Hans Jäger
Kristiania Bohême
Hans Jäger

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XVI.

Einige Tage später, gegen 3 Uhr nachmittags, wanderte ich müde und einsam die Karljohannstraße hinauf, die Hände in den Taschen und den Rockkragen in die Höhe geschlagen. Es fiel dichter Schnee, es war aber ganz windstill und keineswegs kalt. Die großen weichen Schneeflocken sanken langsam und lautlos in dichter Fülle vor mir nieder, hüllten alles in einen feuchten, weißen Schleier und bedeckten meine Brust und meine Schultern mit einer dicken Schneehülle. Auf der Straße lag der frisch gefallene Schnee mehrere Zoll hoch; ich ging wie auf einem weichen Teppich. Die Straße war fast menschenleer; es war heute keine Musik.

Wie ich an der Universitätsuhr vorüberschlendere und aus alter Gewohnheit zu ihr hinaufblicke, ohne zu beachten, welche Zeit es ist, höre ich unmittelbar hinter mir auf dem weichen, frisch gefallenen Schnee Schritte und kehre mich unwillkürlich um.

Es war Gerda! – in Gesellschaft einer Freundin.

Sie lächelte. Ich fürchtete aber, sie zu genieren, und drehte mich wieder um.

Da gingen sie an mir vorbei, und hierbei wandte sich Gerda mir zu und sah mir kindlich-kokett lächelnd ins Gesicht – ganz wie in alten Tagen.

»Guten Tag,« sagte sie unbefangen und nickte mir zu.

»Guten Tag,« grüßte ich mit einem traurigen Blicke auf sie.

Dann gingen sie weiter ... sie und die andere ...

Ich dachte daran, umzukehren. Das war ja nur peinlich ...

Da wandte sie sich aber um und lachte mich wieder mit den herrlichen Augen und dem roten Munde an. Und dann brach sie wieder in all ihrer Kraft hervor, all meine unterdrückte Sehnsucht nach diesem sechzehnjährigen Weibe ... alle Erinnerungen wurden aufgefrischt ... Mein Herz klopfte: War das nur eine augenblickliche Laune? ... Oder konnte ich sie noch zurückgewinnen? ....

Ich entschloß mich, ihnen zu folgen. Sie schritten wieder wie gewöhnlich auf die Drammensstraße zu. Der Schnee fiel immer noch dicht; ich sah sie durch die großen weichen Schneeflocken hindurch wie durch einen weichen weißen Schleier; wir begegneten keinem Menschen.

Zuweilen kehrte sie sich lachend um, wandte sich dann zu ihrer Freundin und sagte etwas.

Plötzlich nahm sie ein Schreibheft aus der Tasche, warf es in die Höhe und fing es wieder auf. Das machte ihr Spaß, und sie fuhr damit fort. Einmal griff sie aber daneben, das Buch fiel in den Schnee, und als sie sich niederbeugte, um es aufzuheben und den Schnee abwischte, lachte sie laut auf und sah zu mir zurück. Als sie schließlich wieder einmal daneben griff und das Buch zum zweiten Male in den Schnee fiel, hatte sie keine Lust mehr, es wieder aufzuheben; sie ließ es liegen und ging weiter, kehrte sich aber beständig um, um zu sehen, ob ich es aufhob. Das tat ich natürlich, und als ich dann das Buch öffnete und darin zu lesen anfing, faßte sie die Freundin beim Arme, drückte sich dichter an sie heran und lachte, und dann sahen sie beide in einemfort zurück, während ich in dem Buche weiterlas. Es waren ganz fürchterlich schlechte norwegische Aufsätze über schrecklich schlecht gewählte Themata. Diese Aufsätze waren freilich nicht in meiner Schule gestellt und geschrieben.

Vor der Bank an der Ecke der Observatoriumsstraße blieben sie stehen, wischten mit den Händen den Schnee von dem Sitzbrett und setzten sich dann nieder und warteten. Als ich herankam, stand Gerda auf und stellte sich mir in den Weg. »Ich will mein Buch wieder haben,« sagte sie in befehlendem Tone.

»Nein, das will ich zur Erinnerung an Sie behalten.« Und ich versuchte in die Observatoriumsstraße einzubiegen, in der Hoffnung, daß sie mir allein folgen würde. Sie faßte mich aber beim Arme und hielt mich fest. »Nein, geben Sie es mir wieder her,« rief sie und versuchte es mir wegzunehmen.

Ich lachte und hob lachend das Buch mit der rechten Hand so hoch, wie ich konnte. Sie hing sich an meinen Arm und zog die Hand wieder herunter; wie sie aber das Buch nehmen wollte, nahm ich es rasch in die linke Hand und streckte nun diese in die Höhe. Da stürzte sie denn auf die andere Seite und hängte sich an den linken Arm.

»Geben Sie mir das Buch, geben Sie mir das Buch, wollen Sie mir es wohl gleich geben!« rief sie und holte die Hand von neuem herunter. Aber nein, das Buch kam wieder in die andere Hand und mit ihr wieder in die Höhe. So ging es mehrere Male, und sie rief immer eifriger: »Geben Sie mir das Buch, geben Sie mir das Buch, wollen Sie mir nun das Buch geben!« während sie an meinem Arme hing.

Schließlich wurde sie aber müde und setzte sich schmollend auf die Bank zurück. Ich blieb stehen und sah sie an.

»Darf ich es behalten?« fragte ich lachend.

Da nahm sie eine strenge Miene an und sagte: »Wollen Sie nun gefälligst hierherkommen und mir mein Buch geben?«

Ich machte ein ernstes Gesicht, ging auf sie zu, beugte das Knie und überreichte es ihr untertänigst.

Sie nahm es erst feierlich entgegen, sah dann die Freundin an, kicherte wie gekitzelt und blieb ebenso sitzen, verstohlen zu mir aufblickend. Als sie aufstanden, um weiterzugehen, bedachte mich Gerda mit einem koketten Lächeln.

Sie gingen schnell weiter, ich langsamer hinterdrein. Auf der nächsten Bank setzten sie sich wieder nieder, ich blieb davor stehen. »Na, Ihr habt ja viel Zeit!?« fragte ich.

»Ja freilich,« antwortete Gerda. Ihre Freundin lächelte nur verlegen.

»Ihr müßt aber doch nach Hause gehen und zu Mittag essen, wenn Ihr aus der Schule kommt.«

»Wir essen, wann wir wollen,« und sie warf flott den Kopf zurück.

Ich lächelte, und sie lächelte, und dann ging ich weiter.

Da stand sie aber auf und eilte an mir vorüber und nahm auf der nächsten Bank Platz. Ich blieb wieder vor ihnen stehen: »Sitzt Ihr schon wieder da?« sagte ich.

Sie lachten nur.

»Hier wollte ich mich natürlich auch setzen.«

»Bitte,« sagte Gerda, warf überlegen den Kopf zurück und zeigte auf den Platz neben sich. »Hier ist Platz genug.«

Dann setzte ich mich nieder und, sprach mit ihnen über alles Mögliche, während ich die Freundin zum Teufel wünschte. Schließlich kam es denn auch so weit, daß Gerda die Freundin nicht weiter begleiten wollte, und diese ging dann allein weiter, während ich mit Gerda wieder nach der Stadt zuging.

Es hatte aufgehört zu schneien. Ich schüttelte den Schnee von mir ab und begann dann, ihn von ihrem Mantel abzuwischen.

»Getrauen Sie sich denn jetzt, die Bekanntschaft mit mir zu erneuern?« fragte ich.

»Ach,« sagte sie, »ich habe so viel Unannehmlichkeiten davon, daß ich mit Ihnen zusammen gegangen bin, daß ich ebensogut damit fortfahren kann.« Und dann erzählte sie mir, daß man sie in der Schule jeden Tag in den Freistunden mit mir aufgezogen habe, daß sie zu Hause Tag für Tag zu hören bekäme, sie solle sich ja vor mir in acht nehmen, und daß die Schwester, sobald sie sich mit ihr erzürnte, immer damit drohte, zu sagen, daß sie wieder mit Hermann Eek spazieren gegangen wäre. »Nun will ich es aber gerade tun,« sagte sie schließlich.

»Mich zieht niemand mit Ihnen auf, und niemand sagt mir, ich solle nicht mit Ihnen gehen. Dies ist nicht der Grund, weswegen ich mich so sehr freue, mit Ihnen zusammen zu sein,« sagte ich traurig.

Sie sah mich an. »Ach, nun sollen Sie nicht so sein! – Warum gingen Sie denn auch in den Arbeiterverein und sagten das?«

»Was meinen Sie denn?«

»Daß Sie zwanzig Frauen haben wollten. Glauben Sie denn, daß es ein Spaß ist, »eine von den Zwanzigen« genannt zu werden?«

»Glauben Sie wirklich, daß ich das gesagt habe?«

»Ob ich das glaube? Ja, das glaube ich freilich; ich habe es selber in der »Abendpost« gelesen!«

»Halten Sie mich denn für verrückt?«

Sie sah mich naiv an: »Ich glaubte, Sie hätten es nur aus Spaß gesagt oder um die anderen zu ärgern.«

»Nein, was ich gesagt habe, war wirklich ernst; aber es war etwas ganz anderes.«

Sie ging einige Schritte weiter. Dann sagte sie, und es lag ein Vorwurf in dem Tonfall ihrer Worte: »Ach, daß Sie das sagen mußten!«

»Es war etwas, worüber ich die Leute zum Nachdenken bringen wollte.«

»Ach, Sie hätten das nicht sagen sollen.« Der Tonfall war ganz klagend.

Ich ergriff ihre Hand. »Nein,« sagte ich, »Sie können auch davon überzeugt sein, daß ich meinen Mund nicht aufgetan hätte, wenn ich gewußt hätte, daß solches Ärgernis daraus entstünde und daß Sie sich nicht mehr getrauen würden, mit mir zu gehen. Sie sollten wissen, was ich seit jenem Tage durchgemacht habe, was ich empfunden habe, wenn ich Sie quer über die Straße hinübergehen oder um eine Ecke biegen sah, sobald Sie meiner ansichtig wurden ... Ach, Gott sei Dank, daß die Tage nun vorüber sind.«

Wir waren wieder an die Ecke der Observatoriumsstraße gekommen. »Wollen wir nicht wieder hinabgehen? Der Weg ist so gemütlich. Wir sind ihn schon früher zusammen gegangen.«

Sie sah mich einen Augenblick an. »O ja,« sagte sie dann.

Und dann gingen wir langsam die einsame Straße zwischen den hohen Gartenzäunen hinab. Sie blickte, zu Boden, und ich sah sie an – und niemand sprach ein Wort.

Plötzlich, mitten in der Straße, trat sie auf einmal rasch vor mich hin, lehnte sich an meine Brust und legte den Kopf auf meine Schulter. »Ich bin so müde,« sagte sie, vor sich hinlächelnd. »Ich möchte jetzt schlafen,« und sie schloß die Augen fast ganz, so daß die langen schwarzen Augenwimpern sich scharf von der mattgoldenen Wange abhoben.

Ich legte leise den Arm um sie, so daß sie eine Stütze hatte, und fuhr fort, auf dieses junge Gesicht mit den geschlossenen Augen und dem Lächeln um den Mund hinabzublicken; mir war merkwürdig weich zumute, während ich leise den dicken schwarzen Zopf streichelte, der über meine Brust herabhing.

So gingen wir schweigend weiter.

Am Ende der Straße bogen wir links ab und schritten die Stakete vor den beiden Landhäusern entlang, die dort linker Hand liegen. Sie öffnete die Augen halb und sah zu den Fenstern der beiden Gartenhäuser empor. Es schienen aber keine Leute da zu sein, und sie ließ daher den Kopf ruhig dort liegen, wo er lag.

Schließlich mochte sie doch meinen, daß wir den Fenstern des gelben Hauses, das vorne an der Ecke lag, zu nahe gekommen wären, und sie blieb stehen, hob den Kopf von meiner Schulter und sah mich an.

Wir sahen uns einen Augenblick zärtlich in die Augen – wie nach einer Umarmung. Dann gingen wir ruhig weiter, geradeaus sehend, ohne ein Wort zu sprechen, nur froh darüber, daß wir nebeneinander herschreiten durften.

Wir gingen an dem gelben Hause vorüber bis zur nächsten Ecke. Dort bogen wir links ab. Als wir an einem Hause vorüberkamen, in dessen ersten Stock Klavier gespielt wurde, überfiel sie plötzlich eine Idee. »Ich will hineingehen,« sagte sie, »und sehen, wer da spielt.« Damit verschwand sie mit einem schelmischen Lächeln in der Haustür; ich folgte ihr. Fünf, sechs Stufen führten von dem Hausflur zu dem Treppenabsatz der ersten Etage hinauf. Dort stand sie, kokett vornübergebeugt, vor der Tür und las die Visitenkarten. Als ich die ersten paar Stufen hinanstieg, richtete sie sich auf und kehrte sich um.

»Ach, es ist nur Henrik Hermansen, der spielt!« sagte sie und sah mir kokett in die Augen.

Ich blieb mitten auf der Treppe stehen und sah sie an. Sie sagte kein Wort mehr, kam nur langsam zu mir herab, mir immer in die Augen sehend.

Ich streckte meine rechte Hand aus, und sie erfaßte sie und hielt sie fest, während sie auf dieselbe Stufe hinabstieg, auf der ich stand. Da blieb sie stehen, und dann legte sie sich mit ihrer ganzen Schwere langsam in meinen linken Arm und blieb mit geschlossenen Augen darin liegen. Ein schwaches sinnliches Lächeln umspielte ihren Mund. Ich beherrschte mich aber und küßte sie nur auf die Stirne: es durfte mit dieser Erotik nicht so rasch gehen, sie konnte mir das Ganze verderben. Sie hob die Augenwimpern und sah mich an. Es waren die zärtlichen, hingebungsvollen Augen, die ich so gut kannte – »du darfst,« sagten sie – und dann schlossen sie sich wieder.

Meine Glieder wurden seltsam weich. Das schwache sinnliche Lächeln umträumte noch ihren Mund, und ich sehnte, sehnte mich nach diesen roten Lippen. Aber ich wollte nicht, nein, ich wollte nicht. Und ich beugte mich wieder herab und küßte sie nur auf die mattweiße Stirn.

Da öffnete sie aber wieder die zärtlichen Augen, und sie ruhten eine Weile in den meinen. Es war, als zöge sie mich in sich hinein. Und da beugte ich mich wieder ganz langsam hinab. Auge in Auge, Mund gen Mund näherten sich unsere Gesichter, und ihre Augenwimpern sanken allmählich herab, während ihr Arm sich leise um meine Schultern legte. Unsere Lippen waren eben nahe daran, sich zu begegnen – da kam jemand, und wir fuhren auf und eilten in den Hausflur hinab und hinaus. Hand in Hand gingen wir langsam weiter, ohne ein Wort zu sprechen.

Mir war seltsam unangenehm zumute, es war, als ob ich rein körperlich des Kusses bedurfte, den ich erst hatte nehmen wollen, als es zu spät war ... Es war aber eine Erleichterung, ihre warme Hand zu halten; wenn sie nur unbekleidet gewesen wäre – der Handschuh ärgerte mich – im übrigen war ich froh, daß ich sie nicht geküßt hatte; das hätte eine schöne Geschichte gegeben, wenn wir nun wieder zusammen gesehen würden und die Mama von neuem mit ihrer Predigt heranrückte ... ach, wie sehnte ich mich aber nach diesen Lippen.

An der Ecke blieben wir stehen – ich dürfte sie nicht weiter begleiten, sagte sie – und sahen uns in die Augen.

»Also Adieu!« sagte ich schließlich und ergriff ihre Hand. »Wie süß Sie heute gewesen sind.« Sie lächelte kokett, und die Linie zwischen den vollen Lippen bildete einen wollüstigen Bogen.

»Gott«, sagte ich, »Ihre Lippen sind wie zum Küssen geschaffen.«

Da lachte sie und riß sich los – »Adieu!«

»Sehe ich Sie am Nachmittag?« rief ich ihr nach.

Sie überlegte eine Weile. »Nein,« sagte sie dann, »erst morgen; ich gehe heute nachmittag zur Tante,« und dann eilte sie weiter, während ich stehen blieb und ihr nachsah. Wie stolz sie sich in den zarten Hüften wiegte! Erst als sie vor der Haustür stand, kehrte sie sich um, nickte mir zu und ging ins Haus.

Und dann ging ich wieder in die Stadt hinein, voll neuer Hoffnungen, froher, als ich seit langer Zeit gewesen war.

Es war am Abend desselben Tages. Ich lag zu Hause auf meinem Sofa, rauchte und dachte an Gerda. Gegen zehn Uhr prallte wie gewöhnlich ein Schneeball gegen das Fenster. Ich stand aus, öffnete das Fenster und lehnte mich hinaus. Unten stand Jarmann.

»Guten Abend,« rief er zu mir herauf.

»Guten Abend.«

»Hast du etwas erlebt?«

»Nein – und du?«

»Nein.«

Und er blieb wie gewöhnlich eine Weile stehen und sah zu mir herauf, ohne ein Wort zu sprechen.

»Gute Nacht,« sagte er dann.

»Gute Nacht« – und still und traurig wanderte er im Mondschein weiter.

Ich blieb am Fenster liegen und sah ihm nach, bis er beinahe die nächste Straßenecke erreicht hatte.

Da rief ich: »Doch! Ich habe etwas erlebt; komm herauf, ich will dir's erzählen.«

Er kam zurück. Ich wickelte den Hausschlüssel in eine Zeitung und warf ihn hinunter. Jarmann kam herauf, und dann brauten wir uns einen Grog, zündeten ein Zigarre an, und ich erzählte ihm, was geschehen war.

»Sie ist doch verdammt süß,« sagte er, als ich fertig war, und seine Augen glänzten bei dem Gedanken daran, wie süß sie war. »Freilich« sagte ich, »nun haben wir wenigstens die Beste gerettet. Wenn nun auch noch die anderen nachkommen, dann ...!«

Und wir blieben bis tief in die Nacht hinein sitzen und entwarfen Pläne, wie wir auch die anderen wieder gewinnen könnten – wenn auch nicht gleich, so doch zum Herbst ... die Leute mußten doch einmal vergessen ... und dann würde es ja auch früher dunkel; die Tage waren jetzt so sehr lang ...

Als ich am Tage darauf zwischen zwölf und ein Uhr um die Ecke der Storthingstraße bog, kamen Gerda – und ihre Mutter gerade auf mich zu. Es mußte ihre Mutter sein, denn so vieles an ihr glich Gerda. Ich ging an ihnen vorüber, ohne zu grüßen, und spazierte, etwas unbehaglich berührt, auf die andere Seite der Straße hinüber.

Ob mich wohl die Mutter kannte? ... Ach, es kannten mich ja seit jener Affäre so ziemlich alle Leute ... Wie, wenn sie darauf verfiele, mir nachzulaufen und mich anzureden?

Plötzlich hörte ich hinter mir trippelnde Schritte. Blitzschnell kam mir der Gedanke: Das ist die Mutter.

Ich wandte mich um – da stand sie, eine mittelgroße Dame in den Fünfzigern, bürgerlich gekleidet, das graugesprenkelte Haar über die Schläfe gestrichen, ein nicht gerade hageres, doch abgehärmtes Gesicht mit großen, dunklen, etwas tiefliegenden Augen; sie mußten einmal schön gewesen sein – jetzt waren sie aber so müde und sahen so abgehärmt aus wie das Gesicht.

Sie sah mich einen Augenblick etwas verlegen an, dann sagte sie: »Darf ich fragen, ob ich die Ehre habe, mit Herrn Eek zu sprechen?«

Ich lüftete den Hut und grüßte zustimmend. »Ich wollte Ihnen sagen ...« fing sie an: dann erinnerte sie sich aber, daß sie sich noch nicht vorgestellt hatte, und sie fuhr fort; »Ich bin Fräulein Holms Mutter ... ich hörte, daß Sie mit meiner Tochter spazieren gehen ..., das wünsche ich nicht und ... ich hoffe ... daß Sie sich danach richten.«

Die letzten Worte wurden mit scharfer Betonung und ängstlich drohendem Nachdruck ausgesprochen. Es kam beinahe Glanz in die großen, schwarzen, abgehärmten Augen, und das Gesicht erhielt einen sublimen Ausdruck, wie bei einem Tiere, das seine Jungen verteidigt. Ich mußte an mein altes Wort von den Rädern am Wagen der Freiheit denken, die über die Herzen der Familienväter und Familienmütter hinweggehen.

Ich lüftete wieder den Hut. »Gnädige Frau,« sagte ich, »es wird mir ein Vergnügen sein, Ihrem Wunsche nachzukommen.«

Und ich verbeugte mich, setzte den Hut wieder auf und ging.

Zuerst hatte ich aber zu Gerda hinübergesehen, die auf der anderen Seite der Straße stand und den Auftritt beobachtet hatte. Sie lachte, als ich hinübersah, aber etwas unsicher, nicht auf die gewohnte unbefange Weise.

Höchst unbehaglich zumute, begab ich mich nach dem Grand Hotel ... der Teufel auch, daß das passieren mußte!

Mittags zur Musikzeit spähte ich vergebens nach Gerda aus. Sie war nicht da ...

Ich strich den ganzen Nachmittag auf Karljohann und in den Nebenstraßen umher, auf der Drammensstraße und in der Nähe ihrer Wohnung: von Gerda keine Spur. Dann ging ich entmutigt nach Hause und legte mich wieder auf mein Sofa, um wie früher zur Decke hinaufzustarren: es war vorbei; sie getraute sich's nicht mehr.

Am Abend kam Jarmann schon gegen acht Uhr. Ich lag wie gewöhnlich auf dem Sofa.

»Es ist vorbei,« sagte ich, als er den Kopf zur Tür hereinsteckte.

»Nein?!« Er sah aus, als wenn ihm ein Unglück zugestoßen wäre.

»Leider.«

Er setzte sich in den Schaukelstuhl, und ich erzählte ihm, wie alles vor sich gegangen war. Als ich meine Erzählung beendet hatte, blieb ich auf dem Sofa ihm gegenüber sitzen, Gerdas Bild in der Hand – das alte Bild mit dem Burschen, der die Nadel nicht einfädeln kann, und den lachenden jungen Mädchen. Ich starrte Gerdas Gesicht an; wahrscheinlich muß ich sehr elegisch dreingesehen haben; denn wie ich wieder aufblicke, sitzt Jarmann da, reibt sich die Hände und lächelt unter Tränen: »Nein, wie hübsch das ist!« sagt er, (daß ich sie so lieb hatte, meinte er).

Ich sah ihn, traurig lächelnd, an.

»Nein, hübsch ist das wahrhaftig nicht. Nun habe ich das letzte Surrogat verloren.«

Er sah mich fragend an.

»Ja, du verstehst die Situation noch nicht ganz,« sagte ich. »Du kennst mein Vorleben nicht, ich habe dir ja niemals davon erzählt.«

»Nein ...«

Ich sah einen Augenblick vor mich hin. Dann sagte ich: »Na, wir haben ja sowieso heute nichts zu tun. Da kann ich dir's ja erzählen.«

Und ich nahm aus der Schreibmappe einen Haufen alter Manuskripte und las ihm Folgendes vor:


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