Hans Jäger
Kristiania Bohême
Hans Jäger

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XXII.

Es war in einer Herbstnacht desselben Jahres, nach zwölf Uhr. Ich hatte Wache.

Wir waren in der Nordsee, kamen vom Kanal her und steuerten auf Norwegen zu. Frische Brise, verhältnismäßig ruhiges Wasser, reine, sternenhelle Luft.

Halb gegen das Gangspill gelehnt, halb darauf sitzend, die Hände in den Taschen, die Tonpfeife zwischen den Zähnen, starrte ich über die See, ohne an irgend etwas zu denken.

Plötzlich tauchte am Horizont ein Licht auf.

»Licht gerade voraus!« rief ich rückwärts.

»Licht gerade voraus!« wurde in der Mitte des Schiffes wiederholt.

Der Steuermann kam heran, die drei Mann von der Wache, die frei waren, desgleichen.

»Wo ist es?« fragte der Steuermann.

»Dort« – ich zeigte hinaus – »geradeaus, etwas luvwärts!« –

Es war der Leuchtturm von Lindesnäs.

Alle blieben stehen und sahen eine Weile, wie in Spannung, dorthin.

»Morgen sind wir also zu Hause!« rief schließlich der Youngmann.

»Ja, wenn sich der Wind nur hält, und er hält sich gewiß,« antwortete der Steuermann froh. – – –

Ich stand wieder gegen das Gangspill gelehnt da, die Fäuste in der Tasche, die Tonpfeife zwischen den Zähnen, und starrte nach dem Leuchtfeuer hinaus –:

... Lindesnäs – Norwegen – nach Hause ...

Nach Hause? – In meinem Herzen rührte sich nichts, ganz anders als es sonst immer gewesen war, wenn ich früher unter Norwegens Küste gekommen war – gar nichts.

Nach Hause? – Was sollte ich zu Hause? Ich hatte ja nichts, weswegen ich nach Hause kommen konnte. – Nein, daheim wie draußen, auf der See oder auf dem Lande, es war für mich alles gleich; es war doch alles nur eine öde Langeweile.

»Nach Hause!« Welche erwartungsvolle Freude hatte doch in dem Ausrufe des Youngmannes gelegen: morgen sind wir also zu Hause!

Nun saß er dort unten auf der Vorderluke, den Ellenbogen auf das Knie gestützt, den Kopf in der Hand, dachte wohl an seinen Vater und an seine Mutter und an seine Geliebte – Ja, er war glücklich; mehr brauchte es nicht, um ihn mit freudigen Erwartungen zu erfüllen. – Bei mir – o, bei mir brauchte es unendlich viel mehr ...

Oder war es vielleicht, weil ich keinen Vater und keine Mutter daheim hatte, die sich freuten, mich wiederzusehen? Und keine Liebste, nach der ich mich gesehnt hätte und die mich mit ihrer Liebe erwartete? ...

O nein. Vater und Mutter mochten meinetwegen nur auf dem Kirchhof ruhen – und wenn es auch in meinen Kräften stände, ich würde sie doch nicht wieder ins Leben rufen; es wäre doch nur ein Moment der Langeweile mehr gewesen, ihnen ein frohes Gesicht zeigen zu müssen, wenn ich nach Hause kam. – Und eine Liebste? ... Ja, wenn es im vorigen Jahre gewesen wäre! Aber jetzt ... eine Liebste ... ein Frauenzimmer wie alle anderen ... wie die, bei denen man am Lande über Nacht blieb, vielleicht etwas feiner, aber schließlich doch derselbe Sauerteig – ach nein, so etwas war zum Spielen da, nicht um ernst genommen zu werden.

Im vorigen Jahre aber? – Ach ja, im vorigen Jahre, da war ich ein ebenso großes Kind wie der Youngmann unten auf der Vorderluke.

Wie hatte ich da geschwärmt und wie verliebt war ich gewesen! – Da war zuerst Cousine Emma – Gott, wenn ich an der hängen geblieben wäre! – In meinem Herzen rührte sich keine Fiber mehr, wenn ich an sie dachte; Gott mochte wissen, weswegen ich mich in sie verliebt hatte ... Es war wohl, weil sie so ungefähr die erste Schürze war, die mir am Lande begegnet war. – Und dann war es das Fräulein in dem Restaurant. – Ich lächelte, ihr langes, schwarzes Haar und diese perlweißen Zähne – beides war falsch, wie ich später gehört hatte. –

Und dann zuletzt Margarete. – Ja, sie war ja wirklich ganz nett gewesen, und süß waren ihre sanften blauen Augen und stark ihr blondes Haar; aber, Herr Gott, um das Leben von unsereinem auszufüllen ... o nein, nein, dazu gehörte schon unendlich viel mehr und Höheres ...

Was aber? Was gehörte dazu?

Ja, das mochte der Himmel wissen. Etwas Großes aber mußte es sein, etwas, was mich ganz erfassen und meine Brust mit Jubel erfüllen konnte, daß sie dem Zerspringen nahe war – denn das hieß ja erst zu leben. Da erst ging in Erfüllung, was ich vom Leben geträumt hatte. Da erst würde meine Sehnsucht Ruhe finden. – Bis das aber geschah – was ging mich all das andere an! Das war mir ja alles ganz gleichgültig.

Hier auf dem Ausguck zu sitzen ... das Steuer zu halten ... auf Deck kleine Arbeiten zu verrichten ... in der Hütte zu sitzen, zu rauchen und liederliche Geschichten anzuhören ... oder, wenn wir im Hafen waren, am Tage zu löschen und zu laden und abends an Land zu gehen und Schnaps zu trinken und Frauen zu besuchen – Herr, mein Gott, es konnte doch in der Tat niemand glauben, daß mich so etwas befriedigen konnte! ...

Und wenn ich mir nun am Lande eine Stellung verschaffte, woran ich so oft gedacht hatte – Herr Gott, zum Beispiel in einem Bureau zu sitzen und darüber nachzudenken, wie man möglichst viel Geld verdient ... oder über dem Studium langweiliger Bücher alt und grau zu werden ... oder was ich sonst vielleicht für eine Arbeit ausfindig machen konnte – sollte das vielleicht das Kraut fetter machen?!

Zuweilen hatte ich daran gedacht, Handwerker zu werden – ein kleiner Handwerker mit Frau und vielen Kindern, der vom Morgen bis Abend schuften mußte, um für sich und die Seinen den Lebensunterhalt zu verdienen. Da würde ich vielleicht vergessen können, daß ich jemals das Bedürfnis nach etwas anderem gehabt hatte ... aber nein! Eines schönen Tages würde mich eine Wut erfassen, und ich würde auf- und davongehen ...

O, diese Sehnsucht, diese Sehnsucht, diese unendliche Sehnsucht! Und dieses jämmerliche elende Leben, das in nichts meiner Sehnsucht entsprach! – Welches verächtliche, sinnlose Leben! ...

Oder welchen Sinn hatte denn dieses Leben?! Konnte vielleicht jemand sagen, zu welchem Zwecke wir lebten? ...

»Um die ewige Seligkeit zu erringen,« kam es mir unwillkürlich auf die Lippen.

Ich mußte lächeln.

So? Die ewige Seligkeit?

Wer bürgt mir aber dafür, daß ich mich selig fühlen würde, wenn ich in den Himmel käme? Mir erschien das wahrhaftig nicht besonders interessant, in alle Ewigkeit Lobgesänge zu Gottes Ehre zu singen! ... Und um das nach meinem Tode tun zu dürfen, sollte ich im Leben meine Zeit damit hinbringen, daß ich darüber nachdachte, wie sündig das alles war, was ich sann, sagte und tat – sollte unablässig meine Sünden bereuen und um Jesu Christi willen um Vergebung der Sünden betteln.

Als wenn ich etwas zu bereuen hätte! War es etwa nicht Gott, der mich ins Leben hineingestoßen hatte, ohne daß ich ihn darum gebeten und ohne daß er mich gefragt hätte, ob ich wollte! Und war es denn nicht vielleicht das mindeste, was ich von ihm verlangen konnte, das Leben doch erst so einzurichten, daß ich es lebenswert finden konnte? War das etwa vielleicht nicht seine ganz verfluchte Pflicht und Schuldigkeit?

Diese Schuldigkeit hatte er aber nicht getan! O nein, hatte einer von uns dem andern etwas abzubitten, so war er dazu verpflichtet, nicht ich.

Ach, das war ja wahnwitzig: hier stand ich mit dem rasenden Verlangen in mir nach etwas, das mich ganz ergreifen, das meine Seele erfüllen und mich glücklich machen könnte – und da bot man mir ein Leben in Reue und Zerknirschung!

Was zum Teufel sollte ich bereuen? – daß ich Gott nicht liebte, der das Leben so schlecht eingerichtet hatte? ... daß ich fluchte, weil es so schlecht war, wie es wirklich war? ... daß ich Branntwein trank und Frauen aufsuchte, wenn ich am Lande war, um mein Leben wenigstens mit dem Dreck zu füllen, der zu bekommen war, da Gott nichts Besseres zuwege gebracht hatte?!

Ja, das sollte ich bereuen, und dann sollte ich mein Leben – mein einziges kostbares Leben – ich hatte ja nicht mehrere Leben – damit hinbringen, daß ich an all meine Gedanken, Worte und Handlungen den Maßstab der Luther'schen Auslegung der zehn Gebote anlegte – und dabei sollte ich mich noch erbaut fühlen – sollte gar in dieser kläglichen Beschäftigung ganz aufgehen ... Du großer Gott – wofür hielt man mich denn?!

Nein, du Gott im Himmel droben! – Ich reckte die Hand in die Nacht hinaus. – Steig' von deinem Himmel herab in der furchtbarsten Gestalt, die du annehmen kannst; flieg an den Bug des Schiffes heran und erzähle mir, daß es sich wirklich so verhält, erzähle mir, daß ich das Feuer der Hölle verdient habe; daß du dich meiner erbarmen wolltest, wenn ich mein Leben in Reue und Zerknirschung verbringe und darum bitte, um Christi willen erlöst zu werden; daß ich aber zur Hölle muß, wenn ich das nicht tue; sage mir das in mein offenes ehrliches Gesicht hinein – und ich will deiner spotten; ich habe kein Bedürfnis nach solcher Erlösung, und ich will sie um keinen Preis haben. Dann lieber in den Feuerpfuhl hinab, wo wenigstens die Schmerzen unsere Seele bis zum Wahnsinn erfüllen. Steig herunter! – Und ich stampfte auf dem Deck umher.

Ein Gespensterschauer durchfuhr meinen Leib, die Haare sträubten sich mir auf dem Kopfe, wie ich dort, die Hand in die dunkle sternenhelle Nacht hinausgestreckt, an das Gangspill gelehnt dastand, und ich beugte unwillkürlich mein Gesicht, als erwartete ich wirklich, daß er selber, der Herrgott, in seinem Zorne herniederstiege und mir dies alles verkündete.

Dann mußte ich lächeln. Die Hand sank schlapp herab, und ich schüttelte den Gespensterschauer von mir.

He! Man hätte wirklich glauben können, ich bildete mir ein, es gäbe einen lebendigen Gott, und er sollte so jämmerlich klein sein, daß ich genötigt wäre, ihn zu verachten.

Ich stand auf und ging ein paarmal in dem kleinen Raum vor dem Gangspill zwischen den beiden Krahnbalken auf und ab, um meine Füße zu bewegen.

Und auf der Vorderluke saß der Youngmann noch in derselben Stellung, den Ellenbogen auf das Knie gestützt und den Kopf in der Hand.

Mich überkam eine seltsam wehmütige Stimmung. So hatte ich früher dagesessen, wenn wir uns der norwegischen Küste näherten, und hatte gefühlt, wie meine Brust sich hob und mein Herz bei dem Gedanken an die nahe Heimat stärker schlug ... Und wenn ich sie dann erreicht hatte, was war dann das Ganze gewesen?!

O, aber dies herrliche Vorgefühl!

Ich setzte mich auf den Krahnbalken an Backbord und betrachtete den Youngmann.

Wie, wenn meine Seele in diesen Youngmann übergehen könnte, so daß ich zu seinen Eltern und seiner Liebsten nach Hause kam?

Ich sah mich selber in eine kleine Stube kommen, der Vater sprang vom Sessel auf, lief mir entgegen und drückte meine Hand: Nein, du bist es, Jens; wie geht es dir?

Danke, gut. Und wie geht es euch daheim?

Danke, es ist alles in Ordnung.

Und dann kommt die Mutter aus dem Waschhaus hereingelaufen mit feuchten bloßen Armen – sie ist Waschfrau – und fällt mir um den Hals und küßt mich mit ihrem alten lieben Munde und sagt: O Jens, Jens! Nein, wie geht es dir denn? – Und dann faßt sie mich bei den Schultern, schiebt mich ein Stück von sich weg und sagt, ich sähe gut aus, und währenddem strömen ihr die Tränen die Wangen hinab.

Dort am Fenster aber sitzt sie, Gina, die Liebste. Ihr sind die Hände mit dem Nähzeug in den Schoß gesunken, und sie sieht still, schamhaft, mit den großen lieben Augen zu mir auf. Und ich gehe langsam zu ihr, die Augen fest auf sie gerichtet, fasse ihre Hand, gleite still aufs Knie vor ihr nieder, lege meinen Kopf in ihren Schoß und weine ...

Nein, nein, so würde der Youngmann freilich nicht handeln. – Wie würde er sich wohl benehmen? Wer weiß – Na, das kann mir ja auch gleichgültig sein ... Käme dann alles wieder ins gewohnte alltägliche Geleise, dann würde ich ja doch über das Ganze nur lächeln und das Glück des Youngmanns vernichten, wie ich mein eigenes vernichtet hatte. – Nein, mag er er bleiben; es ist genug, daß ich ich bin.

Ich stand von dem Krahnbalken auf, lehnte mich wieder gegen das Gangspill und sah ins Weite.

Der Wind blies gleich frisch, das Schiff tanzte gleich leicht über die See. Es fuhr vorwärts, den Bug hoch über das Wasser erhoben, schoß dann seine schwarze Brust in die Wogen, wie um sich abzukühlen, spaltete sie mit seiner starken Brust und warf zu beiden Seiten große weiße schaumgekrönte Wellen auf; hob dann wieder seine Brust, wie um zu atmen, während es unablässig weiterfuhr, schoß dann von neuem in die kühlen Wogen hinab und spaltete sie wiederholt – ohne Unterlaß.

Von diesem Spiel mit den Wogen hatte ich dereinst geträumt, dies sei dasselbe wie das Leben – mein Gott! ...


Ich war etwa drei Wochen in Christiania gewesen, ohne einen Bekannten aufzusuchen. Da traf ich zufällig eines Tages einen meiner Brüder auf der Straße und unterhielt mich mit ihm; er erzählte mir unter anderem im Verlauf des Gespräches, daß die Verlobung Margaretes vor einigen Wochen zurückgegangen sei. Das erweckte in mir plötzlich das Verlangen, sie wiederzusehen und wieder einmal mit ihr zu sprechen; und ich nahm eine Droschke und fuhr zu ihr hinaus. Es war am Nachmittag, gerade zu Anfang der Dämmerung; als ich klingelte, öffnete sie mir selber: »Nein, guten Tag, guten Tag,« – sie gab mir die Hand – »Willkommen zu Hause!«

»Danke; wie geht es?«

»Danke, gut. Und wie geht es dir?«

»Ach, so la la, weder gut noch schlecht.«

Wir gingen in die Wohnstube – sie war allein zu Hause. Ich sah mich in dem bekannten Zimmer um.

»Ganz wie das erstemal,« sagte ich, begab mich dann in das Speisezimmer nebenan und sah mich auch dort um. Sie war mir gefolgt.

»Du,« sagte ich, »es ist ganz eigentümlich, so an bekannte Stätten zurückzukommen – es ist, als hätte man einen Teil seiner selbst dagelassen, wo man gewesen ist.« Sie erwiderte kein Wort, setzte sich aber an den kleinen Nähtisch neben dem Fenster und sah hinaus. Ich nahm ihr gegenüber an der andern Seite des Nähtisches Platz und blickte ebenfalls hinaus. – Eine Zeitlang sprachen wir kein Wort.

Dann sagte ich plötzlich: »Warum wurde denn deine Verlobung aufgehoben?«

Sie wandte mir langsam das Gesicht zu und sagte, wie in Gedanken versunken: »Ich liebte ihn nicht.«

Ich sah sie eine Weile an, dann fragte ich wieder: »Glaubst du an Liebe?«

Sie sah erstaunt zu mir auf: »Warum nicht?« sagte sie. »Glaubst du nicht an Liebe?«

»Nein, das heißt, nicht an die große Liebe, die fürs Leben anhält. Die Liebe kommt, sie geht auch wieder. Sie ist eine Illusion, die zergeht und zergehen muß.«

»Und weshalb muß die Liebe vergehen?« »Weil ein armes Menschenkind kein so großer Gegenstand ist, daß er uns das Leben lang ausfüllen könnte. Dazu gehört etwas Größeres, etwas unermeßlich viel Größeres und Höheres.«

»Und das wäre?«

»Ja, wenn ich das wüßte, dann säße ich wahrhaftig nicht hier; dann wäre ich unterwegs, um es aufzusuchen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte sie, »ich glaube, daß die Liebe das Größte ist. Aber – ach, ich fürchte nur so sehr, daß sie nicht kommt. Kannst du dich erinnern: du fürchtetest das auch, als du das letztemal zu Hause warst. Und da glaubtest du an die Liebe. Ich glaube noch an sie – und ich werde immer an sie glauben.« – Die letzten Worte klangen wie ein Vorwurf. »Ja,« sagte ich, »freue dich, solange du noch daran glauben kannst; denn so lange liegt das Leben vor dir. Ich habe es hinter mir ... Und es ist nicht angenehm, es hinter sich zu haben. Weißt du, wo ich in den drei Wochen, die ich jetzt zu Hause bin, mich herumgetrieben habe? – Meistens in einer Droschke. Ich miete sie für die Stunde, steige hinein, zünde eine Zigarre an, lehne mich in die eine Ecke und fahre dann durch die Straßen der Stadt. Bald schnell, bald langsam. An allen Menschen vorüber, die vorübergehen und beschäftigt sind, der eine mit dem, der andere mit jenem. – Ich sitze da und sehe sie an. Einige gehen mit feierlichen Mienen, als ob die Welt zusammenstürzen würde, wenn sie nicht wären. Andere eilen geschäftig weiter, als gelte es, zum bestimmten Glockenschlage zugegen zu sein. Andere wieder nehmen die Sache ruhiger. Aber irgendwohin sollen sie doch, etwas haben sie zu tun, mit etwas sind sie alle beschäftigt; ich sitze nur in meiner Ecke zusammengesunken da, die Zigarre zwischen den Zähnen, und sehe ihnen zu; ich komme nirgendsher und soll nirgendshin; ich habe nichts mit ihnen allen zu schaffen, und sie nichts mit mir: ich sitze allein mit meinen Gedanken da und fahre an ihnen vorbei, so wie auch ein einsamer Reisender an einem großen geschäftigen Ameisenhaufen vorübergeht. – Du kannst mir glauben, das ist eine eigentümliche Empfindung! Zuweilen kann ich mich zwar stolz fühlen, wenn ich so dasitze und alle Menschen verachte, die nicht größer sind, als daß sie in solchen Kleinigkeiten aufgehen – ach, aber so einsam und traurig ... so kalt und so leer ...«

Sie hatte, während ich sprach, zum Fenster hinausgesehen. Jetzt kehrte sie sich nach mir um und sagte langsam: »Ja, aber warum willst du nicht auch sein wie die andern? – Oder wie du früher warst?«

»Ob ich es will! – Wenn ich nur könnte!«

»Du kannst es, du kannst es – wenn du nur ernsthaft willst,« und sie sah mir mit ihrem sanften Blick in die Augen. Wie ein Hauch aus alten Tagen kam es über mich: – O, wenn sie mich liebte! Und ich ergriff ihre weiße Kinderhand und bog mein Gesicht zu ihr hinüber.

»Ich will! Ich will!« flüsterte ich krampfhaft und drückte ihre Rechte mit beiden Händen. »O, Margarete – liebe mich, erfülle mich mit dir, brenne dein liebes Gesicht in meine Seele hinein mit der Macht der Liebe, daß es mein Denken mit Sehnsucht nach dir erfüllt, wenn ich von dir fern bin, und mich vor Glück vergehen läßt, wenn ich bei dir bin ... Liebe mich – ich will keinen anderen Gedanken haben als dich.«

Ich war vor ihr aufs Knie gesunken, vergrub mein Gesicht in ihren Schoß und schluchzte laut auf. Und sie faßte sanft mit beiden Händen meinen Kopf, beugte sich zu mir herab und küßte mich aufs Haar. »Hermann,« flüsterte sie, »Gott, wie ich dich liebe.«

Und sie blieb sitzen, meinen Kopf in ihren Händen haltend und mein Haar streichelnd.

Da fuhr auf einmal ein Frostschauer durch meinen Leib, und ich hob den Kopf und sah zu ihr auf. Sie weinte ebenfalls.

»Margarete,« flüsterte ich und begann wieder zu weinen. »Es ist zu spät. Ich kann nicht ...« Und ich verbarg mein Gesicht wieder schluchzend in ihrem Schoß.

Ihre Hand sank schlaff herab. Sie sprach kein Wort. Dann hörte ich auf zu schluchzen, stand still auf und setzte mich wieder ihr gegenüber. Sie starrte gerade vor sich hin.

»Margarete!« Sie wandte sich mechanisch mit geistesabwesendem Blicke mir zu.

»Margarete, nun weiß ich, weshalb ich nicht kann. – Weil ich will. – Wenn die Liebe kommt, stürzt sie sich über uns wie ein Raubvogel auf seine Beute. Sie läßt sich aber niemals fangen. Wir dürfen nicht wollen. Für mich aber ist das Leben eine öde Leere; ich schreie nach Fülle, deshalb muß ich wollen. – Und da flieht die Liebe ... Ich könnte es unterlassen, zu wollen – das könnte aber nur geschehen, wenn ich das Wollen unterlassen wollte. Und das wäre ja nur ein Umweg. Dann behielte ich ja doch die Liebe im Auge – und die läßt sich nicht fangen.«

Sie sprach kein Wort, saß nur da und starrte vor sich hin. Dann ergriff ich wieder ihre Hand. »Margarete,« sagte ich, »ich habe dich lieber als irgendeinen Menschen sonst auf der Welt. Hätte mich jemand retten können – so wärst du es gewesen. Es ist aber zu spät ... O, wäre dies vor einem Jahre geschehen ... wer weiß, vielleicht wäre es dann nicht so weit mit mir gekommen, wie jetzt ... vielleicht wäre ich dann gerettet worden. Jetzt aber – ach, es ist zu spät; mein Leben ist für immer zugrunde gerichtet – wenn es nicht etwas gibt, das größer ist als die Liebe, etwas, was imstande ist, mich ganz und gar im Nu zu ergreifen, so daß ich mich ihm für immer hingeben muß, muß, muß! ... Ob es das aber gibt – ich weiß nicht, wo ich es suchen soll, ich habe keine Ahnung, wo es zu finden ist ...«

Sie starrte immer noch ins Leere und sprach kein Wort.

»Eines aber will ich tun,« sagte ich dann, »ich will mich zwingen, dich nicht mehr zu sehen. Wenn ich dann von unwiderstehlicher Sehnsucht nach dir ergriffen werden sollte – o, würde ich es – o, sag', sage mir: würdest du mich dann gut aufnehmen?«

Sie antwortete nicht. Ich drückte ihr leise die Hand: »Margarete ... wenn ich zurückkäme und nur einen Gedanken, eine Sehnsucht, eine Hoffnung hätte: Dich – würdest du mich dann von dir stoßen?«

»Nein,« sagte sie leise vor sich hin, ohne mich anzusehen.

Ich stand auf –: »Ja, dann wollen wir Abschied nehmen! – Und entweder sehen wir uns niemals wieder, oder auch – o, wenn das möglich wäre!«

Sie hatte wieder den Kopf auf ihren Arm gelegt und weinte still vor sich hin. Ich beugte mich über sie und küßte ihr Haar, und meine Tränen tropften darauf hinab. Dann schlich ich still hinaus. – – –

Ich habe sie nie wiedergesehen.


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