Hans Jäger
Kristiania Bohême
Hans Jäger

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XXVlI.

Ich legte das Manuskript weg und dachte, während ich auf dem Sofa liegen blieb, über das nach, was ich dann in den letzten zwei, drei Jahren erlebt hatte.

Jarmann hatte ganz still dagesessen, ohne ein Wort zu sprechen, und nur auf das gehört, was ich vorlas. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Das war freilich eine ganz eigentümliche Art und Weise, Liberaler zu werden.«

»Ja, es ist überhaupt eine seltsame Entwicklung – das ist Romantik, moderne Romantik ...«

»Du!« sagte er und sah mich fast neidisch an, »ich möchte wünschen, auch eine solche romantische Entwicklung durchgemacht zu haben.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, sei froh, daß du das nicht nötig hast. Ein Leben in Unmittelbarkeit, und sei es auch noch so arm – es ist doch tausendmal besser als solch ein romantisches Totendasein. Denn siehst du: Wohl endet eine solche romantische Entwicklung schließlich im Modernen, aber – da endet sie auch. Unsere Reflexion wird schließlich modern, unser Fühlen aber niemals – und dann kommt man doch niemals über das Totendasein hinaus. – Was hat es mir genützt, daß mir schließlich die Idee des modernen Lebens klar wurde?! Ich konnte mich ja doch nicht in eine energische Arbeit für Freiheit und Fortschritt hineinstürzen; denn hatte ich auch Arbeitskraft genug – so stand mir doch keine Begeisterung zu Gebote, um sie in Bewegung zu setzen. Mein Vermögen zur Unmittelbarkeit, zur Begeisterung war ja weg – und deshalb ist es gekommen, wie es kam: ich brachte noch ein paar Jahre hin und sah mir die Dinge an, ohne irgend etwas zu tun. Bis ich dann im vorigen Jahre darauf verfiel, dieses Experiment mit Lily zu veranstalten, das mich dann auf die »Schule« brachte. Dann beruhigte ich mich gleichsam bei dem Gedanken, den Rest meines Lebens mit dieser Lehrtätigkeit hinzubringen, die mir interessant genug zu sein schien und die mir außerdem die Befriedigung gewährte, daß sie ein Teil der großen Arbeit zur Schaffung solcher Gesellschaftszustände war, unter denen das Leben der Individuen so reich wird, daß eine romantische Entwicklung wie die meine sich völlig ausschließt, und die Leute davor bewahrt bleiben, auf diese Weise zugrunde zu gehen. Diese Lehrtätigkeit wurde mir ein Surrogat für das eigentliche Leben, und ich beruhigte mich um so mehr hierbei, als die starke Erinnerung an Liebe, die der Verkehr mit Gerda mir verschaffte, wenigstens einige Fülle, einige Wärme in mein leeres kaltes Leben brachte. Kaum aber habe ich mich bei diesem ärmlichen Surrogat beruhigt, dann kommen sie auch schon und nehmen es mir weg. – Und es gibt nicht mehr Surrogate ... das war das letzte ... ich wenigstens kann kein neues finden. – Nein, das ist wahrhaftig kein Vergnügen.«

»Nein ...«

Jarmann blieb, die Hände auf den Lehnen des Schaukelstuhles, ruhig sitzen und starrte ins Leere. Eine Weile sprachen wir kein Wort. Dann durchfuhr mich ein Frostschauer: »O nein!« sagte ich und gähnte, »es ist auch spät geworden, gleich drei Uhr. Das beste ist wohl, daß man zu Bette geht.«

Er zog sich an. Ich ließ ihn zur Haustür hinaus und dann legte ich mich ins Bett.

Eine Woche später, in der Mitte des Monats Mai, fuhr Jarmann zu seinen Eltern nach Hause, um dort die Sommerferien zuzubringen. Er war seit dem Jahre, bevor er Student wurde, nicht bei den Seinen gewesen. Ich lebte inzwischen mein einsames Leben weiter.


Anfangs Juni machte ich eines Tages kurz vor neun Uhr meinen gewöhnlichen kleinen Morgenspaziergang, um die Mädchen in die Schule gehen zu sehen. Auf der Karljohannstraße begegnete ich einer ganzen Menge von ihnen. Wie ich an der Universitätsuhr vorüberging, erblickte ich plötzlich auf der anderen Seite der Straße Gerda, die in Begleitung ihres Vaters mir entgegenkam. Bald darauf trennte sie sich von ihm und ging quer über die Straße auf mich zu. Ich kehrte um und schritt ganz langsam, zum Vater hinüberblickend, vor ihr her. Der aber spazierte ruhig weiter und blickte geradeaus; entweder hatte er mich nicht gesehen, oder er kannte mich nicht. Als ich an die Ecke der Universitätsstraße gekommen war, war Gerda unmittelbar hinter mir, und ich hörte an den Schritten, daß sie in die Straße einbog. Da ließ ich Vater Vater sein und sah mich nach ihr um, während ich langsam über die Straße ging, um ihr auf dem andern Trottoire zu folgen.

Sie sah sich nach mir um. Was sollte das aber heißen: sie blickte ja ganz ängstlich drein? ... Nun erschrak sie, fuhr zusammen und sah mich in einer Weise an, daß ich merkte, irgendwie bestünde eine Gefahr für mich, und zur Seite sprang. – Ich war so sehr mit ihr beschäftigt gewesen, daß ich das Herannahen eines Wagens nicht bemerkt hatte und in Gefahr gewesen war, überfahren zu werden. –

Sie ging weiter und ich hinterdrein. Bei der Turnhalle blieb sie stehen und überlegte einen Augenblick; dann bog sie resolut um die nächste Straßenecke, anstatt geradeaus nach der Schule zu gehen.

Ich folgte ihr beharrlich. Wir gingen durch den großen Park und in den kleinen. Dort fand ich sie auf einer Bank in der Hauptallee neben einem zehn- bis elfjährigen Mädchen sitzen. Sie tat, als läse sie eifrig in einem Buche. Je näher ich aber kam, um so mehr näherte sich das Buch ihrem Gesicht, und schließlich, als ich unmittelbar neben ihr war, stak die Nase völlig im Buche. Dann aber lachte sie mich plötzlich hinter dem Buche schelmisch an.

Das kleine Mädchen neben ihr genierte mich, ich wollte Gerda allein haben. Ich wartete daher etwas oberhalb der Bank und sah sie an.

Endlich stand sie auf und ging, sich kokett in den Hüften wiegend, durch die kleinen Seitengänge die künstlich abgezirkelten Blumenbeete entlang bis in die äußerste Ecke des Parkes. Dort blieb sie, leicht vornübergebeugt, stehen und zeichnete etwas mit dem Sonnenschirm in den feinen Sand. Als ich dorthinkam, sah ich, daß sie meinen Namen in den Sand geschrieben hatte, setzte mich auf die unmittelbar danebenstehende Bank und schrieb mit großen Buchstaben »Gerda«. Dann stellte ich mich einige Schritte weiter auf und sah sie an. Sie ging zu der Bank, setzte sich auf den Platz, auf dem ich gesessen hatte, bemerkte lächelnd ihren Namen, lachte mir zu und – verwischte dann den Namen wieder mit dem Fuße. Darauf stand sie auf und ging in die runde Laube am Ende des Parks und setzte sich auf die eine Ecke der halbkreisförmigen Bank, die dort steht. Ich konnte sie von draußen durch das dichte Laubwert erkennen.

Ich folgte ihr wieder, setzte mich ihr gerade gegenüber auf die andere Ecke der Bank und sah sie an. Sie starrte zu Boden, und eine Zeitlang sprach keines von uns ein Wort.

»Gerda!« sagte ich schließlich, »soll es wirklich aus sein? Sollen wir wirklich nie wieder zusammenkommen?«

Sie antwortete nicht, und starrte weiter vor sich hin.

»Können Sie nicht zu bestimmten Stunden und an bestimmten Orten spazieren gehen und mir sagen, wann und wo?« fragte ich dann. Ich erhielt aber keine Antwort, und sie hob die Augen nicht vom Boden auf. Da stand ich auf, ging langsam zu ihr hinüber, stellte mich unmittelbar neben sie und sah auf ihren Kopf hinab. »Gerda!« sagte ich, »eine Antwort könnten Sie mir doch wenigstens geben; hier sieht und hört uns ja niemand, hier können Sie ja reden. Sagen Sie mir, daß es nicht aus sein soll ..., daß Sie wie früher mit mir zusammenkommen wollen!« ...

Sie blieb in der gleichen Stellung unbeweglich sitzen – kein Wort, keine Bewegung. – Ich wartete geduldig.

Dann stand sie schließlich ganz langsam auf und sah mich an wie ein scheues Reh, dem man zu nahe kommt; tat dann erst langsam einen Schritt vorwärts.. dann ganz langsam noch einen – und schwapp war sie aus der Laube heraus und eilte, so schnell sie laufen konnte, zwischen den grünen Rasenflächen unter den Bäumen des Parkes davon, ohne sich umzusehen.

Und ich stand, ganz verblüfft, im Eingang der Laube allein und starrte ihr mit offenem Munde nach ...bis sie hinter den Büschen bei der Pförtnerwohnung verschwunden war. Dann schüttelte ich den Kopf und wanderte langsam wieder in die innere Stadt. –

Einige Wochen später habe ich sie noch einmal wiedergesehen – ebenfalls auf einem Morgenspaziergang vor neun Uhr und wieder, als ich gerade an der Universitätsuhr vorüberschritt. Gerda kam von der Drammensstraße her und ging über die Karljohannstraße, um in die Friedrichstraße einzubiegen – sie hatte in der letzten Zeit diesen Weg gewählt, um mir nicht zu begegnen. Neben ihr trippelte ein kleines Mädchen; sie trugen beide Schulbücher unterm Arm. Wie sie eben bei der Bibliothek um die Ecke biegen wollte, gewahrte mich Gerda in der Nähe der Uhr. Sie blieb plötzlich stehen, starrte einen Augenblick wie ein aufgescheuchter Vogel zu mir hinüber – machte dann auf einmal kehrt und stürzte über den Schloßhügel davon. Ihre kleine Begleiterin blieb einen Augenblick allein stehen, sah verwundert erst ihr nach, dann zu mir hinüber – und fing dann auch an wie erschreckt davonzulaufen ...

Ich ging ruhig weiter. Da ich Gerda oben auf dem Schloßhügel links in den Park hineinverschwinden sah, folgte ich ihr in der Hoffnung, sie wieder, wie das letztemal, im kleinen Park zu finden. Ich suchte aber vergebens den ganzen Park ab, den kleinen wie den großen – sie war und blieb verschwunden.

Es war im Herbst, eine Woche, nachdem ich vom Lande zurückgekehrt war. Wie ich in dem herrlichen Septemberwetter zur Mittagszeit auf der Karljohannstraße spazieren gehe, begegne ich Jarmann, der gerade vom Dampfschiff kommt und zu Ingebret gehen will, um zu Mittag zu essen. Er wollte jetzt anfangen, Jura zu studieren, sagte er. Zu dem Zwecke hatte er von zu Hause 500 Kronen angewiesen erhalten; er hatte also vorläufig Geld genug in der Tasche.

Während wir bei Ingebret zusammensaßen, erzählte er mir Verschiedenes von seinem Sommeraufenthalt daheim: Er hätte sich fürchterlich gelangweilt und daher, beständig in der Umgegend Fußtouren unternommen. Meistens sei er zu den Sennhütten hinaufgestiegen, wo die Sennerinnen sehr liebenswürdig gewesen seien. Dabei falle ihm übrigens eine ganz spaßige Geschichte ein. Er sei einmal gerade von einem solchen Ausflug zurückgekehrt und habe mit Mutter und Tante in der Stube gesessen. Da habe ihn die Mutter gefragt, wie es ihm gegangen sei. Ganz gut, habe er gesagt und dann ihr und der Tante erzählt, wie er erst in die und die Sennhütte gekommen sei und dort saure Milch zu Abend gegessen habe und die Nacht über bei der Sennerin habe schlafen dürfen ... Weiter sei er nicht gekommen, denn Mutter und Tante seien da entsetzt aufgefahren: »Aber Junge, was in aller Welt sagst du da?« hätte die Mutter gesagt, und die Tante hätte geäußert: »Der Junge ist ja verrückt geworden.« »Nein,« habe er geantwortet, »wißt ihr denn das nicht: man kann ja mit einem Weibe nicht bekannt werden, wenn man nicht geschlechtlichen Verkehr mit ihr hat« ...

Nun war die Reihe an mir, zu glauben, der Bursche wäre verrückt geworden. Ich legte Gabel und Messer auf den Teller und starrte ihm mit unverhohlenem Erstaunen ins Gesicht.

Sein blasses sonnverbranntes Gesicht färbte sich purpurrot: »Na ja,« sagte er nervös, »glotz mich nun deswegen nicht so an. Wenn ich darüber nachdenke, begreife ich recht wohl, daß es eine Dummheit war. Ich denke aber zurzeit nicht mehr, wenn ich das überhaupt je getan habe, ich habe mir das vollständig abgewöhnt – daher kommt's, daß ich plötzlich solche Dummheiten vorbringen kann.«

Ich schüttelte den Kopf: »Aber weißt du was; es hat doch alles seine Grenzen!«

Er zuckte nur die Achseln, und dann aßen wir weiter und sprachen von anderen Dingen.

– – – Etwa einen Monat später saß Jarmann bei mir auf seinem alten Platz im Schaukelstuhl und schaukelte hin und her; ich lag auf dem Sofa und starrte zur Decke hinauf. Er hatte, gleich als er kam, nach einigen gleichgültigen Dingen gefragt – später hatten wir aber keinen Ton mehr geredet. Schließlich schloß ich die Augen und blieb liegen, als ob ich schliefe. Er starrte mich gute fünf Minuten lang still an, stand dann vorsichtig auf, warf mir einen schmerzlichen, verletzten Blick zu und schlich auf den Zehen aus dem Zimmer.

Meine Augen waren nicht ganz geschlossen. Ich sah alles.

Von diesem Tage an kam er nicht mehr in meine Wohnung.


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