Hans Jäger
Kristiania Bohême
Hans Jäger

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XXX.

Drei Wochen später saß Jarmann eines Abends in seinem alten Zimmer allein zu Hause. Es war gut geheizt. Die Lampe stand angezündet vor ihm auf dem Tische. Er aber hockte, zusammengesunken, mit aufgeknöpftem Waffenrock, in den Stuhl zurückgelehnt da, die Beine ausgestreckt, die Hände schlapp herabhängend, an der Lampe vorüber auf die graue Gardine blickend, auf der die Erlöserkirche zu sehen war.

So hatte er stundenlang gesessen.

Welch eine grenzenlose Leere ... und welches unendliche Verlangen nach Fülle ... Heute hatte es ihn ganz gepackt und hielt ihn fest vom frühen Morgen an ... Früher hatte es doch wenigstens Pausen gegeben. Sie waren aber kürzer und immer kürzer geworden, und jetzt waren sie ganz verschwunden ...

O, das ging gewiß nie wieder vorüber ... nichts half mehr – denn er mochte, mochte, mochte auch gar nichts mehr auf der Welt.

Er hatte versucht, zu arbeiten, um die Gefühle loszuwerden – ja, d. h. daran gedacht, es zu versuchen, weiter war er nicht gekommen; denn er konnte nicht arbeiten ... Er hatte die zweite Skizze nicht wieder angerührt, seit dem Tage, da er mit dem Entwurf bei Hermann Eek gewesen war – wollte sich auch nicht weiter mit ihr beschäftigen. Es konnte ja auch nichts nützen, er konnte ja doch nicht herausarbeiten, was er herausarbeiten wollte: sein grenzenloses Elend; konnte den Leuten nicht das Verständnis dafür beibringen, was es bedeutete, so wie er, ohne denken zu können, leben zu müssen, mit verpfuschten und ausgemergelten Gefühlen, und nicht die Kraft zu haben, ein wirklich menschliches Leben zu führen – nur von dem Durst, einem brennenden Durst nach dem Leben erfaßt.

Es war ja nicht möglich, sie zum Verständnis dessen zu bringen, außer wenn man, sie das ganze elende Leben mitleben ließe, das er geführt hatte, damit sie es begreifen konnten, wie nach und nach die Fähigkeit zu leben, einschrumpft, da die Lebensbedingung fehlt – und wie nur die Leere zurückbleibt, die öde, trostlose Leere. Konnten sie dieses Leben nicht von Anfang an mitleben, wie es ihm jetzt ging – sie würden nur sagen: weshalb kann er nicht sein wie einer von uns, und weshalb kann er sich nicht auch etwas vornehmen und etwas werden? ...

Er konnte sie aber sein Leben nicht mit durchleben lassen, konnte vor ihnen seine Lebensgeschichte nicht aufrollen ...

Ach, daß er das nicht konnte ... es wäre eine Erleichterung, ein Trost gewesen, auf diese Weise wenigstens einige dazu zu bringen, das zu lieben, was er liebte, und das zu hassen, was er haßte. – Und das war ja das einzige, wozu sein elendes vernichtetes Leben noch von Nutzen sein konnte ...

Nun konnte es nicht einmal dazu mehr gebraucht werden. Weil er seine Lebensgeschichte nicht schreiben konnte.

O, daß er nicht eher entdeckt hatte, daß sein Leben allein dazu gebraucht werden konnte ... Hätte es nicht damit genug sein können, daß er zu früh auf die Welt kam ... daß er zu der Art von Zukunftsmenschen gehörte, die schon von Geburt an für einen Untergang ohne Kampf bestimmt sind, weil sie ihre Lage erst entdecken, wenn sie zugrunde gegangen sind ... hätte das nicht genug sein können? Er wünschte sich ja nur die Kraft, seinen Schmerz in die Welt hinauszuschreien, jetzt, da er entdeckt hatte, daß es vorbei war. Aber auch das war ihm versagt.

Wäre er wenigstens einige Jahre früher mit den Dingen ins reine gekommen, als er noch einige Energie und Kraft zum Denken hatte – dann hätte es vielleicht gelingen können. Jetzt aber! ... Er konnte ja nicht mehr denken, alles floß ihm zusammen. Er konnte es nicht mehr auseinanderhalten. Er konnte sich nicht in Gedanken in sein früheres Leben vertiefen, konnte nicht den schändlichen Zusammenhang darin finden, keine künstlerische Darstellung davon geben und mit seinem Werke in der Hand vor die Gesellschaft treten und sie für die Vernichtung seines Lebens zur Rechenschaft ziehen ... konnte nicht die beizeiten zum Kampfe aufrufen, die nach ihm kamen ... er konnte nicht ... er konnte nicht diesen einzigen Gebrauch von seinem Leben machen, den, den das Schicksal ihm gelassen hatte ... o, dieses doppelt zugrunde gerichtete Leben!!

Er starrte eine Weile trostlos vor sich hin, plötzlich aber fuhr er auf und schlug auf den Tisch, daß die Lampe tanzte. Na, hatte er das Ganze erst zu spät entdeckt, so war ja dabei nichts mehr zu machen. Dann war er nicht der Mann dazu, sich langsam zu Tode martern zu lassen – dann sollte rasch ein Ende gemacht werden, das war eine ausgemachte Sache.

Er ging einige Male nervös auf und ab und ließ den Beschluß in seinem Innern zu voller Klarheit heranreifen. Dann überkam ihn eine behagliche Ruhe. Ein schwaches Lächeln umspielte die frischen roten Lippen, und er setzte sich still wieder vor die Lampe hin. He, daß er auf den Tisch schlagen und zornig werden konnte, weil eine neue Hoffnung aufgetaucht und wieder zerronnen war ... Herr Gott, nun stand er ja wieder da, wo er vor einigen Monaten gestanden hatte ...ihm plötzlich der Einfall gekommen war, Schriftsteller zu werden ... Im Grunde genommen, hatte er ja selber nicht daran geglaubt ... Die Hoffnung war nur ein Strohhalm gewesen, der ihn nicht tragen konnte, und nun sank er ... Natürlich war er ja gerade beim Untersinken gewesen, als er den Strohhalm erblickt hatte ... und jetzt gab es für ihn keinen solchen Strohhalm mehr ... jetzt konnte er ruhig sinken ... das war ja im Grunde genommen das beste. Herrgott, er war ja so müde, so müde ...

Und er legte sich auf das Sofa und starrte zur Decke hinauf.

Er war auch wirklich müde; das Denken hatte ihn ermattet. Es war schon recht lange her, daß er einmal so intensiv gedacht hatte.

Fünf Minuten später schlief er auf dem Sofa mit ruhigen, regelmäßigen Atemzügen still wie ein Kind.


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