Hans Jäger
Kristiania Bohême
Hans Jäger

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IV.

Wieder war ein Jahr vergangen. In wenigen Monaten sollte er die Reifeprüfung absolvieren. Er wohnte nicht länger in dem kleinen, engen Zimmer, das auf den Hof hinausging; er war in Pension beim Schuldirektor.

Die Sache war die: das letzte Examen hatte er gerade noch so weit bestanden, daß er als letzter in die oberste Klasse gekommen war, und niemand glaubte, daß er im nächsten Jahre Student werden könnte. Da hatte denn der Direktor, ein Jugendfreund von Jarmanns Mutter, nach Hause geschrieben, und er hatte hinzugefügt, schlechte Begabung sei gewiß nicht an dem Ergebnisse schuld, aber der Junge sei auf Abwege gekommen und arbeite nichts. Da hatte nun wieder die Mutter dem Direktor geschrieben und ihn inständig gebeten, sich ihres lieben Jungen anzunehmen – auf irgendeine Weise, wie er es selbst für das Beste hielte.

Frau Jarmanns Brief erweckte in der Brust des Direktors einige wunderliche Gefühle; sie war seine einzige Jugendliebe gewesen, er hatte sie später weder gesehen, noch von ihr gehört, wußte nur, daß sie in einem »dürftigen Heim auf dem Lande mit einem Manne, her sie nicht verstand, wenig glücklich« leben solle – und er entschloß sich, den Jungen ins Haus zu nehmen und zu sehen, was sich aus ihm machen lasse, bis er Student werde.

Der Direktor bewohnte die erste Etage eines vornehmen, schlichten, zweistöckigen Hauses mit Vorgarten. Das Gartenzimmer mit der Veranda und zwei rechts und links davon gelegene kleine längliche Eckzimmer nahmen die ganze Vorderseite des Gebäudes ein. Jarmann wohnte in dem einen Eckzimmer, das über einen eigenen Eingang verfügte, und hier saß er den ganzen Nachmittag und Abend fast immer allein, die Schulbücher vor sich aufgeschlagen, an dem Tisch vor dem Gartenfenster. Er studierte aber nie, saß nur in den Schaukelstuhl zurückgelehnt da, schaukelte sich langsam auf und ab, während er auf die Bäume des Gartens und des anstoßenden Parkes hinausstarrte, und ließ seine Gedanken spazieren gehen, wohin sie wollten.

Eines Abends gegen neun Uhr. Die Sonne war untergegangen, doch war es noch ziemlich hell. Das Fenster stand offen, die Luft war kühl und still. Ein schwaches Sausen von den Laubbäumen herüber. Er sah da und träumte – von der Heimat: vom Wald, von der See und von den Bergen – und eine wehmütige Sehnsucht bemächtigte sich seiner ...

Ach, wäre dies seines Vaters Garten, und wäre der Park dort drüben das kleine Wäldchen, das er so gut kannte! ... Ach, könnte er doch nur quer durch das Wäldchen streifen und auf der anderen Seite wieder auftauchen, dort oben Halt machen und hinabsehen auf den engen, düstern Fjord tief unten zwischen den steilen, lotrecht abfallenden Bergwänden ... dann dort rechts den schmalen Steg hinabspringen, den Zaun des Nachbars entlang bis hinunter zur Landungsbrücke im Fjord, könnte er dort ins Boot springen, es losketten, sich auf die Ruderbank setzen, die Riemen ergreifen und weit auf den Fjord hinausrudern ... sie dort draußen dann einziehen, sich im Hintersteven des Bootes hinwerfen, die Hände unter dem Kopf und die Augen geschlossen, das Boot treiben lassen wohin es wollte, und nur daliegen und träumen vom Leben in der großen Welt draußen ...

Er schüttelte traurig den Kopf –; nein, so würde er nun nie wieder träumen können; das Leben erschien ihm jetzt so ganz anders als früher ...

Ach, weshalb war das Leben nicht anders! ... weshalb war es nicht so, wie er es damals gefühlt hatte! ...

Zwar, weiß Gott ...

Im Grunde genommen, war ja das Leben, das er jetzt führte, auch ganz angenehm ... Es lag etwas mystisch Geheimnisvolles darin, das ihn beständig in einer eigenen gedämpften Stimmung erhielt, die ihm behagte ... Ganz wunderlich eigenartig war es ja auch, daß er nun schon dreiviertel Jahr in diesem Hause sich aufgehalten hatte, ohne daß jemand ihn kannte oder eine Ahnung davon hatte, wer er war ...

Sie glaubten, er arbeite den ganzen Nachmittag und Abend – und währenddem saß er nun da, schaukelte sich langsam auf und ab, entweder in ein hübsches Buch vertieft oder auch gedankenlos ins Leere starrend, von all den verschiedenen Frauen phantasierend, die er kannte oder auch nur irgendwo getroffen und bemerkt hatte.

Und sie glaubten, am Abend ginge er hübsch zu Bett wie sie selber – und statt dessen ...

Er lächelte: er sah sich selber im Schaukelstuhl sitzen und warten und warten, bis die andern schlafen gegangen wären, damit er dann wegkommen konnte ... Endlich wird alles still und ruhig. Er wartet noch eine Weile, um ganz sicher zu sein, steht dann vorsichtig auf und schleicht auf den Zehen vorsichtig nach dem andern Fenster, das auf den Torweg hinausgeht. Es ist nur angelehnt, er selbst hat die Riegel vorher weggeschoben, jetzt öffnet er lautlos völlig, klettert bebend hinaus und gleitet langsam hinab. Einen Augenblick bleibt er dann unter dein Fenster stehen, mit klopfendem Herzen in die Nacht hinaushorchend, und stiehlt sich dann mit dem kitzelnden Gefühl verbrecherischen Tuns aus dem Garten, geht schräg über die Straße und schlüpft in den Park. Und dann vorüber an all den Bänken, auf denen die Liebespaare sitzen, und hinein in die Stadt.

Hat er Geld, geht er gern ins Dirnenviertel. Nicht weil er dort etwas Bestimmtes sucht. Nein, es amüsiert ihn, dort umherzustreifen in den engen Gassen mit den niedrigen kleinen Häusern, hinter deren Fenstern die ganze Nacht Licht brennt ... an den Fenstern zu lauschen ... durch Schlüssellöcher und Gardinenspalten zu spähen ... zu sehen, wie die Türen sich öffnen und das Licht plötzlich auf die Straße strömt und weibliche Gestalten in leichten, bunten Trachten sich in den Türöffnungen zeigen. Es amüsiert ihn, es sieht so malerisch aus, und es überkommt ihn ein merkwürdiges Mittelalterliches Gefühl, es kommt ihm vor, als wäre er einige hundert Fahre in der Zeit zurückversetzt in eine Welt, in der er völlig fremd ist. – Findet er dann dort etwas besonders Schönes, geht er hinein und verweilt einige Zeit; wenn nicht, dann spart er die Kronen lieber für irgend eine der Damen von der Karljohann-Straße auf.

Hat er kein Geld – und das ist die Regel – dann geht er lieber gleich auf die Karljohannstraße und sieht zu, ein Weib zu finden, mit dem er ohne Geld nach Hause gehen kann; zu sich wagt er keines mitzunehmen. Gelingt das nicht, so geht er auf Entdeckungen aus. In allen Seitenstraßen, zuweilen in weiter Entfernung, fahndet er nach irgendeinem Nähmädchen, das sich verspätet hat, oder nach irgendeinem unbekannten erleuchteten Zimmer, in dem ein neues gefälliges Mädchen wohnt. Hat er auch damit keinen Erfolg – ja, es gibt ja noch irgendein Dienstmädchen, zu dem er kommen kann, wenn er will. Bei ihm bleibt er dann einige Zeit und kommt endlich spät nachts nach Hause, zieht sich aus, schläft sofort ein und schläft wie ein Stein, bis das Mädchen ihn des Morgens weckt. Dann steht er resolut auf, frühstückt und tut, als wäre nichts geschehen. In der Schule fällt es ihm aber des Vormittags schwer, nicht einzuschlummern. Nach dem Mittagessen schläft er, bis der Kaffee kommt, setzt sich dann in den Schaukelstuhl, und nun geht die alte Geschichte von neuem los – er schaukelt hin und her und her und hin vor den aufgeschlagenen Schulbüchern, während er über das phantasiert, was er in der vergangenen Nacht erlebt hat ...

Niemand hat im Hause eine Ahnung davon.

Anfangs vermutete zwar der Direktor, daß irgend etwas nicht in Ordnung wäre; er hatte aber nichts entdecken können.

Der Direktor hatte geglaubt, der Junge arbeite nicht. Sobald er aber ins Zimmer kam, fand er ihn über die Bücher gebeugt. Der Direktor konnte ja nicht wissen, daß der Rücken sich erst beugte, wenn die Tür ging.

Der Direktor hatte geglaubt, er wäre auf Abwege geraten, was Frauenzimmer anlangt und dergleichen. Aber es hatte sich ja gezeigt, daß er fast niemals außerhalb des Hauses war und besonders niemals am Abend.

Auch die Vermutung, er wäre in schlechte Gesellschaft geraten, hatte sich als unrichtig erwiesen. Denn, der einzige, mit dem er verkehrte, war Henschen, der stillste und fleißigste Schüler der Klasse.

Vor diesen Tatsachen war der Verdacht des Direktors verschwunden, und er war zu dem Ergebnis gekommen, daß es ihm doch an Begabung fehle. Nicht daß er gerade dumm wäre, den Eindruck machte er nicht, wenn man mit ihm sprach – und außerdem schrieb er ja bessere norwegische Aufsätze als alle anderen Schüler der Klasse.

»Du hast gewiß ein schlechtes Gedächtnis,« hatte der Direktor eines Tages zu ihm gesagt.

»Ja, ein furchtbar schlechtes!« hatte Jarmann geantwortet und dabei den Direktor ganz treuherzig traurig angesehen. Der Direktor mußte lächeln. Diese treuherzig-traurigen Augen und dieses offene Gesicht, das, wie er wußte, so sehr an Jarmanns Mutter erinnerte, hatten den Direktor vollständig für Jarmann eingenommen – er hatte ihn wirklich liebgewonnen und bedauerte ihn nur lebhaft, daß er so schlechte Anlagen hatte ...

Und der Direktor bedauerte ihn umsomehr, als es ihm anscheinend recht nahe ging: er kam und ging so still, sein ganzes Wesen hatte etwas so traurig Gedämpfte und er war zu allen so rührend freundlich und diensteifrig – als bäte er um Entschuldigung, daß er so wenig begabt war, und als wollte er durch seine Freundlichkeit und Diensteifrigkeit an den Tag legen, daß er alles tun wollte, was in seinen Kräften stand. Das war die Auffassung des Direktors, das war auch die des ganzen Hauses bis herab zum Dienstmädchen und den Kindern, einem kleinen Jungen und einem zehn- bis zwölfjährigen Mädchen, die er liebkoste, mit denen er spielte und denen er ab und zu Zuckerzeug verehrte. Alle hatten das Gefühl, daß er ein armer unglücklicher Mensch wäre, gegen den man gut sein und den man gern haben müsse.

Alle – mit Ausnahme der Schwägerin, einem Fräulein Bamberg, einem dunkeläugigen Mädchen, die auch im Hause des Direktors lebte.

Wenn sie mit ihm sprach, war sich Jarmann niemals recht klar darüber, ob sie ihn nicht zum Narren halte. Diese schwarzen Augen sahen ihn immer so merkwürdig an, blinzelnd, halbgeschlossen, zärtlich, während ein Ansatz zu einem spöttischen Lächeln um die weichen roten Lippen zuckte, als wollte sie sagen: ich kenne dich, du großer Heuchler; ich habe dich durchschaut. Und sein so treuherziges Gesicht bekam jedesmal einen forschenden, erwartungsvollen Ausdruck, wenn sie mit ihm sprach: er erwartete gleichsam jeden Augenblick, sie sagen zu hören, daß sie alles wisse.

Sie sagte es aber nicht. Nur diese blinzelnden, halbgeschlossenen, zärtlichen Augen und dieses spottende, übrigens ganz wohlwollende halbe Lächeln um den Mund ... Vielleicht wollte sie, er solle das erste Wort sprechen – oft sah es so aus, als wartete sie darauf. – Das vermochte er aber nicht ...

... Das dunkle Gesicht mit den blinzelnden zärtlichen Augen und dem halben Lächeln drängte sich beständig in seine Phantasien, wenn er sich in seinem Schaukelstuhl den langen Nachmittag hin und herschaukelte. Er brauchte sich nur eine Liebesszene mit irgendeinem Mädchen vorzustellen, dem er z. B. auf der Straße begegnet war und das ihm gefiel, so nahm auch das Mädchen sofort die Züge des Fräuleins Bamberg an. Und wenn er dann im Phantasieren fortfahren und also s i e mitspielen lassen wollte, da sie es nun einmal sein sollte – so ging das ganze Bild in die Brüche, und er behielt nichts anderes übrig, als nur diese blinzelnden, zärtlichen Augen und dieses spöttische Lächeln ... es war ganz merkwürdig ... Es war elf Uhr geworden. Alles war still im Hause. Er horchte eine Zeitlang, stand dann auf, ging an das Fenster, öffnete es lautlos, kletterte behend hinaus, stand unten einen Augenblick still und lauschte, schlich vorsichtig über die Straße und in den Park hinein – und verschwand nach der inneren Stadt zu ...

Am nächsten Tage kurz nach dem Mittagessen. Man war eben von Tisch aufgestanden.

Es war ziemlich heiß, wie es in den letzten Tagen des Monats Mai sein kann, und Jarmann trug eine leichte weiße Jacke und einen großen braungelben Panamahut. Er spielt auf dem Hofe hinter dem Hause mit den Kindern Krocket.

Seine Gedanken waren aber nicht beim Spiel, sie waren wo ganz anders. Er gab es daher bald auf; als die Kinder eine neue Partie beginnen wollten, erklärte er, er sei müde und wolle seinen Mittagsschlaf halten. Während die Kinder das Spiel allein fortsetzten, ging er um das Haus herum durch das kleine Pförtchen in den Garten und begab sich in die kleine Laube an der Ecke neben der Straße. Dort setzte er sich nieder, mit den Ellbogen auf die Steinplatte des Tisches gestützt, das Gesicht in den Händen ruhend, den großen Panamahut tief in den Nacken zurückgeschoben ...

... Er konnte diese Augen nicht los werden! ... Was in aller Welt wollten sie nur von ihm? Was mochte das Fräulein damit meinen? Bei Tische hatte er sie wieder einmal mit den Augen verschlungen, während sie atz. Das tat er sehr oft, und sie wußte, wann er es tat, sie konnte es fühlen, und er konnte sehen, daß sie es fühlte. Sie pflegte aber dann niemals aufzublicken, sie aß nur weiter und blickte auf den Teller, bis er die Augen wieder von ihr wegrichtete – dann wurden die Rollen vertauscht, und sie tat dasselbe mit ihm. Heute aber hatte sie plötzlich, als er sie gerade mit den Augen verschlang, den Kopf gehoben und ihn fest angesehen. Zuerst ernst, gleichsam nachdenklich, darauf mit dem gewöhnlichen spöttischen Lächeln, dann aber – ja dann war auf einmal etwas Insinuierendes in den Blick gekommen, er war geradezu herausfordernd oder wie er es nun nennen wollte. – Aber wozu? – Das war es, was er nicht verstand.

Wollte sie, er solle sich ihr anvertrauen ... und war die Meinung die, daß sie ihm dann mit Gleichem vergelten wollte? ... Und –

Ach, er war ein Esel, daß er nicht einmal Versuchsweise ihr mit einem verständnisvollen Lächeln geantwortet und so getan hatte, als ob er sicher wäre! – Anstatt dessen hatte er sie nur angegafft und schließlich die Augen niedergeschlagen. – Und sie hatte die Augen noch eine Weile fest auf ihn gerichtet, sie dann aber ebenfalls gesenkt und ihn späterhin nicht wieder angesehen ...

Was in aller Welt konnte sie nur meinen? ...

Plötzlich stand er auf. Er mußte darüber Klarheit erhalten! – Der Direktor und seine Frau, das wußte er, hielten auf der anderen Seite des Korridors im Schlafzimmer ihren Mittagsschlaf; sie war sicher allein im Gartenzimmer. Er ging durch den Garten, auf die Veranda hinauf und sah ins Gartenzimmer hinein.

Dort saß sie im Schaukelstuhl, bequem zurückgelehnt, die Füße auf der gestrickten Fußbank, die Hände auf den Lehnen des Schaukelstuhls ruhend – und das Gesicht ihm gerade zugekehrt, mit geschlossenen Augen. Ein mattgrüner Schein von den herabgelassenen Jalousien durchflutete das Zimmer und gab ihrer ganzen Gestalt etwas wunderbar Zartes und Traumhaftes – eine schlafende Undine.

Wenn sie nicht leise auf- und abgeschaukelt hätte, würde er geglaubt haben, sie schliefe. – Er blieb stehen und betrachtete sie eine Weile – trat dann einen Schritt vorwärts ins Zimmer hinein. Sie öffnete müde die Augen, sah ihn mit einem schwachen Lächeln an und schaukelte ganz langsam weiter. Er blieb an der Tür mit fragendem Blick stehen.

Da hob sie matt die rechte Hand von der Lehne des Schaukelstuhles und ließ sie wieder sinken – es sah aus wie ein Wink, aber er war dessen nicht sicher und verharrte in seiner Stellung.

Da hob sie aber die Hand wieder – in der Tat, sie winkte ihn zu sich heran, ein Irrtum war ausgeschlossen, und er ging hin und blieb vor ihr stehen.

»Setzen Sie sich,« sagte sie schwach und zeigte lässig auf einen Stuhl, ohne die Hand zu heben.

»Danke!« – Er setzte sich aber nicht, sondern blieb vor ihr stehen und verschlang sie mit den Augen.

Da wurde sie ernst und fing an, ihn aufmerksam von oben bis unten zu mustern. Er bildete sich ein, sie entkleide ihn in der Phantasie Stück für Stück, und er hatte schließlich das Gefühl, als stünde er nackt vor ihr. Das genierte ihn aber nicht, er fühlte durchaus keine Scham – im Gegenteil, er brüstete sich unter ihren Augen. Dann kam er auf den Einfall, mit ihr dasselbe zu tun. Und es gelang ihm doch endlich einmal, was er niemals fertig gebracht hatte, wenn er allein in seinem Zimmer saß und phantasierte: er strich mit den Augen alle Kleider von ihr ab, von oben bis unten. Gott, welche Figur! Und die Augen glitten langsam die weichen jungfräulichen Linien der Hüften und der Brust entlang wieder aufwärts und machten bei ihrem Gesicht Halt.

Aber du großer Gott! Daß er das nicht schon früher gesehen hatte! So wie sie dort saß und ihn ansah, erinnerte sie ihn ja genau an sie vom vorigen Jahre, sie, die nach Stockholm reiste. Und s i e hatte ihn ja gern gehabt ...

Wie der Blitz fuhr der Gedanke ihm durch den Kopf: er wollte sich ihr anvertrauen, wollte sich zu ihren Füßen aufs Knie werfen, den Kopf in ihren Schoß legen und ihr alles erzählen; sie würde ihn begreifen, ihn gut aufnehmen und ihn lieben; und er wollte sie wieder lieben, lieben über alle Maßen. Nie mehr wollte er sich nachts durch das Fenster fortstehlen, nein, nur in ihr Schlafzimmer schleichen; nie mehr wollte er an andere denken, nur an sie, nur an sie – o, wie wollte er sie lieben ...

Wie ein Blitz fuhr der Gedanke ihm durchs Hirn, während er dort stand und die kleinen Augen aufflammten – aber er überlegte noch einen Augenblick: sollte, durfte er es tun?

Ja, er wollte es tun. Und er hatte schon ihren Namen auf der Zunge und wollte sich vor ihr aufs Knie werfen – da wurde draußen auf der anderen Seite des Korridors eine Tür zugeworfen: der Direktor hatte seinen Mittagsschlaf beendet. Mit einem Male durchfuhr ihn ein Schreck, er fühlte in sich das Bedürfnis, einen furchtbaren Schrei auszustoßen – tat es aber nicht, warf nur einige irre Blicke im Zimmer umher und lief, so schnell er konnte, die Gartentür hinaus, die Verandatreppe hinab, zum Gartenpförtchen hinaus und auf der anderen Seite die Treppe hinauf in sein Zimmer und warf sich der Länge nach aufs Bett.

Mit einem leichten Druck ihres kleinen Fußes auf die bestickte Fußbank hatte aber sie sich im Schaukelstuhl zurückgeworfen und sandte ein helles Lachen hinter ihm drein, wie er so davonlief. Dieses Lachen klang ihm noch in den Ohren, dieses helle spöttische Lachen, das legte einen meilenweiten Abstand zwischen ihn und sie ... meilenweit? – nein, einen gähnenden Abgrund, eine ganze Welt legte es zwischen sie – ach, sie würden sich niemals finden, niemals! Er wußte nicht, wie es kam, aber er fühlte, daß es nie geschehen würde. Und die Tränen stürzten ihm aus den Augen, er weinte krampfhaft – und er blieb lange liegen und schluchzte zwischen den Kissen, während das Liebesphantom, das sich ihm gezeigt hatte, aus seiner Seele gerissen wurde ...


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