hin, aber es war unmöglich. Das Gewissen arbeitete in ihm, es ließ ihm keine Ruhe – was sollte er tun! Er konnte nicht beten, er war ja aus freien Stücken hingegangen und hatte es vorsätzlich getan ... »ich will! ich will!« hatte er gemurmelt wie ein Rasender, als er schließlich nach langem Kampfe mit sich selber davon gestürzt war, um seine Leidenschaft zu befriedigen ..., er hatte wirklich das Böse gewollt und durfte nicht gleich jetzt, wo es eben vollbracht war, vor Gott hintreten. – Aber er fand keinen Frieden. Er mußte beten, sonst, das fühlte er, würde er die ganze Nacht wach liegen. Wieder versuchte er es. Aber es ging nicht. Er sah nur immer wieder sich selber laufen, die Klingenbergstraße hinunter ... um die Ecke ... in die Schulstraße hinein ... durch die Haustür ... ins Zimmer –

Plötzlich sprang er aus dem Bett, zündete die Lampe an, blieb mitten im Zimmer, nur mit dem Hemde bekleidet, stehen und blickte verwirrt um sich. Endlich fiel sein Blick auf das Gesangbuch auf dem Tisch, er ergriff es, kroch damit wieder ins Bett, blätterte etwas darin und begann dann zu singen: »Jesus, meine Zuversicht«. Er versuchte es, sich in die Stimmung des Liedes zu versetzen; es gelang ihm nach und nach, seine Augen füllten sich mit Tränen, während er dort im Bette lag und sang, und als er zu Ende war, weinte er – ach, jetzt hatte er erst richtig erkannt, ein wie großer Sünder er war, jetzt fühlte er erst richtig den Drang nach Erlösung, und jetzt wollte er endlich mit der Umkehr Ernst machen, vom nächsten Tage an wollte er ein anderer Mensch werden. Und er betete, betete ernst und innig, Gott möge ihm Kraft verleihen, seinen Vorsatz durchzuführen, daß er einen besseren Lebenswandel führe und in Wahrheit ein Kind Gottes werde. Und er wiederholte sein Gebet immer inniger und inniger, betete und betete, wurde des Betens gar nicht müde und schlief endlich betend ein.

Schon am nächsten Morgen war er aber gar nicht mehr so entsetzt über seine Sünde. Er fühlte sich ja ungefähr wie sonst, und das, was er getan hatte, erschien ihm gar nicht mehr als ein so entscheidender Schritt. Im Grunde genommen, war es ja nicht anderes als was die meisten anderen Menschen tun. Früher hatte er nicht recht daran glauben können, aber jetzt mußte er ja daran glauben; denn schon die paar Male, die er dort gewesen war, waren ihm des öfteren brave Leute begegnet, die er kannte. Freilich waren sie allesamt älter als er, aber darauf kam es ja nicht an. Tatsache war, daß nicht nur die liederlichen Menschen dorthin gingen – und er war nicht schlimmer als die anderen. Natürlich war und blieb es trotzdem eine große Sünde, aber Herrgott ...

Er betete sein Morgengebet nicht mit derselben Andacht, mit der er gestern abend gebetet hatte, stand auf und eilte in die Schule. Aber der Unterricht ging an diesem Tage für ihn ganz verloren. Er saß nur auf der Schulbank, auf den Ellenbogen gestützt, die Hand am Kinn, und dachte nach. Und wie er so in dieser Haltung verharrte, kam ihm all das wieder ins Gedächtnis, was er von seinen Kameraden gehört hatte.

Mit solchen Gedanken war er den ganzen Vormittag beschäftigt, so lange er auf der Schulbank saß. Die ganze Zeit füllte er damit aus, sich mit sich selber abzufinden, und die Lehrer ertappten ihn in einem fort über seiner Unaufmerksamkeit. Er war sich dessen wohl bewußt, daß all diese Rechtfertigungen nur unehrliche und unnütze Versuche waren, sich selber Sand in die Augen zu streuen; trotzdem war es ihm aber eine Befriedigung, auf diese Weise alles heranzuziehen, was dafür sprach, daß er es nicht bei einem Male solle bewenden lassen. Denn das fühlte er, daß es doch nicht dabei bleiben werde.

Als der Abend kam, war er wieder dort, den nächsten Abend auch – und dann jeden Abend, sobald er nur das Geld dazu auftreiben konnte. Und als er dann später gelernt hatte, wie man es gratis haben konnte, verging kaum ein Tag, an dem er nicht bei einem Weibe war.

Anfangs kämpfte er noch dagegen an und bat Gott um Kraft zur Umkehr; nach und nach betete er aber seltener, und als er schließlich fühlte, daß davon nicht mehr die Rede sein konnte, aufzuhören, unterließ er das Beten ganz und gar – es wäre ja unter diesen Umständen doch nur Gotteslästerung gewesen – und gab sich völlig seiner Leidenschaft hin.


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