Hans Jäger
Kristiania Bohême
Hans Jäger

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III.

Es war im Frühling des nächsten Jahres an einem Nachmittag, kurz nach fünf Uhr. In demselben kleinen, auf den Hof hinausgehenden Zimmer lag Jarmann auf dem Sofa mit halbgeschlossenen Augen ausgestreckt, so lang wie er war. Die Hand, die die Tabakspfeife hielt, war vom Sofa herabgesunken und hing schlaff herab. Die Pfeife war ausgeraucht, das kleine Zimmer war mit frischem Tabaksqualm erfüllt; nach dem schweren Mittagessen hatte er gedampft wie ein Schlot.

Er versuchte die Augen ganz zu öffnen, aber die Augenlider fielen ihm wieder matt herab ...

... Ach, wenn er doch nicht so müde wäre !– er wollte so gern gleich wieder zu ihr gehen. Aber es war unmöglich; er mußte sich erst etwas ausruhen. Verflucht auch, daß er so gierig essen mußte; das hatte ihn natürlich so schläfrig gemacht ... Ach, wie herrlich sie war! ...

Er hatte sie getroffen, als er aus der Schule kam. Er war zusammengefahren, als er sie erblickt hatte, so schön war sie, und er war stehen geblieben und hatte sie bewundernd betrachtet, bis sie darauf aufmerksam wurde. Da war sie auch schon stehen geblieben, hatte ihn angesehen und gelächelt, und dann hatte sie gesagt: »Komm mit!« – und war weiter gegangen.

Die Schulbücher unter dem Arme, war er ihr gefolgt ...

Er kam in ein kleines, behagliches Zimmer mit dunklen Gardinen und rotbraunen Polstermöbeln. Er warf seine Schulbücher auf den Tisch und setzte sich in den Schaukelstuhl mitten im Zimmer. Sie legte ab, setzte sich auf seinen Schoß und sah ihn mit großen, tiefen braunen Augen ins Gesicht.

»Ich habe kein Geld«, sagte er verlegen.

Sie lächelte –: »Ich habe dich auch nicht deswegen mitgenommen.«

»Weshalb denn?«

»Weil du mir gefielst. Gefall' ich dir?«

»Ob Sie mir gefallen? Du großer Gott, Sie sind ja schön wie die Sonne!« Und er faßte sie bei den Schultern und wollte sie küssen. Sie aber wich lachend aus und sagte: »Nein, hast du aber prächtige Zähne.«

»Und Sie?«

Er schlang die Arme um ihren Hals, zog ihren Kopf zu dem seinen herunter und zeigte seine Zähne. Sie tat dasselbe. Sie hielten die glänzend weißen Zahnreihen gegeneinander, lachten dann beide laut und fingen an, sich zu küssen.

... Er wollte ihre Brust an die seine drücken; aber es gelang ihm nicht. Sie saßen in dem Schaukelstuhl zu unbequem. Er sah sich um; es war kein Bett da, aber dort war eine Tür – und fragend sah er zu ihr auf. Sie nickte und lächelte; sie war seinen Augen gefolgt und hatte verstanden.

Sie gingen zusammen durchs Zimmer, er den Arm um ihren Leib, sie den Kopf an seiner Schulter. Die Tür war angelehnt; er stieß sie auf, und sie kamen in ein kleines halbdunkles Schlafzimmer; die dunklen Gardinen waren vor das Fenster gezogen.

»Wollen wir uns ausziehen?« fragte sie, als sie vor dem Bette standen.

»Nein!« flüsterte er leidenschaftlich, faßte sie bei den Schultern, drückte sie behutsam aufs Bett und legte sich zu ihr. – –

... Zusammengeschlungen lagen sie Wange an Wange bei einander. Plötzlich faßte sie ihn bei der Stirn, schob seinen Kopf etwas von dem ihren weg und sah ihn mit den großen Augen an, die infolge der im Zimmer herrschenden Dämmerung noch einmal so dunkel erschienen – »Hast du mich gern?« fragte sie zärtlich.

Ihm traten Tränen in die Augen, und er antwortete nicht, barg nur seinen Kopf an ihrer Brust wie ein Kind – das war ihm noch niemals widerfahren, daß ein Weib, das er besuchte, ihn gern hatte.

Und er empfand eine unsagbare Zärtlichkeit, und die paar Stunden, die er bei ihr war, waren die herrlichsten Stunden seines Lebens. Zu wissen, daß sie ihn wirklich gern hatte ... es in ihren herrlichen Augen zu lesen ... es in jeder kleinen Bewegung, die sie vollzog, zu fühlen – o, noch nie zuvor hatte er gewußt, was das bedeutete.

Er entkleidete sie nach und nach, zog ihr ein Kleidungsstück nach dem andern weg, bewunderte sie, küßte sie und legte sich zu ihr, schmiegte sich von allen Seiten an sie, wickelte seinen Kopf in ihr schweres, schwarzes Haar und biß hinein, wand sich wieder heraus, nahm ihr noch ein Kleidungsstück fort und bewunderte und küßte sie von neuem, und immer wieder ins Unendliche – erfüllt von unersättlicher Begierde nach diesem herrlichen Weibe, das ihn gern hatte.

Und sie lag so wunderbar lässig und zärtlich unter seinen Liebkosungen da, fuhr ihm nur sanft über den Kopf und über den Rücken und drückte ihn leise an sich, sobald sie vor Wollust erzitterte.

Er hatte sich wieder aus ihrem Haar herausgewickelt und sah zu ihr auf; sie war auf einmal so still geworden und starrte gerade vor sich hin. Nachdem er sie eine Weile betrachtet hatte, sagte er: »Woran denkst du?« – Sie antwortete ihm nicht sofort. »Woran denkst du?« fragte er wieder. Da kehrte sie ihm ihr Gesicht zu und sagte langsam: »An dich!« während in ihre Augen ein schwermütiger, vergrämter Ausdruck schlich.

Er antwortete nichts, blieb nur liegen und fuhr fort, sie zu betrachten. Ihm war mit einem Male, er wußte nicht, woher es kam, ganz traurig zumute geworden.

– – – Er lag auf dem Rücken, den Kopf in ihrem Arm, unheimlich matt, er empfand in der Brust einen fürchterlichen Druck. Und es wurde immer schlimmer, vor seinen Augen begann alles zu tanzen. Matt strich er mit der Hand über die Stirn; sie war kalt und feucht.

Sie beobachtete ihn eine Weile, ohne daß er es bemerkte, legte ihm dann die Hand auf die Stirn und sah ihm ängstlich ins Auge. »Was fehlt dir?« fragte sie zärtlich. »Bist du krank?«

»Nein. Es kommt gewiß nur daher, daß ich noch nichts gegessen habe«.

»Armer Junge«, sie legte die Wange an die seine und liebkoste ihn wie ein kleines Kind – »freilich, es ist ja wahr – du kamst ja gerade aus der Schule. Und ich – daß ich gar nicht daran gedacht habe – nun mußt du nach Hause gehen und essen.«

Er antwortete nicht, lehnte nur den Kopf matt an ihre Schulter und schloß die Augen, während ein Frostschauer durch seinen Leib fuhr. Sie sprang nackt wie sie war auf, und holte eine Flasche Bier hervor.

Er öffnete die Augen und sah ihr zu, wie sie mit einer geschickten Bewegung des Handgelenkes die Flasche öffnete. Der weiße Leib glänzte im Halbdunkel ... Du großer Gott, welche Formen! – so schlank und geschmeidig und elegant bei all ihrer Fülle! ... Und das herrliche Haar! Es reichte ihr bis zum Kreuz hinab ...

Sie stellte zwei große Wassergläser auf den Tisch neben dem Kopfende des Bettes und schenkte ein.

... Und so rein und keusch, wie sie aussah! – gleich einer nackten Jungfrau, die allein ist ... daß Keuschheit und Unkeuschheit einander so ähneln konnten!

»Trink!« sagte sie und reichte ihm das eine Glas; sie selber nahm das andere. Er richtete sich im Bette auf, trank gierig das Glas leer, ohne abzusetzen, und legte sich dann wieder aufs Kissen.

Der Trank erquickte ihn. Sie saß auf der Bettkante und betrachtete ihn. »Hat es wohl getan?« fragte sie nach einer kleinen Pause.

»Ja, jetzt ist mir viel besser.«

Er befand sich auch wirklich wieder ganz wohl, und seine Augen glitten unwillkürlich von ihrem Gesicht auf den nackten Leib herab. Sie errötete, zog das Leintuch über die Schenkel, beugte sich über ihn und küßte ihn: »Wenn dir besser geworden ist, so wird es das Beste sein, du stehst auf, gehst nach Hause und ißt, bevor du wieder herkommst«, sagte sie.

»Ach nein!« – er schlang den Arm um ihren Hals und küßte sie – »jetzt soll ich von dir gehen! Nun ist mir ja wieder ganz wohl.«

»Sei doch nun vernünftig«, sagte sie; »ich möchte nicht, daß du hier krank würdest, und du kannst ja wieder kommen, wenn du gegessen und dich etwas ausgeruht hast.«

Sie kleideten sich an. Sie zog nur die Unterkleider an; auch sie wolle ihre Mittagsruhe halten, sagte sie und legte sich, bis er fertig war, aufs Bett. Dann stand sie auf, um ihm zu öffnen. An der Tür fiel er ihr leidenschaftlich um den Hals –: »O, ich habe dich so gern! so gern! so gern!« flüsterte er.

»Du bist ein süßer Junge!« – sie tätschelte ihn – »komm also wieder, wenn du gegessen und dich ausgeruht hast.«

Zum Abschied küßte er ihr respektvoll die Hand. Sie lachte darüber etwas geniert; aber er sah wohl, daß es ihr gefiel.

Als er an dem Garten vor dem Hause vorüberkam, blieb er einen Augenblick stehen und betrachtete ihn. Er sah nun, so schien es ihm, noch einmal so heimlich aus wie vorher ... ach, wenn das sein Garten gewesen wäre! und sein Haus! und wenn sie ihm gehörte! ...

Melancholisch schüttelte er den Kopf und eilte heimwärts. Es war nach 4 Uhr. Das Speisehaus war geschlossen. Die Wirtin verschaffte ihm trotzdem einiges Essen, und er aß gierig und trank zwei Glas Bier. Dann ging er in sein Zimmer, bekam seinen Kaffee und legte sich aufs Sofa, um zu rauchen. Wenn er die Pfeife zu Ende geraucht hätte, wollte er wieder zu dem Mädchen gehen.

Dann war aber diese verdammte Schläfrigkeit über ihn gekommen, die Glieder waren schwer wie Blei, und er konnte sich nicht von der Stelle rühren.

Die Pfeife fiel zu Boden. Die Augen hatten sich geschlossen, und er träumte davon, daß er wieder seinen Kopf gegen ihre warme Brust gelehnt habe. Er ruhte – o, wie gut er ruhte!

Mit einem Male fuhr er auf, blieb, auf den einen Arm gestützt, halb aufgerichtet sitzen und starrte ein männliches Wesen an, das mitten im Zimmer stand. Es klang ihm noch im Ohr, daß geklopft worden war; er war aber erst erwacht, als die Tür geöffnet wurde.

... Aber das war ja Henschen? ... er blickte im Zimmer umher ... richtig, er war ja nicht bei ihr, sondern zu Hause in seinem Zimmer, und er legte sich matt aufs Sofa zurück und schloß die Augen. Es war ihm unbehaglich zumute.

Dieser Henschen, immer noch sein einziger Kamerad, war sein fleischgewordenes Gewissen, seitdem er sein eigenes zum Schweigen gebracht hatte; im Grunde genommen konnte er ihn nicht ausstehen, konnte ihn aber doch nicht entbehren.

»Störe ich dich vielleicht?« fragte Henschen.

»Ach – ich wollte mich gerade etwas ausruhen!« Er öffnete die Augen halb.

»Das ist dumm, ich hätte dir gerne mein Gedicht vorgelesen – ich bin damit fertig.«

Jarmann sprang auf. »So? Laß hören!« sagte er eifrig, setzte sich, ganz wach, in die Sofaecke und sah recht interessiert drein.

Henschen setzte sich an den Tisch am Fenster, zog das Manuskript hervor und las.

Es war ein langes Gedicht, in passablen Versen geschrieben, dessen Inhalt folgender war:

Ein junger Mann, natürlich ein Student, ist darauf aufmerksam geworden, wie heutzutage Schriftsteller dadurch berühmt werden, daß sie unsittliche Bücher schreiben. Er will auch berühmt werden, und so setzt er sich denn hin und schreibt ein großes unsittliches Drama. Am Neujahrsabend sitzt er in seiner Dachkammer und legt die letzte Hand an sein Werk, während unter ihm Eltern und Geschwister mit andächtigem Gesang Weihnachten feiern. Endlich ist er fertig. Guter Dinge lehnt er sich in seinen Schaukelstuhl zurück, schaukelt ein paarmal auf und ab und verfällt dann in Schlaf.– – – Es klopft an die Tür, und ins Zimmer tritt eine vermummte Gestalt. Sie sagt: Komm mit! Er kann nicht widerstehen, er muß gehorchen. Sie gehen hinaus, durchwandern verschiedene Straßen und gelangen endlich ins Theater. Sie treten ein und nehmen in der ersten Reihe der Proszeniumsloge Platz. Der Vorhang ist noch nicht in die Höhe gegangen. Während sie warten, betrachtet er das Publikum. Das Haus ist bis auf den letzten Platz gefüllt, – aber alle Zuschauer sind Skelette! Entsetzt sieht er seinen Begleiter an und fragt, was das zu bedeuten habe. »Das sind alles«, antwortete die Gestalt, ,?Leute, die du durch dein unsittliches Stück auf Abwege gebracht hast und die seither gestorben und in die Hölle hinabgefahren sind. Jeden Neujahrsabend kommen sie hierher und sehen sich das Stück wieder an, das sie ins Verderben gestürzt hat.« – In demselben Augenblicke wenden alle die Toten ihre Augen nach der Loge: sie haben ihn entdeckt. Sie heulen, stehen auf und recken ihre Knochenarme mit den gekrümmten Fingern zu ihm empor, als ob sie ihn packen wollten. Er fährt auf und will hinaus. Die Gestalt hält ihn aber zurück. Verzweifelt kämpft er, um sich loszureißen; er schreit – und da erwacht er, schweißbedeckt, in seinem Schaukelstuhle. Er fährt empor, reibt sich die Augen, ergreift das fertige Drama und wirft es in den Ofen. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß es die Flammen bis auf den letzten Rest verzehrt haben, geht er zu den Eltern und Geschwistern hinunter und umarmt sie – Ende.

Jarmann war begeistert. »So muß es ihnen gegeben werden!« rief er. »Solche Bücher müssen in unseren Tagen geschrieben werden. – Hast du schon einen Verleger?«

»Nein.« Henschen war drei-, viermal an Cammermeyers Verlagsbuchhandlung vorübergegangen, hatte jedoch nicht hineinzugehen gewagt.

»Das werde ich besorgen«, sagte Jarmann. Und er kleidete sich an, und sie gingen beide zu Cammermeyer.

Jarmann mußte allein hineingehen. Cammermeyer empfing ihn sehr kühl, versprach aber, das Manuskript von einem seiner literarischen Berater durchsehen zu lassen. In etwa acht Tagen sollte er Antwort erhalten.

Nachdem Jarmann Henschen Mut zugesprochen hatte – es sei ja klar, daß solch ein Gedicht angenommen werden müsse – begab er sich allein nach Hause; Henschen ging wie gewöhnlich heim, um zu studieren.

Als Jarmann bei sich angekommen war, ging er in dem Gefühl, etwas ausgerichtet zu haben, vergnügt in seinem kleinen Zimmer auf und ab. Das war ja richtig: er selber war nicht mehr zu retten; das fühlte er; er wollte aber auf alle Fälle alles tun, was in seinen Kräften stand, damit andere nicht denselben Weg gingen ... das war ihm wenigstens ein Trost ...

Er dachte an den norwegischen Aufsatz, den er zu schreiben hatte – die norwegischen Aufsätze waren die einzigen Schularbeiten, mit denen er sich gerne beschäftigte. Es machte ihm Spaß, sie zu schreiben, und er wurde immer dafür belobt. Diesmal sollte er über den schädlichen Einfluß der Lektüre von Romanen auf die Jugend schreiben. Er hatte den Aufsatz erst in acht Tagen abzuliefern; aber er fühlte sich gerade jetzt zum Arbeiten aufgelegt und wollte gleich daran gehen. – Denn zu ihr wollte er nicht wieder hingehen! – wenigstens heute nicht!

Er setzte sich hm und entwarf eine Skizze dessen, was er vor einem Jahre an jenem Nachmittag und Abend erlebt hatte, als er zum ersten Male ins Leben hinauszog. Eine bessere Illustration zur Schädlichkeit der Romanlektüre, meinte er, liehe sich gar nicht finden.

Eben war er mit dem Entwürfe fertig, als das Abendessen ins Zimmer gebracht wurde, und er verschob die weitere Bearbeitung bis nach dem Abendmahl.

Als er aber gegessen und seine Pfeife angezündet hatte und sich nunmehr wieder an die Arbeit setzen wollte, war er ganz und gar nicht mehr dazu aufgelegt.

Er lehnte sich in dem Stuhle zurück und streckte die Beine weit von sich –: hu! wie trist war es doch in dem engen Zimmer! ... er hielt es nicht aus, länger sitzen zu bleiben.

Wohin sollte er aber gehen? – zu ihr wollte er ja heute abend nicht ...

Er überlegte eine Weile, während er auf das graue Rouleau starrte, auf dem die Erlöserkirche zu sehen war. Dann war er mit einem Male schnell entschlossen, legte die Pfeife weg und ging doch zu ihr. –

Er stand klopfenden Herzens auf dem Treppenabsatz vor ihrer Tür, leise klopfte er an. Sie öffnete die Türe halb und sah in die Dunkelheit hinaus. »Wer ist da?«

»Ich bin es!«

Da öffnete sie die Türe ganz und ließ den Schein der Lampe auf ihn fallen. »Ach, du bist's? warum kommst du erst jetzt?«

»Ich wurde abgehalten.«

»Ja, nun ist es zu spät. Es ist jemand da.«

Er sah sie mit großen glänzenden Augen an, nahe daran, in Tränen auszubrechen, und sie ergriff wieder diese merkwürdige Lust, dieses Kind zu besitzen.

»Warte«, flüsterte sie leise. »Ich jage ihn fort. Warte unten an der Treppe.«

Er eilte hinunter und wartete. Dann wurde oben die Türe geöffnet; er hörte eine Mannesstimme ärgerlich fluchen, und dann kam ein Herr die Treppe herunter und schritt seiner Wege.

Er eilte hinauf, warf sich ihr um den Hals und weinte vor Dankbarkeit. Auch sie war gerührt. Durch das Opfer, das sie gebracht hatte, wurde er ihr noch teurer.

»Du sollst die Nacht bei mir bleiben«, sagte sie und schloß die Tür ab. »Wir wollen uns gleich ausziehen.«

Er wollte auch nichts anderes, und sie gingen in das kleine Schlafzimmer und nahmen die Lampe mit. Er nahm auf dem Stuhl am Fußende des Bettes Platz, und sie setzte sich auf seinen Schoß und küßte ihn. »Ich will dich entkleiden«, sagte sie; »du darfst dich nicht rühren!« Und sie fing an, ihn zu entkleiden wie ein Kind.

Dann bat er darum, auch sie entkleiden zu dürfen.

»Gewiß!«

Das bereitete ihm ein köstliches Vergnügen, und er entkleidete sie unter unzähligen Liebkosungen, bis er sie schließlich in seine Arme nahm und zum Bett trug. Darauf löschte er die Lampe aus ...

Sie war die schönste Prostituierte in der Stadt.

Einen Monat lang kam er Tag für Tag, hielt fast jeden Tag seinen Mittagsschlaf bei ihr bis gegen Abend und blieb gewöhnlich auch dann noch sitzen und unterhielt sich mit ihr über dies und das, während sie ihr Haar aufsteckte und für den Abend Toilette machte. Einige Male blieb er auch die Nacht über; aber das geschah nur anfangs.

Wenige Tage nämlich, nachdem er sie kennen gelernt hatte, saßen sie eines Abends zusammen auf dem rotbraunen Polstersofa zwischen den beiden Fenstern und plauderten. Er gedachte dazubleiben. Doch da klopfte es, und als sie nachgesehen hatte, wer es war, sagte sie, er müsse gehen; es sei jemand, den sie erwartet habe.

Er sah sie flehentlich an; aber es half nichts –: Herrgott, er müsse doch einsehen, daß sie leben müsse ...

Da stand er auf und ging.

Es verstrich einige Zeit, bis er es wieder versuchte, am Abend zu kommen. An einem Abend aber fand er sich dann doch wieder ein.

Sie empfing ihn, aber widerwillig –: »Du kannst nicht bleiben,« sagte sie.

»Ich habe 10 Kronen,« brachte er verschämt hervor.

Sie sah ihn an und sagte kalt: »Das ist zu wenig.«

Er wurde blaß und sah tiefunglücklich aus.

»Aber du sollst doch umsonst dableiben dürfen«, sagte sie dann und küßte ihn. Und sie schloß die Türe ab.

»Nimm sie trotzdem,« sagte er und hielt ihr die zehn Kronen hin.

»Du bist ein Kindskopf. Behalte deine Kronen. Du brauchst sie nötiger als ich. Was wir miteinander haben, das hat nichts mit Geld zu tun.«

Er blieb, kam aber abends niemals wieder. –

Eines Nachmittags, als er weggehen wollte, erzählte sie ihm, daß sie am anderen Tage nach Stockholm reisen werde. »Auf wie lange?«

»Auf ein oder zwei Jahre.«

Er war ganz verzweifelt. Was sollte denn ohne sie aus ihm werden? Wohin sollte er denn gehen? Was sollte er anfangen?

Ach, er würde sich schon zurechtfinden.

»Erwartest du heute abend jemand?«

»Ja.«

»Also nie wieder?!«

Er war dem Weinen nahe, bezwang sich aber.

»Ja, ja,« sagte er, »Dank für ...« – er fand nicht die rechten Worte, ergriff nur ihre Hand, hielt sie eine Weile fest und sagte dann: »Und wenn ich hundert Jahre alt werde, vergeh ich niemals den Tag, an dem wir uns kennen lernten ... Adieu!«

Und er zog seine Hand zurück, wandte sich ab und wollte gehen, um die Tränen nicht sehen zu lassen, die ihm aus den Augen stürzten.

Sie hatte sie aber gesehen. Und sie faßte ihn am Arm und hielt ihn zurück, warf sich ihm um den Hals, küßte seine Tränen weg und sagte: »Nein! Du sollst doch die letzte Nacht bei mir bleiben; du bist der einzige, der mich wirklich lieb hat.«


Dann reiste sie ab.

Er blieb einige Tage zu Hause und trauerte. Dann fing er aber wieder an, in alter Weise auf Frauenzimmer Jagd zu machen, und bald war sie ihm nur noch eine wehmütige Erinnerung.


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