Hans Jäger
Kristiania Bohême
Hans Jäger

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXXIII.

Um neun Uhr am nächsten Morgen saß Jarmann auf dem Bettrand und zog sich langsam die Unterbeinkleider an. Als er damit fertig war, blieb er, die Hände auf die Kniee gestützt, vornübergebeugt sitzen und sah ins Leere ...

... Es war ein herrliches Gefühl: das ganze Zimmer, alles um ihn herum hatte etwas Unwirkliches, gleichsam Frauenhaftes an sich ... genau so wie »am Tage darauf«, wenn man keinen Kater hat und nur mit zarten, ruhenden Nerven aufwacht ...

Welche Ruhe und Stille! ... Die Dinge vermochten sich ihm nicht aufzudrängen; er konnte sie aber scharf und ruhig wahrnehmen; die Konturen waren förmlich scharf.

... Nein, heute konnte gewiß nichts auf ihn einwirken ...

Er dachte an den Morgen des vierten Ostertages, an dem es geschehen sollte – nein, das bereitete ihm keine Unruhe. Es war, als ginge es ihn gar nichts an; er hatte getan, was er mit der Sache zu tun hatte; nun hatte er nur die Dinge ihren eigenen Gang gehen zu lassen. Die Mine war fertig, die Lunte angezündet. War die Lunte verbrannt, dann sprang die Mine ganz von selber. Damit hatte er nichts mehr zu tun ... Im Grunde genommen übrigens doch ganz merkwürdig!

Ob der Anfall der letzten Nacht nicht – doch sich wiederholen würde'

Nein, das würde gewiß nicht geschehen. O nein! ...

Übrigens konnte er ja alle Brücken abbrechen und sich den Rückzug abschneiden. Ja, das konnte im Grunde genommen auch ganz amüsant sein! Dann hatte er bis dahin etwas zu tun.

Ja, das wollte er tun.

Er stand langsam auf und kleidete sich in Muße an. Nachdem er dann seinen Kaffee getrunken und eine Pfeife geraucht hatte, ging er aus.

Draußen war herrlicher Sonnenschein; es war Frühlingswetter.

Jarmann spazierte über die Straße und begab sich in den Kaufmannsladen an der Ecke.

Der Kommis stand nahe der Tür hinter dem Ladentisch; der Kaufmann selbst stand etwas weiter hinten, über den Tisch gebeugt, und studierte seine Kladde.

Jarmann wandte sich an den Kommis, indem er sich in nonchalanter Haltung mit der einen Hand auf den Ladentisch stützte. »Ich möchte etwas Wein und Kognak haben,« sagte er. »Würden Sie vielleicht so freundlich sein, es über die Straße zu Herrn Kadett Eek zu schicken. – Sie wissen, wo er wohnt?«

»Jawohl. Was soll es sein?«

»Ich möchte drei Flaschen Sherry haben – aber vom besten.«

Der Kommis beugte sich über den Tisch und schrieb. Der Kaufmann sah von der Kladde auf und warf Jarmann etliche mißtrauische Blicke zu. Jarmann schaute mit etwas blasiertem Gesichtsausdruck dem Kaufmann ruhig in die Augen, aber gleichsam ohne ihn eigentlich zu beachten, und der Kaufmann sah unwillkürlich weg und wieder in die Kladde.

»Und drei Flaschen Portwein,« fuhr Jarmann fort, immer noch den Kaufmann fixierend. Der Kommis schrieb. Der Kaufmann sah wieder mit mißtrauischem Blicke auf; vor Jarmanns ruhigem Millionärgesicht schlug er aber die Augen nieder und studierte seine Kladde weiter.

»Und dann eine Flasche Kognak,« sagte Jarmann endlich, immer noch den Kaufmann mit ruhigem, sicherem Blick musternd.

Der Kommis schrieb und sah dann auf: »Sonst nichts weiter?«

Jarmann wandte sich nach dem Kommis um, zog müde die Augenbrauen in die Höhe und überlegte. »Nein, danke. Ach ja,« sagte er dann, »Sie können auch einige Apfelsinen beifügen. Und dann einige Rosinen und Mandeln.«

Der Kommis schrieb.

»Das macht wieviel?«

»Neunzehn Kronen fünfzig.«

»Und dann bin ich wohl noch etwas schuldig ...«

»Ja, vier Kronen siebzig; macht zusammen vierundzwanzig Kronen zwanzig.«

»Ja, wollen Sie dann so freundlich sein, mir am vierten Ostertage die Rechnung zu schicken.«

Während er dies mit dem Kommis verhandelte, hatte der Kaufmann ihn wiederum mißtrauisch beobachtet; aber Jarmanns sicheres Auftreten, die Nähe des vierten Ostertages und außerdem die Uniform hatten ihn schließlich völlig beruhigt. Er grüßte verbindlichst, als Jarmann ging. Als Jarmann draußen war, lachte er in seinem Herzen laut auf. Es hatte ihn die ganze Zeit über gefreut, daß er diese Miene anzunehmen vermocht hatte; sonst konnte er so etwas nicht; heute aber gelang ihm alles derart. Es war doch zu amüsant gewesen: Ätsch, das geschah dem ekelhaften Burschen recht, der sich so fürchtete zu kreditieren, nicht auf feste Preise hielt und so die betrog, die nicht wußten, was die Waren anderwärts kosteten ...

Jarmann ging lächelnd weiter. Er suchte alle seine Gläubiger auf. Zuerst den Schneider, dann den Schuhmacher, den Weißwarenhändler und den Handschuhmacher. Überall fragte er, wieviel er noch schuldig war, und bat, ihm am vierten Ostertage die Rechnung zu schicken.

Als er vom Handschuhmacher kam, berechnete er, wieviel er im ganzen schuldete. Es war eine reine Bagatelle, lumpige drei- bis vierhundert Kronen. Es war im Grunde genommen allzu lächerlich wenig!

Hatte er denn nicht sonst noch Schulden? Ja richtig, den Buchhändler hatte er vergessen. Ihm schuldete er aber auch nicht mehr als sechzig, siebzig Kronen. O, hätte er ihm zehn-, hundert-, tausendmal mehr geschuldet; das hätte die Bestie verdient ... Einmal hatte er daran gedacht, ihn zu bezahlen. Dann hatte er ja aber Hermann Eek mit Ernst Fröhlich verglichen ... Er sah ihn in seinem kleinen, ungemütlichen, auf den Hof hinausgehenden Kontor stehen, das kleine, widerliche, kahlköpfige Männchen, und zu Hermann Eek mit seinem süßlichen Lächeln und seiner ekelhaft höflichen Eunuchenstimme sagen: »Sie müssen doch begreifen, daß ich es abschlagen müßte, wenn Ernst Fröhlich bei mir ein Buch verlegen wollte.« – »Wenn es nun aber ein gutes Buch wäre?« hatte Hermann Eek geantwortet. – »Nein, auch dann möchte ich mit solchen Leuten nichts zu tun haben.«

Jarmann biß die Zähne zusammen. Und solche Leute durften Buchhändler sein. Solchen Leuten sollten die Hosen heruntergezogen und ein paar hinten drauf gegeben werden, und dann sollte man sie aus der Stadt hinausstoßen! –

He! Er hätte diesen Buchhändler bezahlen sollen, der den censor morum der Schriftsteller spielen wollte!

Jarmann trat in die Buchhandlung ein. Er biß die Zähne zusammen; da stand ja der Mann selber und sprach mit einem Herrn. Diese ekelhafte Eunuchenstimme! ...

Der Gehilfe hatte schon längere Zeit vor Jarmann gestanden und darauf gewartet, daß er etwas verlangen sollte. Jarmann hatte aber gar nicht auf ihn geachtet, sondern nur mit haßerfüllten Blicken den Buchhändler angestarrt.

Schließlich fragte der Gehilfe nach seinem Begehren.

Jarmann sah den Gehilfen mit liebenswürdig-herablassendem Lächeln an und sagte, sich entschuldigend: »Na, ich vergesse ja ganz, was mich hergeführt hat ... ich möchte gerne wissen, wieviel ich schuldig bin.«

Es zeigte sich, daß er fünfundsechzig Kronen und einige Öre schuldig war.

»Wollen Sie so freundlich sein, mir die Rechnung am vierten Ostertag zu schicken? Ich will nämlich alles begleichen, bevor ich abreise.«

Vom Buchhändler aus schlenderte Jarmann zu Hjalmar und Henrik.

»Na, ist der Wein und der Kognak gekommen?« fragte er beim Eintreten. Ja, es war alles da.

Hjalmar und Henrik saßen auf dem Sofa und rauchten Pfeife. Auf einem Stuhl an dem einen Fenster saß Student Hals und las eine Zeitung.

Jarmann blieb einen Augenblick an der Tür stehen und betrachtete Hals, einen großen, steifen Menschen mit rotem Haar und magerem, hartem Gesicht. Hals hatte seinerzeit zur Bühne gehen und Charakterrollen spielen wollen, war aber nicht zum Debutieren gekommen und statt dessen Schauspiel- und Opernkritiker geworden; nebenher war er noch Lehrer. Jarmann mochte ihn nicht leiden, da er von nichts anderem als von Theater, Musik und seinen Schulangelegenheiten sprach. Hals war ganz zufällig mit den Menschen bekannt geworden, mit denen Jarmann verkehrte.

Jarmann ärgerte sich darüber, ihn vorzufinden. Er warf ihm einen wütenden Blick zu, setzte sich neben ihn, beugte sich vor, mit den Händen auf die Kniee gestützt, und glotzte ihn an. Das steife affektierte Gesicht irritierte ihn heute noch mehr als sonst.

»Du, Hals!« sagte er schließlich, als er ihn genug angeglotzt zu haben meinte, »wollen wir nicht über das Theater sprechen?«

Hals hob den Kopf und sah ihn eine Sekunde ärgerlich an, las aber dann wieder ruhig weiter; er war schon daran gewöhnt, von Jarmann aufgezogen zu werden.

»Oder über Oper und Musik? Wie?« begann Jarmann von neuem, nachdem er ihn wieder eine Weile angeglotzt hatte.

»Laß mich doch meine Zeitung in Ruhe lesen,« sagte Hals ärgerlich. »Hihihi! Du bist nicht gerade unterhaltsam. Was sagst du zu Frau Olefine Moe? ... oder zu Bentzon Gülich? ... oder zu Hendrikson? ... oder – hihihi – na, wie heißen sie denn nun gleich ...«

Hals faltete wütend die Zeitung zusammen, stand auf und nahm seinen Hut.

Jarmann stieß ein wieherndes Gelächter aus. »Hat man dir diesen Monat in der Schule dein Gehalt ausgezahlt? Hat es viele Anstrengungen gekostet? Glaubst du, daß du es das nächstemal bekommst?«

Hals ging, ohne ihn anzusehen, nach der Tür.

»Das könntest du uns doch wirklich erzählen« – sagte er leise in höhnisch schmeichelndem Tone, als Hals die Tür öffnete. Hals antwortete aber nicht, warf die Tür zu und ging.

»Hahaha, hahaha!« lachte Jarmann hinter ihm drein.

Henrik und Hjalmar hatten auf dem Sofa gesessen und alles mit angehört, ohne ein Wort zu sprechen.

»Du behandelst ihn aber auch zu schlecht,« sagte Henrik, als Hals verschwunden war.

»Was will er denn aber auch hier? Er hat doch mit uns nichts zu schaffen. Hier ist doch weder Schule noch Theater. – Nein, pfui Teufel« – er stand auf und machte eine feierliche Handbewegung – »Henrik! Ich vermache dir meinen Haß gegen Hals. – Und nun wollen wir ein Glas Wein trinken.«

Eine Flasche Wein wurde entkorkt; Jarmann füllte sein Glas, setzte sich ans Fenster und sah eine Weile hinaus. Er trommelte mit den Fingern gegen den Fensterpfosten und nippte ab und zu am Glase.

Die anderen sahen ihn an und sprachen kein Wort.

»Ich habe heute eine verflucht schlechte Nacht gehabt,« sagte er endlich und sah sie ernst an. Dann lächelte er aber wieder: »Aber jetzt geht mir's wieder ganz gut.« Er rieb sich die Hände: »Prosit!«

Sie stießen mit ihm an, und er erzählte ihnen, wie er die Nacht verbracht und was er dann heute unternommen hatte.

Und sie saßen auf dem Sofa, rauchten ihre Pfeifen und hörten ihm zu, ohne ein Wort zu sagen.

Als er dann eben dabei war, seinen Gefühlen gegenüber dem Buchhändler freien Lauf zu lassen, hörte er plötzlich mitten im Satze auf: »Hei, da haben wir Laden,« rief er, und in sein Gesicht schlich sich ein boshafter Ausdruck. Er hatte zufällig aus dem Fenster gesehen. Auf der anderen Seite der Straße kam der »Träger der Literatur« mit seiner ungeheuer langen, dünnen, schäbigen Figur, mit der Habichtsnase und dem Bocksbart, und ging mit eingedrückten Knieen über das Trottoir, die Hosen waren zu kurz, der Frühjahrsüberzieher abgeschabt, der Hals ganz gelb. Er trug einen altmodischen Plüschhut auf dem Kopfe, einen Stock in der knochigen rechten Hand, ein Pack Bücher unter dem Arm. Laden war ein Vetter Hjalmars und Henriks und besuchte sie zuweilen, besonders wenn er eine Ahnung davon hatte, daß bei ihnen ein stärkendes Getränk zu haben wäre; zuweilen brachte er wohl auch selber eine Flasche mit.

Er war auch einer von denen, die Jarmann nicht leiden mochte.

»Er wird doch nicht etwa heraufkommen,« sagte Hjalmar und ging an das Fenster.

»Ich weiß noch nicht, was er tun wird,« sagte Jarmann; er verfolgte Laden mit seinen Augen und hatte große Lust, ihm einen ordentlichen Schabernack zu spielen. Da blickte Laden mit seinen großen, kreisrunden Augen auf, in denen das ganze Weiße zu sehen war, sah zum Fenster hinauf und nickte.

Hjalmar fuhr vom Fenster zurück: »Verflucht auch!«

Jarmann aber hob lächelnd das Glas, nickte zu Laden hinunter und trank ihm zu.

Da glänzten die großen, kreisrunden Augen vor Freude, und Laden schritt über die Straße herüber.

»Nein, wie konntest du nur das tun?« sagte Hjalmar ärgerlich. »Nun kommt er ja herauf.«

»Fällt uns gar nicht ein, ihn hereinzulassen,« sagte Jarmann, eilte zur Tür und schloß ab. Dann blieb er mitten im Zimmer stehen und wartete.

Kurze Zeit darauf klopfte es mit den bekannten, harten Knöcheln, die keinem anderen angehören konnten, an die Türe, und Laden klinkte und wollte ins Zimmer.

Pause.

Dann hörte man draußen Ladens Stimme: »Hjalmar!«

Niemand antwortete.

»Ich habe es wohl gesehen, daß du zu Hause bist.«

Keine Antwort.

Dann hörten sie ihn draußen klingeln und in Henriks Zimmer gehen, das gleich nebenan lag; und dann klopfte es an die Zwischentür.

Immer noch keine Antwort.

Dann rief Laden: »Du, Henrik, kann ich nicht ein paar Worte mit dir sprechen?«

Henrik stand auf und war einen Augenblick unschlüssig, was er tun sollte.

»Nein, geh' nicht hinein,« sagte Jarmann laut.

»Was sagt der Rotkopf?« rief Laden wütend.

»Hahaha,« lachte Jarmann und warf sich in den Schaukelstuhl. »Ich muß doch zu ihm hineingehen, sonst werden wir ihn niemals los,« sagte Henrik leise.

Jarmann fuhr lachend auf. »Wart' ein Weilchen,« sagte er. Dann eilte er hinter das Sofa, wo alle Flaschen standen, stellte die ganze Batterie, sieben Flaschen, auf den Tisch, so daß Laden sie sehen mußte, wenn die Tür aufgemacht wurde, lief dann lachend zur Tür und öffnete sie sperrangelweit.

»Bitte, nun kannst du hineingehen,« sagte er dann zu Henrik und schob ihn ins Nebenzimmer.

Ladens Augen glänzten, als er die Batterie auf dem Tische bemerkte, und er machte einen schwachen Versuch, sich in das Zimmer hineinzudrängen. Jarmann warf ihm aber die Tür vor der Nase zu und schloß sie ab.

Dann lachte er mit seinem kurzen Galopplachen »Hahaha, hahaha, hahaha,« und warf sich wieder in den Schaukelstuhl.

Ladens Stimme war mehrere Minuten lang im Nebenzimmer zu hören. Dann wurde Jarmann ungeduldig: »Sieh nun zu, daß du den Kerl bald hinausbringst,« rief er Henrik zu.

»Wenn ich doch den verfluchten Rotkopf beim Kragen nehmen könnte,« fauchte Laden.

»Hahaha, hahaha, hahaha.« Jarmann krümmte sich vor Lachen im Lehnstuhl. Bald darauf wurde er wieder ungeduldig: »Nein, nun ist es genug,« schrie er. »Setz' ihn jetzt vor die Tür.«

»Komm herein, du verfluchter Rotkopf, dann will ich dir deinen Rücken zerbleuen.« Laden war so wütend geworden, daß er Jarmann dutzte.

Jarmann wollte sterben vor Lachen. Dann kam ihm plötzlich eine Idee. Er goß etwas Wein in ein Glas. – »Nicht voll,« sagte er, »sonst könnte er darauf verfallen, davon zu trinken« – und dann ging er an die Türe, öffnete sie vorsichtig und setzte das Glas in das andere Zimmer hinein auf den Fußboden, während er lächelnd zu Laden aufblickte und sagte: »Wollen Sie etwas Wein haben, Laden?« Dann fuhr er wieder zurück und schloß die Tür hinter sich.

Laden wurde rasend: »Wenn wir uns das nächstemal begegnen, sollen Sie mit meinem guten Stock Bekanntschaft machen, Sie verdammter, ungezogener Bengel.«

»Hahaha, hahaha, hahaha,« lachte Jarmann und warf sich wieder in den Schaukelstuhl. Dann stand er wieder auf, ging trällernd im Zimmer umher und dachte an eine neue Bosheit.

Auf der Kommode lag ein eiserner Briefbeschwerer in Form eines nackten Weibes, das auf dem Rücken liegt, die Hände unter den Kopf hält und die Beine in die Höhe streckt. Jarmann ergriff diesen Briefbeschwerer lachend, schloß die Tür wieder auf und setzte die Figur neben das Glas auf den Boden: »Wollen Sie ein Weib, Laden?« rief er und lachte Laden mit wieherndem Gelächter ins Gesicht. Frauenzimmer waren Ladens wundester Punkt: »Glaubst du, ich bin ein Schwein?« pflegte er mit geilem, geniertem Lachen zu sagen, wenn man ihn fragte, ob er, der nun schon über ein Menschenalter alt geworden war, nicht bald anfangen wollte, mit Frauen zu verkehren.

Als Jarmann die Tür wieder geschlossen hatte, sah Laden Henrik wütend an. »Das sind ja nette Leute, mit denen du verkehrst,« sagte er. »Es wird lange dauern, bis ich meinen Fuß wieder hierher setze.« Damit warf er die Tür hinter sich zu und ging.

»Hahaha, hahaha, hahaha,« lachte Jarmann hinter ihm drein.

Hjalmar hatte allein auf dem Sofa gesessen und das Ganze mit angehört und angesehen, ohne ein Wort zu sprechen. Er hatte auch nicht viel für Laden übrig, außerdem dachte er jetzt nicht weiter an ihn. Er beschäftigte sich nur damit, ob diese ganz sinnlose Bosheit gegenüber denen, die er nicht leiden konnte, ein Zeichen dafür wäre, daß Jarmann sich wirklich das Leben nehmen wollte. Es sah bedenklich aus – so wie heute war er doch noch nie gewesen.

Als Henrik wieder in das Zimmer kam, schüttelte er den Kopf: »Nein, heute bist du doch allzu schlimm mit ihm verfahren.«

»Nein,« sagte Jarmann kurz, »wenn so etwas leben will, soll es ihm nicht besser gehen. Jetzt will ich aber nicht mehr an ihn denken. Ich hoffe, daß das mein Abschied von ihm sein wird. Nun eine neue Flasche.«

Eine neue Flasche wurde entkorkt, Jarmann nahm im Lehnstuhl neben dem Tisch den beiden andern gegenüber Platz, und die drei jungen Leute unterhielten sich eine Zeitlang über einige neue Damenbekanntschaften, die sie in den letzten Tagen gemacht hatten.

Jarmann sprach am meisten.

Morgen sollten sie also zu Fräulein Rabe, bei der sie auch die Fräulein Falsen treffen würden, und übermorgen wollten sie mit diesen drei Damen auf Henriks Zimmer frühstücken. Das jüngste Fräulein Falsen wollte Jarmann in seine Gewalt bekommen; er hatte sich in den Kopf gesetzt, ihre Tugend zu pflücken, bevor er ginge. Er könnte ja nun also zweimal mit ihr zusammen sein. Das genügte, um die Übergabe ihrer Tugend vorzubereiten. Daran könnte er nicht zweifeln nach den Resultaten seines ersten Auftretens ihr gegenüber, die er schon gestern Abend gesehen hätte.

Henrik kam mit einigen Einwänden. Die Frauenzimmer zeigten sich oft sehr standhaft, wenn es zu einem gewissen Punkt käme. Jarmann aber schüttelte nun den Kopf. Nein, er wäre seiner Sache ganz sicher, es werde und es müsse gehen.

Hjalmar rauchte seine Pfeife, ohne ein Wort zu sprechen. Er hörte nur Jarmann zu, sah ihn an und dachte darüber nach, ob das wirklich ein Mann sein könnte, der im Begriff stand, sich zu erschießen. Er kam zu dem Resultat, daß das nicht recht zu glauben sei. Nach einiger Zeit ging er weg, er hatte etwas in der Stadt zu besorgen.

Jarmann und Henrik blieben allein zurück. Die Unterhaltung stockte.

Jarmann lehnte sich in den Stuhl zurück und betrachtete das altertümliche Tischbein mit den vier Armen, die in Löwenklauen ausliefen. Er starrte in einem fort darauf – und vergaß schließlich, wo er war ...

... Er stand wieder als Knabe in dem Gartenzimmer des Direktors. Der grüne Schein von den herabgelassenen Jalousien fiel auf die weichen Möbel und gab Fräulein Bambergs Teint einen Mondschein farbigen Schimmer, wie sie mitten in der Stube saß in den Schaukelstuhl zurückgelehnt, die Füße auf den gestickten Fußschemel, und sich langsam auf- und niederschaukelte, mit den Augen blinzelnd und durch die langen, schwarzen Wimpern verstohlen zu ihm aufblickend.

Er starrte sie an wie eine Erscheinung. Das lässige, sinnliche Lächeln umträumte noch ihre vollen Lippen, und sie gab ihm wieder den unbestimmten Wink, von dem er nicht sicher war, ob er ihn verstehen dürfte ... Ja, er wagte es. O, er wollte ihr alles erzählen, all seinen Kummer und all seinen Schmerz; und sie würde ihn verstehen und ihn lieben. Und er würde sie wieder lieben. Und sie würde ihn fühlen lassen, daß die Liebe das Höchste, das Einzige auf Erden wäre, und er würde zu arbeiten anfangen, um sich eine Stellung zu schaffen, damit er dieses höchste, einzige Glück fortgesetzt genießen könnte. Und sie würde dasselbe tun. Sie würden sich beide eine selbständige Stellung schaffen und sich frei und unabhängig so lange lieben, bis die Liebe von selber ihre Wege ginge, wie sie von selber gekommen war, und von einer neuen, anderen, ganz verschiedenen Liebe zu einem neuen, anderen, ganz verschiedenen Weibe abgelöst würde, das auch eine freie Stellung hätte und sich lieben lassen könnte, ohne zur Belohnung Versorgung und Abhängigkeit auf Lebenszeit zu verlangen ... Und so weiter und so weiter. O, alle diese unendlich verschiedene, immer gleich selige Liebe, die das Leben erfüllen sollte! Ja, dann konnte er Dichter werden. Dann wollte er der ganzen Welt von seinem reichen Glück erzählen, er wollte sich nicht eher zufrieden geben, als bis das Weib, das er liebte, vor seinen inneren Augen ganz klar dastand, so daß er ihr Bild leibhaftig zu Papier bringen und die ganze Welt es bewundern lassen konnte – ja, es bewundern: jedes Weib war bewunderungswürdig, wenn man es nur ganz zu sehen bekam.

Ein seliger Glaube an das Leben durchströmte ihn, während er auf diese schaukelnde, betörende Gestell mit ihrem sinnlich lockenden Lächeln starrte. Aber er vergaß ja ganz zu handeln; da winkte sie ja wieder und deutlicher – er stürzte auf sie los.

Wieder aber hörte er die Schritte des Direktors auf dem Korridor und er wußte nicht, wie es kam, aber wieder ergriff ihn dieses merkwürdige Entsetzen, und er mußte umkehren und fliehen.

Und wieder hörte er das spöttische Gelächter des Weibes hinter sich drein. Es verfolgte ihn, während er um das Haus herumlief und auf sein Zimmer eilte, und es klang in seinen Ohren weiter, während er in seinem Bette lag, das Gesicht in die Kissen vergrub und weinte, weil sie sich niemals finden würden ...

– – – Plötzlich stieß Jarmann so heftig mit dem Fuße gegen das Tischbein, daß alle Flaschen tanzten, und starrte dann in schlaffer Raserei auf die vier Löwenklauen, ganz mechanisch, als ob das Tischbein der Feind wäre.

Henrik stand vom Sofa auf, schritt auf Jarmann zu und fuhr ihm mit der flachen Hand zärtlich durch das Haar nach der Stirne. Jarmann durchfuhr ein nervöser Schauer, dann richtete er sich still auf und sah Henrik an: »Es ist nichts,« sagte er ruhig, »jetzt ist es vorüber.«

Und dann leerte er sein Glas, zog sich an und ging ...

Er suchte seinen Freund Woll auf.

Ob er mit ihm bei Ingebret zu Mittag essen wolle?

Ja.

Unterwegs erzählte Jarmann die Erlebnisse seiner letzten Nacht. Woll sagte nichts und hörte nur zu.

Das Mittagbrot wurde schweigend eingenommen. Wieder herrschte dieses herrliche, verständnisvolle Schweigen, das eigentlich das war, was sie immer zusammengehalten hatte.

Auf dem Heimweg gingen sie in einen Waffenladen und besichtigten Revolver. Jarmann wählte einen schönen, großen Revolver für fünfundzwanzig Kronen aus und erhielt ihn nebst fünfundzwanzig Patronen ohne Schwierigkeit auf Kredit.

»Ich denke, der wird es tun,« sagte Woll, als sie den Laden verließen.

»Das meine ich auch,« antwortete Jarmann. Dies war ihre einzige Unterhaltung, bis sie zu Woll kamen. Dort kochten sie sich Kaffee und verdösten ein paar Stunden in traumartiger Stimmung. Dann kam Jarmann plötzlich auf die Idee, mich aufzusuchen.

Ich war immer noch krank und lag im Bett. Ich las Zolas »Les Rougons«, als er ins Zimmer kam. Es begann bereits zu dämmern.

Er stellte sich an das Fußende des Bettes und sah mir ein paar Minuten lang starr ins Gesicht.

»Nun sollst du einen guten Schluß zu deinem Buche bekommen,« sagte er.

Und der wäre?!

»Er drückte los!«

»An den habe ich ja schon lange gedacht, ich habe ihn aber wieder aufgegeben; ich glaube nicht recht daran.«

»Der Schluß ist aber richtig,« sagte er leidenschaftlich. »Ich habe es satt ... ich mag nicht mehr ... ich bin des Ganzen überdrüssig ... Es ist alles ein verdammter Quark ... Ich gehe meiner Wege.«

»Wann denn?«

»Bald!«

»Willst du nicht warten, bis du mit der Kriegsschule fertig bist?«

»Nein.« Es entstand eine kleine Pause. Dann sagte er: »Ich begreife übrigens im Grunde genommen nicht, daß du noch weiter Lust hast ...«

»Ach? – Ja, ich werde mich noch eine Weile herumtreiben und mir die Geschichte ansehen! Wer weiß? Vielleicht kann es doch noch einiges Vergnügen machen.«

»Nein, es ist alles Dreck. Ich habe keine Lust mehr, mir das anzusehen.«

Neue Pause.

Dann sagte ich: »Das ist mir aber unangenehm. Ich hatte mir gedacht, daß du an meinem Buche mitarbeiten solltest. Speziell ein paar Skizzen aus dem Jahre, in dem wir uns beinahe gar nicht gesehen haben ...«

Er zuckte die Achseln.

»Auch einige aus früherer Zeit – wenn du dich daran erinnern könntest. Das wäre wirklich sehr gut.«

Er zuckte wieder die Achseln: »Ich würde doch keine Zeit dazu finden. Jetzt würde auf der Kriegsschule das Examen kommen, und dann müßte ich exerzieren und im Herbst in Garnison liegen. In der Zeit würde aus der Arbeit doch nichts werden, und dann – wovon sollte ich denn leben? Nein, ich gehe lieber gleich meiner Wege.«

»Du kannst ja aber doch nicht wissen, ob nicht doch etwas aus deiner Schriftstellerlaufbahn werden könnte?«

Er lächelte schlapp: »Selbst wenn etwas daraus würde, etwas Ordentliches sicherlich nicht; es würde mir doch keine Stellung verschaffen. Und bei meiner Energie, mich zusammenzunehmen, um mir auf reguläre Weise eine Stellung zu verschaffen ... nur um zu warten und zu sehen, ob es vielleicht doch ein »Vergnügen« machen könnte, wie du sagst« – er lachte – »nein, dazu habe ich wahrhaft keine Lust. Um so mehr, als ich gar nicht an das Vergnügen glaube. Nein, ich gehe lieber gleich meiner Wege.«

Ich maß seinen Worten weiter keinen Glauben bei. Auf jeden Fall wollte ich ihn nicht näher ausfragen. Ich wollte nicht, daß der Umstand, daß er sich so gleichsam von vornherein verpflichtete, es zu tun, als Motiv für die Tat eine Rolle spielen sollte, wenn es zum Treffen kam – und ich sah gleichgültig ins Leere, als ob ich an etwas anderes dächte.

»Ja richtig,« sagte ich nach einer Pause. »Du bist ja gestern abend mit Hjalmar bei Falsens gewesen. Wie habt ihr euch denn amüsiert?« Jarmann sah mich erst mit einem merkwürdig bitteren Blick an. Dann sagte er: »Ach ja, es war ganz gemütlich,« setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und dachte eine Weile nach. Dann sagte er plötzlich: »Es war übrigens wirklich bei Falsens gestern ganz gemütlich. Wir haben gut gegessen und bekamen Wein zur Tafel und Champagner zum Dessert. Und dann tanzten wir. Und schließlich bekamen wir Kaffe und Curaçao und plauderten zusammen. Ich saß mit dem jüngsten Fräulein Falsen allein am Fenster, sie auf einem Stuhl und ich nonchalant auf dem Fensterbrett. Wir sprachen über Verschiedenes, und sie erzählte mir unter anderem, daß sie im Grunde genommen das Leben satt hätte. Das Leben sei nichts wert, sagte sie. Ich sah von der Seite zu ihr hinab. »Ach, Lebensüberdruß,« sagte ich, »nichts anderes. Der ist nicht schwer zu kurieren.«

»Wie denn?«

»Ja, sehen Sie, Fräulein, wenn Sie lebensüberdrüssig sind, so kommt das daher, daß Ihnen etwas fehlt.«

»Und das wäre?«

»Das, was Ihnen fehlt, ist nichts anderes als – können Sie raten, was?«

»Nein.«

»Ein Mann.«

Sie sah mich an.

»Ist es vielleicht nicht so?« lachte ich.

Sie schlug die Augen nieder und dachte etwas nach. Dann sah sie zu mir auf und lachte ebenfalls: »Ja,« sagte sie.

»Da können Sie sehen. Es ist ja die einfachste Sache von der Welt. Sie brauchen nur zu mir zu kommen. Dann werden Sie sofort kuriert werden.«

Sie fuhr erschreckt auf: »Sind Sie verrückt?«

Ich lächelte ruhig: »Nein, liebes Fräulein. Das ist ja die einfachste und natürlichste Sache von der Welt.«

Sie sah mich unsicher forschend an: »Wie meinen Sie das?«

»Na,« sagte ich nonchalant, »Sie meinen, das geht nicht an. Aber das tut nichts, Sie können ja hineinkommen, ohne gesehen zu werden.«

»Ach, Sie sind toll.« Sie lachte halb, halb war sie zornig.

»Nein, Fräulein, es ist mein voller Ernst.«

Sie bedachte sich etwas. Dann sagte sie ruhig: »Das Schlimmste wäre es ja nicht, gesehen zu werden.«

»Na, Ihnen ist bange wegen der Folgen. A bah, das brauchen Sie nicht zu sein. Wissen Sie nicht, daß wir Blitzableiter haben?«

»Blitzableiter? Nein. Was ist denn das?«

»Das ist etwas, Fräulein, das vor den Folgen bewahrt.«

Sie antwortete nicht, aber ich sprach von den Blitzableitern weiter, und wie dumm es wäre, daß die Leute sie nicht mehr benutzten. Anfangs hörte sie mit niedergeschlagenen Augen zu; als sie sich aber dann daran gewöhnt hatte, sah sie auf und sprach selber mit. Schließlich erzählte sie mir, ihre Freundinnen wären auch darüber einig, daß die jungen Damen heutzutage ein jämmerliches Dasein leben müßten, und ich bat sie, sie nur alle zu mir zu schicken.

Sie lachte: »Ja, ja,« sagte ich. »Kommen wenigstens Sie selber. Dann werden Sie schon kuriert werden.«

»Das find ja ziemlich realistische Mittel, die Sie vorschlagen,« rief Fräulein Rabe von dem Tisch herüber, an dem die anderen saßen: sie hatte gewiß gelauscht.

»Ja, Fräulein, ich bin Realist,« antwortete ich.

Und dann setzte ich mich mit Fräulein Falsen zu den anderen, und wir sprachen über verschiedene gleichgültige Dinge. Sie sah mich aber die ganze Zeit über ernst an, bis wir gingen.– – –

Nachdem Jarmann seine Erzählung beendet hatte, starrte er eine Weile ins Leere.

Ich lachte: »Nein, du bist doch wirklich keck,« sagte ich: »Wie oft bist du denn vorher mit ihr zusammen gewesen?«

»Ach, ich habe einige Male mit ihr getanzt. Das war aber eigentlich das erstemal, daß ich mit ihr gesprochen habe.«

»Wann willst du sie denn expedieren?«

»Das muß natürlich bald geschehen, wenn es überhaupt geschehen soll.«

Jarmann sah wieder ernst vor sich hin.

Ich brachte das Gespräch auf ein anderes Thema: »Du,« sagte ich: »Du sollst übrigens die Geschichte nicht allzu vielen erzählen; das wird nicht gerade angenehm für sie sein.«

Diese Worte irritierten ihn augenscheinlich: »Ich erzähle es nur meinen Freunden,« sagte er brüsk.

»Ja, ja! Was aber mehr denn zwei wissen ist kein Geheimnis mehr.«

Jarmann sah mich an: »Wenn du nun ein Verhältnis zu einer Dame hättest, würdest du es dann niemand erzählen?«

»Ich würde das Bedürfnis haben, es einem Menschen zu erzählen.«

»Und wer ist der eine?«

Er sah mich an, als ob er wünschte und erwartete, daß er dieser eine wäre. Ich schüttelte aber den Kopf. »Nein,« sagte ich, »ich würde es keinem von denen, die ich jetzt kenne, anvertrauen.«

Jarmann saß eine Weile stumm da. Dann sagte er: »Du hast deine Freunde gewiß nicht lieb.«

»Nein, eigentlich nicht, ich bin nun einmal leider so, ich kann nun einmal niemand liebhaben, außer wenn ich wirklich mit ihm zusammenlebe, mit ihm ein Leben mit gemeinsamen Interessen, gemeinsamen Plänen und gemeinsamen Hoffnungen führe, in derselben Sphäre, unter denselben Menschen. Und jetzt lebe ich ja gar nicht, habe kein Interesse mehr, keine Pläne, keine Hoffnungen: deshalb kann ich niemand liebhaben. So bin ich.«

Er hatte mir, während ich sprach, starr ins Gesicht gesehen. Nun sah er weg und versank in Gedanken. Nach einiger Zeit sagte er: »Ich liebe meine Freunde!«

Es klang wie ein Vorwurf.

Ich zuckte die Achseln: »Ja, du bist nicht wie ich ... und außerdem lebst du mit deinen Freunden zusammen.«

Neue Pause.

Dann sagte er: »Ich habe dich auch lieb.«

»Ich weiß es,« sagte ich und zuckte wieder die Achseln.

Er wartete eine Weile, daß ich noch etwas sagen sollte, und als ich nichts sagte, fuhr er fort: »Ich möchte wünschen, daß du mich auch gern hättest.«

Ich wurde gerührt. »Ja, Herrgott,« sagte ich, »das möchte ich ja selber auch sehr gern. Aber ich bin ja krank, geistig krank, physisch eingetrocknet – ich habe nichts lieb.«

Er sah vor sich hin. »Nein, nein.« sagte, er, »ich kann dir ja nichts sein. Du hast mich ja gewissermaßen zu dem gemacht, der ich bin, und es ist daher verständlich, daß ich dich gern habe, dir aber ist es nur eine Zerstreuung gewesen.«

»Nein, einmal haben wir wirklich zusammengelebt, und da warst du mir etwas mehr.«

Er hörte nicht auf meine Worte und starrte nur ins Leere, in bittere Gedanken versunken. –

Es war also doch wirklich wahr, daß Helmer und Henrik ihm immer gesagt hatten – daß ich ein kalter Egoist wäre. Er war heute mit warmem Herzen zu mir gekommen, hatte mir alles anvertrauen wollen, was er in der letzten Zeit gelitten hatte, seinen letzten Kampf und Sieg in vergangener Nacht ... hatte von mir Abschied nehmen wollen wie von keinem anderen – und da hatte ich nicht darauf hören wollen, hatte kalt ein anderes Thema angeschlagen und von etwas anderem gesprochen, sobald ich merkte, daß er darauf hinauswollte. Ich glaubte natürlich an das Ganze nicht ... und außerdem kümmerte ich mich ja nicht im geringsten um ihn ... ach, ich hatte kein Herz ... daß er das noch nicht früher entdeckt hatte; es war ja sonnenklar gewesen! ... Hatte ich ihn nicht erst an mich gezogen, indem ich beständig wie aus seinem eigenen Herzen heraus sprach, und dann – als er mich schätzen gelernt hatte, weil wir beide gleich dachten und gleich fühlten, dieselbe Sehnsucht und denselben Willen hatten, dann war ich seiner überdrüssig geworden, und hatte ihn von mir gestoßen ... Ich hatte mit ihm gespielt; während er sich mir rückhaltlos hingegeben hatte. – Und nicht nur das ... nein, jetzt erinnerte er sich: immer hatte ich, wenn er froh und begeistert über etwas gesprochen hatte, das Ganze zerpflückt und ihm die Begeisterung genommen ... So war es auch zuletzt noch mit dieser armen Skizze gewesen. Er war so froh darüber gewesen, daß der Wille und die Luft zum Leben wieder in ihm lebendig geworden waren. – Und dann hatte ich sie kalt aufgenommen und nur bemerkt, das Publikum werde sagen: »Es ist nichts weiter? ...« Und von diesem Tage an hatte der unwiderrufliche Entschluß in ihm zu reifen begonnen. – Es war freilich ganz richtig bemerkt: warum hatte ich aber selber keine Sympathie für sie an den Tag gelegt? Die Skizze war doch ein Stück seines Lebens, und hätte ich ihn gern gehabt, so wäre ich persönlich davon ergriffen worden – und mehr hatte er nicht verlangt, nein, ich hatte ihn nicht gern ...und begriff ihn nicht ...und trotzdem hatte er mich immer gern gehabt und hatte es mir selbst heute gesagt. Und was hatte ich geantwortet! –: »Ich wüßte es! ...« Das war doch zu arg! – Gut, ich hatte ihn also nicht gerne – dann sollte ich auch nichts von ihm erfahren; er wollte diese letzten Tage seines Lebens nicht offen vor mich hinlegen, wie er es sich gedacht hatte, und er wollte mir nicht Lebewohl sagen – O, ich hätte wissen sollen, daß er in wenigen Tagen nicht mehr war ... und ich hätte wissen sollen, was er mir zu sagen hatte – ich hätte schon gesagt, daß ich ihn gern hätte, und wenn es nur aus dem Grunde gewesen wäre, um den Stoff für die letzten Seiten meines Buches zu erhalten ... Im Grunde genommen war es aber gut so, wie es war! Jetzt sollte ich den Stoff nun nicht bekommen, ich verdiente ihn nicht.

Und eine Mischung von Bitterkeit und Verachtung umspielte seinen Mund: Ha, ich wollte ein Buch über ihn schreiben und verstand ihn nicht besser!

Er stand auf und ging einige Male zwischen dem Bett und dem Fenster hin und her. Dann blieb er am Fenster stehen und sah hinaus. »Da ist sie schon wieder drüben in der vierten Etage,« sagte er, »sie hat die Lampe angezündet und besieht sich im Spiegel. Sie hat es doch zu gern, daß sie gesehen wird; sie zieht niemals den Vorhang vor, ehe sie merkt, daß wir jetzt wissen, daß sie weiß, wie sie von uns begafft wird. Sie ist übrigens hübsch.« Er sprach aufgeräumt. Es war einer seiner gewöhnlichen Übergänge. Ich lächelte.

»Ich habe sie niemals gesehen,« sagte ich, »als ich außer Bett war, habe ich sie niemals beachtet.«

Er sah eine Weile zu ihr hinüber, kehrte sich dann plötzlich um und sagte kurz: »Nein, jetzt muß ich gehen.« Dann schnallte er den Säbel um, sagte kurz »Adieu« und verließ das Zimmer.

Mir war es unbehaglich zumute, ich fühlte beinahe etwas wie Gewissensbisse. Ich mußte an einen Brief denken, den Jarmann im vorigen Frühjahr an Henrik geschrieben hatte. Darin hieß es: »Das Verhältnis zwischen mir und Hermann ist nur anscheinend das alte. Er hat mich mehrere Male besucht. Aber ich weiß nicht, ob er es deswegen getan hat, weil er fühlt, daß er etwas wieder gut zu machen hat, oder ob er es in Ermangelung einer anderen Beschäftigung tut. Du begreifst, daß, wenn solche Überlegungen sich einem aufdrängen – und sie kommen ganz unwillkürlich – daß dann die alte Hingabe, die dem Verhältnis seine Schönheit gab, unmöglich ist. Ich wage es nicht mehr, mich zu geben, wie ich bin. Ich habe die ganze Zeit über die peinliche Empfindung, daß er sich entweder langweilt oder ich ihm ein Mittel zu einer augenblicklichen Zerstreuung bin. Daß unter diesen Umständen nicht ich ihn, sondern er mich aufsucht, versteht sich von selber. Und doch – wenn ich nun auch selber aus persönlicher Erfahrung den Schluß ziehen könnte, daß Hermann so ist, wie du und Helmer beständig behauptet habt, nämlich sein Interesse für einen Menschen sei von so egoistischer Art, daß er sich nicht im geringsten mehr um ihn kümmert, sobald er sein Inneres so durchforscht hat, daß er nichts Neues mehr finden kann – so kann ich trotzdem nicht glauben, daß es so ist, und der Schluß bleibt daher der alte: »Hermann ist der herrlichste Mensch, den ich kennen gelernt habe.«

Ich mußte an diesen Brief denken. Das hatte er damals geschrieben, und bis auf den heutigen Tag hatte er nicht glauben wollen, daß ich wirklich so wäre, wie Helmer und Henrik behauptet hatten, jetzt glaubte er es, mir tat das im Grunde genommen leid ... Weshalb hatte ich ihm nicht gesagt, daß ich ihn ganz gern hätte, daß ich, wenn ich Lust gehabt hätte, mit irgendeinem meiner Freunde zusammenzuleben, zusammen zu arbeiten, mir ihn dazu erwählt hätte! ... Was hätte das aber nützen können! Es konnte ja doch niemals etwas daraus werden. Mit mir war es zu Ende, und er war nicht der geeignete Mann dazu, mir ins Leben zurück zu verhelfen. Es war also dabei nichts weiter zu machen.

Ich mochte aber jetzt nicht mehr daran denken, es war zu unbehaglich. Ich klingelte nach dem Mädchen. Die Lampe wurde angezündet. Und ich fing wieder an, Zola zu lesen.


Von mir weg ging Jarmann zu Hjalmar und Henrik, bei denen er auch Helmer traf. Nach dem Abendessen veranlaßte er sie alle drei, mit zu Woll zu gehen, wo sie den Abend über blieben, Grog tranken und sich ganz gut amüsierten.

Kurz, bevor sie von Woll weggingen, schlug Jarmann vor, daß die drei andern mit ihm Brüderschaft trinken sollten. »Ihr sollt du zueinander sagen,« sagte er, »ich will es.«

Auf diese Weise verbrüderten sich seine zwei verschiedenen Umgangskreise miteinander.


Am nächsten Tage, dem ersten Osterfeiertage, waren sie alle bei Fräulein Rabe zum Mittagessen. Beim Kaffee hatte Jarmann eine kleine Szene mit dem jüngsten Fräulein Falsen. Sie waren beide zufällig in einem der Zimmer allein geblieben. Er lag nachlässig auf dem Sofa und hielt eine Zeitung vors Gesicht. Sie saß hinter der Sofalehne, auf der sein Kopf lag. Plötzlich warf er den Kopf ganz zurück und sah sie hinter der Zeitung an: »Haben Sie sich das überlegt, was ich Ihnen das letztemal sagte?« fragte er.

»Ja,« sie sah ihm fest in die Augen.

»Dann küssen Sie mich,« sagte er; und sie beugte sich zu ihm herab und küßte ihn hinter der Zeitung.

»Wir treffen uns heute abends acht Uhr bei der Universitätsuhr,« flüsterte er darauf.

»Ja.«

Mehr konnten sie nicht miteinander reden, weil die anderen hinzukamen.

Am nächsten Tage, dem zweiten Osterfeiertage, waren Fräulein Rabe und die beiden Fräulein Falsen am Vormittag bei Hjalmar und Henrik zum Frühstück.

Das jüngste Fräulein Falsen saß in dem amerikanischen Schaukelstuhle, und Jarmann stand, leicht über sie gebeugt, neben ihr und sah ihr in die Augen, während er sie langsam auf- und abschaukelte.

»Sie sind nicht gekommen!« flüsterte er.

Sie schlug erst die Augen nieder, ohne zu antworten, sah ihn dann aber an und sagte: »Ich wagte es nicht. Ich fühlte mich so allein, und dann bekam ich Furcht.«

»Dann kommen Sie heute abend ins Volkstheater. Dann können wir weiter darüber reden.«

»Ja,« sagte sie entschlossen.

Und dann schaukelte er sie weiter und sprach von anderen Dingen.


Abends elf Uhr kam Jarmann zu Hjalmar, der gerade zu Bett gehen wollte.

»Verflucht, sie ist doch nicht gekommen,« sagte Jarmann, als er eintrat.

Hjalmar zuckte die Achseln: »So sind die Frauenzimmer.«

»Na ja,« sagte Jarmann, »nun ist es eben zu spät. Es ist nichts mehr dabei zu machen.« Und er warf sich aufs Sofa und starrte ins Leere.

»Du,« sagte er nach einiger Zeit, »heute abend fand ich zu Hause einen recht spaßigen Brief vor. Ein Kapitän X. benachrichtigt mich darin, daß er die zweiunddreißig Kronen, die ich seinem Neffen für Repetition des jus schuldig bin, diesem Neffen für meine Rechnung ausbezahlt hat; er erwartet, daß ich ihm den Betrag binnen acht Tagen zurückerstatte.«

»Nennst du das auch spaßig?« fragte Hjalmar und kroch unter die Bettdecke.

Jarmann lachte: »Nun kann er ja sehen, wie er's bekommt.« Und er stand vom Sofa auf und blätterte in den Büchern, die auf dem Tische lagen.

Kurze Zeit darauf sagte er: »Geniert es dich, wenn ich auf dem Sofa liegen bleibe und lese? Ich bin nicht müde, und ich mag nicht allein sein.«

»Nein, bitte, bleibe nur liegen, solange du Lust hast. Du störst mich gar nicht.«

Jarmann musterte eine Reihe von Heften der »Neuen Zeitschrift«, die auf dem Tische lagen, las dann das Inhaltsverzeichnis laut vor, und gab jedem einzelnen Aufsatz ein – meist tadelndes – Prädikat.

Gegen Morgen erwachte Hjalmar darüber, daß sich jemand im Zimmer zu schaffen machte. Er öffnete die Augen. Beim Sofa stand Jarmann, rollte sich eine Zigarette, zündete sie über der Lampe an, schraubte die Lampe nieder, blies sie dann aus, schlich auf den Zehen an die Tür, öffnete sie und verschwand.

Hjalmar zündete ein Streichholz an und sah nach der Uhr: es war nach fünf.


 << zurück weiter >>