Hans Jäger
Kristiania Bohême
Hans Jäger

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VII.

Etwa in dieser Zeit begegnete ich Jarmann zum ersten Male.

Ich hatte in den letzten Tagen vor den Sommerferien (ich war Stenograph im Storthing) so viel Arbeit bekommen, daß ich mir einen Sekretär nehmen mußte, und da wies mich mein Freund an Jarmann – auf diese Weise wurden wir bekannt. Der erste Eindruck aber, den wir von einander erhielten, war nicht gerade günstig. Ich war infolge der vielen Arbeit nervös geworden, und ihn verdroß es, überhaupt arbeiten zu müssen; wir waren deshalb beide nicht besonders umgänglich und nahmen nicht gerade herzlichen Abschied von einander, als wir nach getaner Arbeit uns trennten, ich, um aufs Land zu reisen, er um in der Stadt bei der entsetzlichen Sommerhitze sein Tagediebleben wieder aufzunehmen.

Als ich anfangs September in die Stadt kam und meine gewöhnlichen stundenlangen Promenaden auf der Karljohannstraße wieder aufnahm, begegnete ich regelmäßig Jarmann, wenn er sich dort mittags zwischen zwei und drei von der Romanlektüre im Rechtsanwalts-Bureau erholte. Die Saison hatte aber noch nicht richtig angefangen, viele Damen waren noch nicht vom Lande zurückgekehrt, und die gekommen waren, hatten noch nicht begonnen, sich die Musik regelmäßig anzuhören. Jarmann war deshalb schlechter Laune, wenn er zwischen zwei und drei auf- und abspazierte, und so oft wir uns begegneten, grüßte er verdrossen und ging gleichgiltig an uns vorüber. Allmählich fanden sich aber die Damen wieder ein, und bei jeder neuen weiblichen Erscheinung, die auf der Karljohannstraße auftauchte, wurde Jarmann immer besserer Laune.

»Haben Sie gesehen, daß das kleine Fräulein Soundso zurückgekommen ist?« konnte er mich dann mit vergnügtem Lächeln im Vorübergehen fragen – er wußte, daß wir wenigstens an diesem Punkte ein gemeinsames Interesse empfanden. Und war gar ein richtiges Prachtexemplar angelangt und hatte ich es noch nicht entdeckt, so gab es keine Widerrede, ich mußte mit ihm gehen und es mir zeigen lassen: er mußte jemand haben, mit dem er seine Freude und Bewunderung teilen konnte.

Auf diese Weise kamen wir manchmal dazu, zur Musikzeit auf der Karljohannstraße zusammen spazieren zu gehen. Und dann konnte es wohl geschehen, daß ich, wenn es drei Uhr geschlagen hatte, die Musik beendigt war und die Damen sich zurückgezogen hatten, infolge meiner Notlage nicht die Krone für Ingebret hatte auftreiben können – daß ich dann mit Jarmann zusammen an dem billigen, aber »bösen« Mittagstisch teilnahm, zu dem er ging. Nach dem Mittag lud er mich immer in sein auf der anderen Seite des Korridors gelegenes Zimmer zu einer Tasse Kaffee und einer Zigarre ein. Nach und nach vertrugen wir uns dann auch ganz gut miteinander, und Jarmann fing demgemäß an, mich zu besuchen.

Ich bewohnte damals in der Nordal-Bruns-Straße ein »hübsch möbliertes zweifenstriges Zimmer nach vorne hinaus«, wie es in der Inseratsprache heißt – in Wahrheit ein einigermaßen geräumiges, dürftig möbliertes, kaltes und ungemütliches Zimmer mit kahlen, hell angestrichenen Wänden. Dafür hauste ich ganz ungeniert und konnte in dem Zimmer mit meinen Freunden und Freundinnen treiben, was ich wollte.

Ich hatte damals fast gar nichts zu tun. Meine gesamte Arbeit bestand darin, daß ich jeden Sonntag für einen Pastor, der eine Predigtsammlung herausgeben wollte, eine Predigt stenographierte. Für jede Predigt bekam ich 16 Kronen, das reichte für das Zimmer und einige Mittagessen bei Ingebret, das Geld für die übrigen Mahlzeiten pumpte ich auf Karljohann in der »Geschäftszeit«, und dann hatte ich zwei Kaufleute zur Hand, die darin wetteiferten, meinen Tisch mit Kaffee und Tee, Butter und Brot, Käse und Wurst, geräuchertem Hering, Konserven und Gott weiß was noch zu versehen, so daß weder ich noch jene meiner Freunde und Freundinnen, die mit mir speisen wollten, Not zu leiden brauchten. Und Bier und Zigarren für mich und meine Freunde, Zigarretten und Weine für die Freundinnen konnte ich auch von denselben Kaufleuten haben, so viel ich wollte – sie wußten, daß sie Geld erhielten, wenn das Storthing wieder zu tagen anfing.

Freundinnen hatte ich damals viele. Ich hatte in der Zeit gerade einen Frauenzimmerraptus, und man konnte zu jeder Tageszeit Weiber bei mir antreffen. Hatte ich ein Mädchen gefunden, das mir gefiel, so behielt ich es gerne längere Zeit bei mir, und wir – das Mädchen und ich – verbrachten dann den Tag in dem dürftigen Zimmer, teils im Bett, teils uns im Negligé herumtreibend, von Butterbrot und Konserven, Bier und Wein, Kaffee und Zigaretten lebend. Zu jeder Mahlzeit stellte sich das Dienstmädchen ein, klopfte an und reichte Teller und Tassen, Messer und Gabeln, Flaschen und Gläser durch die halboffene Türe herein. Dort stand ich, den zerrissenen, grauen, rotgeränderten Schlafrock lose um die Schultern geworfen, und nahm alles in Empfang, während das Dienstmädchen mit größerem oder geringerem Glücke durch die Türspalte ins Zimmer zu blicken versuchte, um zu sehen, wie das Mädchen drinnen aussah – das Bett stand gleich hinter der Tür. Kamen bei solchen Gelegenheiten Gäste, so ließen wir sie gern für einige Zeit herein, jagten sie aber dann wieder hinaus, wenn wir allein sein wollen.

Abends sahen wir gewöhnlich zu zwei oder mehreren Paaren zusammen um den runden Tisch vor dem Sofa herum und rauchten und tranken – die Damen ihren schlechten Wein, den sie im allgemeinen wohlschmeckend fanden, und die Herren gewöhnlich ihren Branntwein; war der nicht aufzutreiben, so begnügten sie sich mit Bier, das immer in großen Quantitäten vorhanden war.

Von diesem Leben auf meiner Bude erfuhr natürlich Jarmann bald, und er fing dann an, mich ziemlich häufig zu besuchen – dieses Leben sagte ihm zu. Traf er mich einmal allein zu Hause ohne Damengesellschaft, mit einem Buch auf dem Sofa liegend, so schlug er mir gewöhnlich vor, auszugehen und ein weibliches Wesen aufzuspüren, und darauf ging ich dann gerne ein, wenn auch nur deshalb, um zu sehen, wie er »anbiß«. Das war nämlich ein köstlicher Anblick. Erblickte er zum Beispiel etwas auf der anderen Seite der Straße, was ihm gefiel, so gab es dem ganzen Menschen plötzlich einen Ruck, er stieß die Hände energisch in die Taschen des Paletots, zog die Schultern empor, die eine etwas höher als die andere, und ging mit vorgeschobenem Bauch und gekrümmtem Hals und Rücken quer über die Straße, den Blick auf die Dame gerichtet. War es dann trotzdem nichts, so fiel er wieder schlapp zusammen und kam langsam und kopfschüttelnd zurück. Hatten wir aber dann endlich etwas gefunden, was uns gefiel, so ging es schnell heimwärts; die Gläser wurden hervorgeholt usw.

Es war fast immer dieselbe Geschichte. Man führte sich im allgemeinen sehr fein auf, ohne Lärm, ohne rohes Lachen, ohne Kreischen; man trank sein Glas und karessierte sein Mädchen und ließ sie am meisten reden. Fand es dann einer von uns angebracht, die Lampe auszulöschen, so stand dem nichts im Wege, die anderen amüsierten sich im Dunkeln nach Kräften mit Pispern und Wispern und Lachen und Umarmungen – bis der, der die Lampe ausgelöscht hatte, sie wieder anzündete.

Dieses Leben gefiel also Jarmann ausgezeichnet. Er kam aber doch nicht bloß deswegen zu mir; es lockte ihn außerdem hauptsächlich noch etwas anderes. Und dieses andere kam allmählich dazu, gewissermaßen eine Art idealer Basis für das mit Weiberaffären ausgefüllte Tagediebleben zu bilden, das er führte.

Damit hatte es folgende Bewandtnis:

Ich experimentierte damals mit einer jungen Dame, einem Fräulein Brun, die ich im vorigem Winter kennen gelernt hatte. Ihr Vater war ein Kaufmann, der Bankerott gemacht hatte und auf seine alten Tage in einem untergeordneten Kontorposten gelandet war; die Familie lebte in ziemlich dürftigen Verhältnissen und erwarb sich einen Teil des Lebensunterhaltes durch Vermieten. Ich war in die Familie vom Sohne des Hauses eingeführt worden; dieser war selber fast nie zu Hause, hatte aber nichts dagegen, mich vorzustellen, als er hörte, daß ich mich für eine junge, blondhaarige Kleinstädterin interessierte, die bei der Familie wohnte. Mir war damals die Idee gekommen, mich mit der Dame zu verloben – um dann die Verlobung wieder aufzuheben, wenn ich die Sensationen des Brautstandes genugsam ausgekostet hätte. Als ich nun eines Abends bei Bruns meiner Kleinstädterin den Hof machte, fragte mich die Frau des Hauses, ob ich nicht jemand wüßte, der umziehen wollte – sie hätte ein Zimmer frei, das leider schon seit längerer Zeit leer gestanden habe – und ich antwortete sofort, daß ich meiner alten Wirtin kündigen wolle, und mietete mich sofort mit voller Pension ein.

Auf diese Weise traf ich jeden Tag mit der Tochter Lily Brun zusammen.

Anfangs mochte sie mich ganz und gar nicht leiden. Ich gab mich auch nicht weiter mit ihr ab, ich hatte ja meiner Kleinstädterin den Hof zu machen. Außerdem war noch etwas anderes daran schuld, daß Lily damals beständig schlechter Laune war. In dem Zimmer, in dem ich jetzt hauste, hatte kurz vorher ein junger Student Faye gewohnt; er hatte ihr stark den Hof gemacht, und sie hatte sich ernsthaft in ihn verliebt. Eine Zeitlang hatten die beiden ein ganz gemütliches Leben geführt. Er hatte sie mit ins Theater und in die Konditorei genommen, ging mit ihr spazieren und unterhielt sich den ganzen Abend mit ihr, so oft er zu Hause war – und er war fast immer zu Hause. Es wurde aber niemals mehr daraus, er hielt nicht um sie an, und als der alte Brun sie mehrmals dabei überrascht hatte, wie sie im Dunkeln unten im Torweg standen und sich unterhielten, anstatt hinaufzugehen, nachdem sie kurz vor dem Abendessen von ihren Spaziergängen nach Hause gekommen waren, und da sie außerdem jeden Abend sich allein in einen Winkel setzten und so leise miteinander sprachen, daß er nicht verstehen konnte, worüber sie diskutierten – so schöpfte Papa Brun Verdacht und fürchtete, der Student lege es sicherlich nur darauf an, seine Tochter zu verführen. Und da er ihrer Widerstandskraft nach dieser Richtung nicht ganz sicher war – »es deutete leider verschiedenes darauf hin, daß sie ziemlich sinnlich veranlagt war« – so veranlaßte er Mama, dem Studenten unter dem Vorwande zu kündigen, die Familie brauche das Zimmer selber.

Das war für Lily ein harter Schlag gewesen.

Nachdem er ausgezogen war, fuhr Faye fort, bei Bruns aus- und einzugehen, und er hatte speziell die Gewohnheit angenommen, sich Tag für Tag nach dem Mittagessen einzufinden, eine Tasse Kaffee zu trinken und eine Zigarre zu rauchen. So lange das anhielt, lebte Lily nur für die Kaffeestunde. Es war tagsüber ihre einzige Freude, daran zu denken – am Vormittag daran, was sie wohl bringen würde, am Nachmittag an das, was sie gebracht hatte – und der Gedanke an »ihn« half ihr über alle Widerwärtigkeiten des Tages hinweg. Zuweilen trafen sie sich auch auf der Straße; das geschah aber selten.

Da kam nun aber eines Tages ihre Mutter und fragte sie, ob sie etwas dagegen hätte, wenn sie zu Faye sagte, man wünsche seine Besuche nicht mehr.

Die Frage kam Lily so unerwartet, daß sie nicht wußte, was sie antworten sollte, sie stand nur ganz glührot im Gesichte und außer Fassung da – und antwortete dann schließlich ganz verwirrt, nein, natürlich ... weshalb sollte sie denn etwas dagegen haben?

Damit war die Sache abgemacht, und am nächsten Tage sollte die Exekution vor sich gehen.

Die Kaffeestunde kam, und mit ihr Herr Faye. Brun, der immer eine Stunde später aß als die anderen – er konnte nicht eher vom Kontor abkommen – erschien an diesem Tage noch später als gewöhnlich; er wußte, was im Gange war, und zog es vor, die Abwicklung der unangenehmen Affäre seiner Frau zu überlassen; Lily war natürlich in ihrem Zimmer, wo die beiden älteren Schwestern ihr Gesellschaft leisteten. Von den Logierherren war gerade niemand zu Hause.

Der Student kam also wie gewöhnlich, das Dienstmädchen ließ ihn eintreten, er begab sich ins Zimmer – fand aber niemand vor.

Er fragte das Mädchen, ob niemand zu Hause wäre.

Doch, die Herrschaft wäre zu Hause.

Er setzte sich in einen der alten Lehnstühle, die in der Mitte des Zimmers neben dem Tische standen, zog wie gewöhnlich seine Zigarre hervor, zündete sie an, ergriff die Zeitung, die dort lag – und wartete.

Endlich tritt die Dame des Hauses ins Zimmer. Er steht halb vom Stuhle auf und grüßt; sie grüßt aber nicht wieder, bleibt nur an der Türe stehen und betrachtet ihn, so daß ihm ganz unbehaglich zumute wird. »Glauben Sie, daß hier eine Restauration ist?« fragte sie endlich, »da Sie Tag für Tag hierher kommen, Ihren Kaffee trinken und Ihre Zigarre rauchen?«

Nein, sagte der Student, das glaube ich nicht.

Nun, dann gehen Sie in Zukunft in ein Restaurant, um Ihren Kaffee zu trinken und Ihre Zigarre zu rauchen.

Ja, antwortete der Student, das will ich. künftig tun.

Er saß mit seiner Zigarre und mit seiner Zeitung ganz verblüfft da, wußte nicht recht, was er tun sollte, las dann mechanisch in der Zeitung weiter, idiotisch seine Zigarre paffend. Die Hausfrau aber ging nach vollbrachter Tat aus dem Zimmer und überließ ihn ganz seinen eigenen Gedanken. Erst als sie verschwunden war, kam er wieder vollends zu sich, stand ruhig auf, schritt auf den Korridor hinaus, zog sich an und ging.

Am selben Tage unterrichtete er Lily brieflich von, dem Vorgefallenen – kurz und knapp, ohne ein Wort hinzuzufügen.

Lily antwortete nicht, »sie war ja so beschämt ... und außerdem, was sollte sie denn antworten!« – So oft sie ihm aber nach diesem Tage auf der Straße begegnete, wurde sie regelmäßig glührot im Gesicht und grüßte, fast ohne ihn anzusehen. Er wußte nun wieder nicht, wie er das zu deuten hatte, und die Folge war, daß er sie nie ansprach.

Lily wußte aber, wo er wohnte, und allmählich gelang es ihr, auszukundschaften, wann er auszugehen und wohin er sich zu begeben pflegte – er lebte sehr regelmäßig – und so geschah's daß er schließlich die Entdeckung machte, daß er ihr auffallend oft begegnete ... zu auffallend gleichen Zeiten ... und immer an denselben Stellen. Er faßte das als eine Annäherung auf und beschloß, die Bekanntschaft zu erneuern.

Eines Tages war sie zu zeitig gekommen und durch die Universitätsstraße gegangen, in der er wohnte, ohne ihm zu begegnen. Als sie dann auf der anderen Seite wieder vorbeiging, kam er zufällig aus dem Hause heraus, bemerkte sie, grüßte und ging quer über die Straße gerade auf sie zu. Plötzlich aber, von einer unerklärlichen Angst befallen, beschleunigte sie ihre Schritte, um ihm zu entkommen – und er gab seine Absicht auf und kehrte wieder zurück In einiger Entfernung wandte sie sich um; da sah sie ihn ganz ruhig auf der anderen Seite der Straße gehen, begriff nun auf einmal, welche Dummheit sie begangen hatte, war auf sich selbst wütend und ging, dem Weinen nahe, nach Hause. »Was war aber dabei zu machen?«

Seit dieser Zeit machte er keine Annäherungsversuche mehr, trotzdem sie sich immer zur rechten Zeit einfand, um ihm zu begegnen.

Diese Geschichte mit dem Studenten Faye war schuld daran, daß Lily damals, als ich das alte Zimmer ihres Geliebten bezog, so schlechter Laune war. Und es war ganz begreiflich: mich, der in dem Zimmer wohnte, in dem er gewohnt hatte, und der ich außerdem nur meiner Kleinstadtpflanze den Hof machte – mich konnte sie ganz besonders nicht ausstehen; sie fand mich unerträglich.

Das sollte aber andres werden.

Eines Abends, als die Pensionärinnen die Wohnung verlassen hatten, Papa Brun noch nicht vom Kontor nach Hause gekommen und die Mutter in der Küche mit der Zubereitung des Tees beschäftigt war, saß Lily mit den beiden älteren Schwestern in der Wohnstube allein um die Lampe, an dem großen Tisch in der Mitte des Zimmers –die beiden älteren Schwestern beide in ihr frommes Buch vertieft, Lily matt in den Lehnstuhl hingegossen mit schlaff auf den Stuhllehnen ruhenden Händen.

»Na, Sie sehen wahrhaftig nicht aus, als ob Sie mit dem Dasein besonders zufrieden wären, Fräulein!« sagte ich – ich kam in die Stube und setzte mich neben Lily.

Sie zog die Augenbrauen müde in die Höhe und sah mich, ein Gähnen um die Mundwinkel, an: »Ich habe wohl auch keinen Grund dazu!« sagte sie bitter.

Ich lächelte. »Na ja, im Grunde genommen sind Sie auch nicht weiter zu bedauern.« Sie sah aus, als ob sie zum allermindesten Lust hätte, mich zu prügeln, wenn sie es sich getraut hätte. – »Nein, Sie tun ja nichts dafür, daß Ihr Dasein sich für Sie besser gestalte, Sie legen nur die Hände in den Schoß – und man kann doch wirklich nicht verlangen, daß einem die gebratenen Tauben von selber in den Mund fliegen. Nicht wahr?«

Sie starrte einen Augenblick ins Leere. Dann sagte sie schlaff: »Ach, es vermag doch niemand seinem Schicksal zu entgehen.«

»Nein, darin haben Sie ganz recht, Fräulein. Nehmen Sie nun aber an, ich vermöchte Sie davon zu überzeugen, daß Sie sich glücklich fühlen könnten, wenn Sie dies oder jenes täten, und Sie täten es dann und würden glücklich? – Nun ja, werden Sie sagen, dann war es mir also vom Schicksal bestimmt, Sie zu treffen, und infolge dessen veranlaßt zu werden, das zu tun, was mir Glück brachte. – Nehmen Sie nun aber andererseits an, Sie wären von der Art, daß Sie sich nicht überzeugen lassen könnten, trotzdem das, was ich Ihnen vorschlug, Sie wirklich glücklich zu machen vermöchte? – Dann nützte es ja gar nichts, daß das Schicksal Sie mit mir zusammentreffen ließ. Sie sehen also, daß Ihr Schicksal verschieden wird, je nachdem Sie so oder so sind. Und jetzt sind Sie so, daß Sie die Hände in den Schoß legen und alles an sich herankommen lassen, weil Sie nicht glauben, daß es nützen könne, etwas zu tun. Darum geht es Ihnen so, wie es Ihnen jetzt geht. Könnten Sie aber so werden, daß Sie glaubten, es würde nützen, etwas zu tun, und dann zugreifen – so würde Ihr Schicksal anders und wahrscheinlich besser werden.«

Sie überlegte einige Zeit. Dann sagte sie: »Im Grunde genommen, haben Sie recht; sollte ich aber etwas anderes tun können, als – die Hände im Schoße – mein Schicksal zu erwarten, wie Sie sich ausdrücken, dann müßte das etwas sein, worauf ich Wert legte, wodurch ich etwas erreichen könnte – das gibt es aber nicht. Und deshalb pfeife ich auf alles, ich werde ja doch nur ein elendes Dasein führen« – und sie sank in dem Stuhl, in dem sie saß, noch mehr zusammen.

Die älteste Schwester hob die Augen von ihrem Buche auf und sah sie an: – »Pfui, Lily, so zu sprechen, wo es dir im Grunde so gut geht! Du solltest Gott dafür danken, daß es dir so geht wie jetzt! Denk' an alle, die in Armut und Elend leben und nicht einmal das trockene Brot haben ...«

»Hänschen in die Schule ging ... manchem kann's schlimmer gehen!« deklamierte ich in falschem Predigtton und drohte Lily mit dem Zeigefinger.

Lily brach in ein Gelächter aus, auch Kristine konnte sich des Lachens nicht erwehren.

»Nein,« sagte ich, »einigen wir uns eben dahin, daß wir Gott eher zürnen als ihm dafür danken sollten, daß er es den vielen anderen so schlecht gehen läßt; uns geht es deswegen doch um kein Haar besser. Nein, sollten wir speziell ihm für etwas danken, so könnte das nur sein, wenn er es uns recht gut gehen ließe.

»Ja, daran ist etwas,« sagte Lily.

»Nein,« sagte Kristine, »wir haben kein Recht zu verlangen, daß es uns so gut gehen soll, es ist unsere Schuld, daß es uns schlecht geht, unsere Sünde ist schuld daran,« – und es entspann sich zwischen mir und Kristine eine kleine Diskussion über das Christentum.

»Nein,« sagte ich schließlich, »darum kommen Sie nicht herum; es ist eine verderbliche Lehre, daß man dafür danken soll, daß es einem nicht noch schlechter geht; das führt nur dazu, daß man die Hände in den Schoß legt. Nein, da lieber Unzufriedenheit. Sind die Leute unzufrieden, so verlangen sie, daß ihre Lage gebessert wird, und verlangen sie es ernstlich und handeln sie darnach, so erreichen Sie auch eine Besserung ihrer Lage. Die Unzufriedenheit ist die treibende Kraft in der Maschinerie des Fortschritts.«

»Ja, daran ist etwas,« sagte Lily wiederum zu mir. Und sie kniff die Augen etwas zusammen und sah mich an, als dächte sie bei sich selbst: ob vielleicht doch an dem Menschen etwas sein sollte?

Im selben Augenblicke kam die Mutter aus der Küche herein, und das Gespräch wurde abgebrochen.

Von diesem Tage an datierte ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Lily und mir, und ich fing an, mich für sie zu interessieren. Die Unzufriedenheit mit der Welt, deren Berechtigung sie schon früher gefühlt, an deren Beseitigung sie aber trotzdem nicht zu glauben gewagt hatte, die wollte ich fördern – und dann ausbeuten. Ich wollte sie so weit bringen, daß sie begriffe, wenn das Dasein sich so kläglich wie jetzt gestaltet, so müßten auch die Menschen selber daran schuld sein, weil sie die Gesellschaftsordnung auf Religion und Moral suchten anstatt auf Liebe und Vernunft; auf diese Weise sollte sie diese unvernünftige Gesellschaftsordnung hassen lernen, so wie ich sie haßte, und dann wollte ich versuchen, ihre Kräfte im Dienst der Vernunft und Freiheit zu verwenden – ja, das war eine Idee. Und ich, der ich nicht gewußt hatte, was ich mir vornehmen sollte, – hier hatte ich ja gerade eine Aufgabe, und noch dazu eine, die viel amüsanter war als das Verlobungsprojekt – und ich fing an, nach und nach meine kleine lebenslustige blonde Kleinstädterin zu vernachlässigen, bis ich sie schließlich ganz aufgab.

Die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, war ziemlich schwer, und nach langen Erwägungen legte ich meinen Plan fest; es würde zwar verflixt lange Zeit in Anspruch nehmen, ich entschied mich aber doch für ihn, da er mir der einzig sichere zu sein schien.

Zuerst erkundigte ich mich nach Lilys Lektüre. Sie las natürlich allerhand Leihbibliotheksliteratur, schlechte Bücher und nur wenige gute. Ich fragte ob sie fremde Literatur lese. Ja, zuweilen ein deutsches Buch. Ob auch französisch? Nein, sie war dazu des Französischen nicht genügend mächtig. Ich erbot mich, mit ihr französisch zu lesen; das wollte sie gern. Es wurden zwei Exemplare von Balzacs Les secrètes de la princesse de Cadignan angeschafft, und wir begannen das Studium. Die Erzählung ist kurz und ganz amüsant. Sie präparierte für jedesmal so viel, als ich möglich war; hatten wir das durchgenommen, so übersetzte ich weiter, bis die Stunde zu Ende war Trotzdem ging es zu langsam, als daß es nicht langweilig geworden wäre, und ich versuchte daher, für die Langweiligkeit dadurch Ersatz zu schaffen, daß ich ihr von dem ganzen Leben im Fauburg St. Germain erzählte, so wie Balzac es in seinen Romanen schildert, in denen beständig dieselben Personen wiederkehren, in dem einen Roman als Haupt-, in anderen wieder als Nebenpersonen; im speziellen erzählte ich ihr natürlich von den Menschen, von denen das von mir gerade gewählte Buch handelte. Und sie saß mir gegenüber auf dem Sofa, sah, den Kopf in die Hand gestützt, mich an und hörte mit Interesse zu, wenn ich erzählte, unterbrach meine Ausführungen zuweilen durch eine Frage und las dann wieder im Buche nach, wenn wir weiter gingen. So oft ich aber etwas sagte oder so oft wir im Roman zu einer Stelle kamen, die die Generalanzeiger dahin zu charakterisieren pflegen, daß sie in Familien nicht laut gelesen werden könnten – dann war sofort der Teufel los. Eine Bemerkung Balzacs wie die, daß eine kleine Falte in einem Rock mehr Begierde erwecken kann als ein ganzer nackter Frauenkörper, genügte schon, ihr das Blut ins Gesicht zu treiben und sie zu veranlassen, sich hinter das Buch zu verstecken. Dann mußte ich sie mit ruhiger Kälte darauf aufmerksam machen, daß das alles ganz natürliche Dinge seien, von denen zu sprechen und zu lesen erwachsene Menschen sich nicht zu genieren brauchten, und das Ende vom Liebe war denn auch, daß wir schließlich ganz ungeniert von Ansittlichkeit und Ehebruch in der Beau monde des Faubourg St. Germain zu Balzacs Zeit sprechen konnten, und das war ja schon etwas. Ich wollte aber noch weiter kommen. –

Wenige Tage, nachdem wir Brüderschaft getrunken hatten, saßen wir zufällig eines Nachmittags nach dem Kaffee allein im Zimmer, sie auf dem Stuhl neben dem Ofen und ich in der Sofaecke gleich daneben. Wir sprachen von schönen Füßen.

»Du hättest das hübsche Füßchen sehen sollen, an dem ich mich gestern erfreut habe,« sagte ich. »Ich zog selber den Stiefel von dem Fuß und hatte daher gute Gelegenheit, ihn zu bewundern.«

Lily stand auf und stampfte mit dem ihren –: »Ich will nicht, daß du mir so etwas erzählst,« sagte sie, halb bös und halb furchtsam: es begann ihr zu dämmern, daß sie sich auf abschüssiger Bahn bewege, und sie bekam Angst vor dem Hinabgleiten.

»Du hast recht,« sagte ich schlapp, »verzeihe mir. Du weißt, woher das kommt. Ich bin daran gewöhnt, nur mit Kameraden zu verkehren, in deren Gesellschaft man über alles Mögliche gerade heraus spricht, und dann vergesse ich, Rücksichten zu nehmen, wenn ich wieder in Damengesellschaft bin. Du kannst aber ganz ruhig sein; es wird nicht wieder vorkommen.«

Darauf schwieg ich still und sagte kein Wort mehr; sie wußte auch nichts zu sagen, und so entstand eine lange, peinliche, etwas verlegene Pause.

»Ach ja, was war denn eigentlich mit dem Fuß los?« fragte sie schließlich in forciert kameradschaftlichem Tone.

»Das kann ich nicht erzählen.« Ich konnte mit Mühe ein Lachen unterdrücken.

Sie überlegte wieder eine Weile und sagte dann überredend: »Ach, meinetwegen kannst du's immer erzählen – in anständigen Ausdrücken natürlich, versteht sich.«

»Hm, nein, es läßt sich wirklich nicht erzählen.«

»Ach, erzähl' nur. Ich werde schon Halt gebieten, wenn es nicht angeht.«

Sie sprach in ganz überlegenem Tone. Ich ließ mich natürlich eine Weile nötigen, gab dann aber selbstverständlich nach und erzählte ihr – (ich glaube, zu ihrer Enttäuschung, aber auch zu ihrer Beruhigung) – in verhältnismäßig anständiger Form eine kleine Weibergeschichte vom vergangenen Abend. Damit war der erste Schritt getan, der Schritt, auf den es ankommt, und nun befanden wir uns auf der abschüssigen Bahn. Seit diesem Tage fragte sie mich immer, ob ich nicht wieder etwas Amüsantes erlebt hätte.

Einige Tage später blieben wir die fünf Minuten, die immer zwischen Mittagessen und Kaffee vergingen, zufällig allein am Tische sitzen.

»Ich möchte dich um etwas bitten,« sagte ich.

»Und das wäre?« – Sie interessierte sich sofort.

»Ich weiß nicht recht, ob ich wagen kann, es zu sagen.«

»Ah bah, sag's nur.«

»Und du wirst auch nicht böse?«

»Nein, schieß nur los!«

»Ich möchte dich bitten, für mich in ein Wäschegeschäft zu gehen.«

»Ach? Weshalb kannst du denn nicht selber hingehen?«

»Ich brauche einige Damenwäsche.«

Lily lachte und rückte unwillkürlich näher. »Wozu brauchst du denn die?«

»Ich will sie einer Freundin als Vielliebchen schenken – der kleinen Agnes, von der ich dir erzählt habe! Sie ist ein ganz angenehmes Mädchen, und ich mag sie sehr gern, aber das Linnen, das sie trägt, ist so abgerissen, und es sieht so ärmlich aus, wenn sie sich auszieht.«

Lily war unwillkürlich wieder zurückgewichen. »Nein,« sagte sie, »damit mag ich nichts zu tun haben.«

»Da siehst du's,« sagte ich und zuckte die Achseln. Und dann sprachen wir nicht mehr davon.

Als wir aber am nächsten Tage nach dem Kaffee wie gewöhnlich in der Ofenecke saßen, sie auf dem Stuhl, eine Zigarre rauchend, die ich ihr gerollt hatte, und ich daneben in der Sophaecke, da vertraute sie mir etwas verschämt zwar, aber so flott, als sie vermochte, an, daß sie bei Falkenberg gewesen wäre und sich einige reizende Spitzenhemden angesehen habe. Ich lächelte und gab ihr Geld, daß sie ein Paar kaufen könnte.

Kurz darauf gingen wir zusammen aus. Sie kaufte bei Falkenberg die Hemden, und hinterher nahm ich sie mit in eine Konditorei. Und während sie dort Schokolade und Kuchen verzehrte und ich ein Glas Wein genoß, erzählte ich ihr eine ganze Masse Einzelheiten von dem Mädchen, für das das Leinenzeug bestimmt war, und von meinem Verhältnis zu ihr.

Von diesem Tage an glitten wir in aller Gemütsruhe nach und nach die abschüssige Bahn weiter hinab, und bald erzählte ich ihr jeden Tag teils wirkliche, teils erdichtete Weibergeschichten vom Tage vorher, die ich mit allen möglichen Details verbrämte.

Auf diese Weise verschaffte ich ihr in ganz ausgiebigem Maße einen Einblick in die Lebensweise der jungen Leute von heute.

Und dieses Leben der Jugend – das ich ihr also mit ziemlich schmutzigen Farben malte – das stellte ich ihr dar als das traurige, aber notwendige Resultat der jetzt herrschenden Moral, die das natürliche Bedürfnis der Menschen, dadurch, daß sie es hemmt, verpfuscht und verkrüppelt und in Geilheit anstatt in Liebe ausschlagen läßt. Gleichzeitig erklärte ich ihr aber auch, daß es gelte, gerade diese fast immer unzüchtigen Verhältnisse mit all ihren Folgen geistigen und körperlichen Elends zu vermehren, weil dies das einzige Mittel sei, um schließlich die Gesellschaft dazu zu zwingen, sich ernsthaft über die Ursachen dieser Unsittlichkeit Rechenschaft zu geben, so daß man endlich einmal dahinter käme, daß die wirkliche Ursache nicht in der schlechten Natur der Menschen, sondern in der Religion und der Moral liege und der verkehrten Gesellschaftsordnung, die man auf ihnen aufgebaut habe.

Aber diese Gespräche mit Lily erhielt Jarmann immer ausführliche Referate, und sie amüsierten ihn nicht nur, sondern interessierten ihn auch. Sie verschafften ihm Klarheit über vieles, was er gedacht und gefühlt hatte, und verhalfen ihm dazu, das Leben, das er führte, unter die Kategorie der Pflicht zu bringen – etwas, wonach er damals noch ein dunkles Bedürfnis fühlte.


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