Hans Jäger
Kristiania Bohême
Hans Jäger

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VIII.

Eines Abends saß ich wie gewöhnlich bei Bruns und trank Kaffee.

Ich wohnte nun nicht länger dort, sie hatten mich nach den Ferien nicht wieder haben wollen. Sie mochten wohl gegen mich denselben Verdacht geschöpft haben wie früher gegen den Studenten. Und ich handelte wie der Student: da ich nicht mehr dort wohnte, kam ich jeden Tag zum Kaffeetrinken und dachte gar nicht daran, eher damit aufzuhören, als bis auch ich davongejagt würde.

Ich saß also wie gewöhnlich neben dem Ofen und unterhielt mich leise mit Lily. Es war meine Absicht heute eine Hauptschlacht zu liefern und sie in ein neues Entwicklungsstadium hinüberzuführen, in dessen Verlaufe sie das volle Verständnis erhalten sollte, und ich hatte meinen Angriffsplan genau ausgearbeitet, bevor ich zu Bruns ging.

Ich fing damit an, ihr eine kleine Mädelgeschichte vom vergangenen Abend zu erzählen. Es war mir aber nicht möglich, sie zu Ende zu bringen. Der alte Bruns war nämlich an diesem Tage zufällig so früh nach Hause gekommen, daß er mit den anderen zusammen hatte essen können; er trank also auch den Kaffee mit uns gemeinsam, ging in einem fort vor uns auf und ab und hörte auf unser Gespräch; dabei paffte er seine Pfeife mit tiefsinniger Miene, als höre er gar nicht auf unsere Unterhaltung. Ich steckte daher bald das Erzählen auf, sprach eine Weile von etwas anderem, was Papa meinetwegen hören konnte, und schlug dann Lily vor, mit mir einen Spaziergang zu machen; es wäre »so schönes Wetter«.

Sie war sofort dazu bereit und machte sich zum Ausgehen fertig. Wir gingen die Treppe hinab, sie voran, ich hinterdrein. Keins von uns sprach ein Wort.

Kaum waren wir aber aus der Haustür hinaus und auf dem Fußsteig, als sie sich auch schnell zu mir umkehrte und eifrig sagte: »Erzähle!«

Ich lachte, und da lachte sie auch.

»Weshalb lachst du?« fragte ich und schielte über den Klemmer zu ihr hinüber.

Sie schlug die Augen nieder. »Ich?« antwortete sie, »ich weiß nicht, ich lachte nur, weil du lachtest. – Du aber, du weißt ja für alles einen Grund – weshalb hast du denn gelacht?«

»Aus demselben Grunde wie du. Ich fand es ganz amüsant, daß du, seit wir unterbrochen wurden, die ganze Zeit über auf die Geschichte gespannt gewesen bist, während ich das ganz vergessen hatte. Als ich lachte, wurdest du auf den Gegensatz aufmerksam, und daher mußtest du ebenfalls lachen: man geniert sich immer, wenn man so unversehens verrät, daß man von solchen Dingen so in Anspruch genommen worden ist, und dann lacht man verschämt mit – nicht wahr?«

»Ach du! – Na, erzähle nun aber!«

»Es handelt sich also um das Wäschermädchen. Sie kommt, mir die Wäsche zu bringen. Sie legt sie auf den Tisch und sagt, da wären also soundso viel Oberhemden, soundso viel Kragen, soundso viel Manschetten usw. usw. Wie sie zu den Taschentüchern kommt, findet sie nur einige von ihnen, und sie weiß nicht einmal, ob die mir gehören oder nicht. Na, da gehe ich denn zur Kommode, nehme ein paar Taschentücher heraus und lege sie neben die anderen auf den Tisch, um zu sehen, ob sie von derselben Sorte sind. Wie wir aber so dastehen, und die Taschentücher ansehen, stellt sie sich neben mich, daß das eine ihrer Beine von der Wade bis zu den Hüften hinauf eng an dem meinen anliegt. Es ist schon dieselbe Sorte, sagte ich ruhig, richtete mich aus der gebückten Stellung auf und sah sie an. Ja, es ist dieselbe Sorte, antwortete sie, blieb aber auch weiterhin vornüber gebeugt stehen, ohne ihr eines Bein und ihren Unterkörper im geringsten vor mir zu entfernen; sie richtete nur das Gesicht zu mir empor und lächelte. Du kannst dir denken, daß ich natürlich wieder lächelte. Da entdecke ich aber, daß sie auf der Stirn ein Pflaster hatte. »Na,« sage ich, »sind Sie bei einer Keilerei dabei gewesen?« Gleichzeitig lege ich meinen rechten Arm um ihre Schulter, während ich mit dem linken Zeigefinger auf das Pflaster zeigte. »Nein, da hat mich nur die, mit der ich zusammen plätte, etwas gekräht,« antwortete sie. – »Aha, Ihr behandelt Euch also auf die Art?« – »Ja, ab und zu!« Während sie sprach, hatte ich mich in den Schaukelstuhl gesetzt, der gerade hinter uns stand, und sie auf meinen Schoß gezogen, wo sie ruhig sitzen blieb und sich sehr verliebt geberdete. Na, da fing ich denn, wie du dir denken kannst, an, weiter zu gehen. Nein! Nein! sagte sie und versuchte, meine Hände festzuhalten. Ich riß sie aber los, legte ihr den einen Arm um den Rücken, fuhr ihr mit dem andern unter die Kniekehlen – und dann hob ich sie empor und trug sie aufs Bett. Kaum aber lag sie dort, da fuhr sie auch in die Höhe, wie wenn sie von Gummi gewesen wäre, und ich versuchte vergebens, sie wieder zum Liegen zu bringen. Na, da blieben wir denn eine Weile auf dem Stuhle vor dem Bette sitzen, ich rückte ihr aber immer mehr auf den Leib. Und da fängt sie auf einmal an zu weinen. »Nein, aber liebes Fräulein,« sagte ich, »da gibt es doch nichts zu weinen. Ich will Sie wahrhaftig nicht notzüchtigen!« – Damit ließ ich sie los und setzte mich wieder allein in den Schaukelstuhl. Sie blieb erst sitzen, wo sie saß; als ich ihr dann aber versprach, nicht mehr »unartig« zu sein, da brachte ich es dahin, daß sie sich auf meinen Schoß setzte und wieder zutraulich wurde. – »Hören Sie mich nun an,« sagte ich zu ihr, während ich ihr die Wange streichelte, »reden wir nun einmal vernünftig miteinander,« und ich bemühte mich, all ihre Bedenken zu zerstreuen. »Dann,« fuhr ich fort, als sie nicht antwortete, »dann wären also noch die moralischen Bedenken da, wenn Sie sich mit solchem Ansinn wie Moral abgeben. Wissen Sie, was in der Bibel steht? Dort steht, wer ein Weib ansehe, ihrer zu begehren, der habe schon mit ihr Ehebruch getrieben in seinem Herzen. Nun können Sie sich doch wohl denken, daß nicht nur die Männer etwas so Häßliches unterlassen müssen, und der Sinn ist natürlich auch der, daß man die Worte umkehren und sagen soll, eine Frau, die einen Mann ansieht, um von ihm begehrt zu werden, die habe bereits Ehebruch mit ihm getrieben in ihrem Herzen. Und jetzt ist es ja klar und deutlich, daß Sie, als Sie Ihr Gesicht von den Taschentüchern zu mir emporrichteten und mir zulächelten, während Sie gleichzeitig Wade und Schenkel fest an mich drückten – daß Sie da mich ansahen, um von mir begehrt zu werden. Sie haben also in Ihrem Herzen bereits Ehebruch mit mir getrieben, und Sie können also der christlichen Moral wegen es ebenso gern auch in Wirklichkeit tun. Die Versündigung ist ja gleich groß, ob sie nun im Herzen oder in Wirklichkeit geschieht – es besteht der Unterschied nur darin, daß das letztere viel besser ist. – Und wenn wir es nun also weder aus Rücksichten der Moral noch aus Rücksichten der Vernunft zu unterlassen brauchen – warum sollen wir es dann überhaupt unterlassen? Hier sitzen Sie auf meinem Schoß, und es gefällt Ihnen, daß ich Sie liebkose; und hier sitze ich und habe Sie auf meinem Schoße, und es gefällt mir, Sie zu liebkosen; wir haben aber beide Lust, uns zu gehören, und keiner von uns beiden wird deswegen ein schlechterer Mensch – müssen Sie da nicht einräumen, daß es geradezu dumm ist, wenn wir uns nicht helfen. Dann legte ich ihr noch einmal alles ans Herz und forderte sie auf, darüber nachzudenken bis zum nächstenmal. Sie antwortete nichts und ging.«

»Und ist sie nun wiedergekommen?« fragte Lily lebhaft interessiert.

»I wo! Die Geschichte ist ja erst gestern Abend passiert.«

»Aber du! Du hast ihr gesagt, du wolltest sie nicht verführen. Ein Versuch, sie zu verführen, war es aber doch, so zu handeln, wie du gehandelt hast, und alle möglichen Überredungsmittel anzuwenden.«

»Nein, durchaus nicht. Weiß du denn nicht, was es heißt, ein Weib zu verführen. Wenn ein Weib verführt wird, so sagt man ja von ihr, sie falle, und der Fall besteht ja einfach darin, daß ihre Leidenschaft mit ihrem Willen durchgeht, so daß sie in einem Augenblick sinnlicher Erregung tut, was sie in ruhigem Gemütszustande nicht tun würde. Daß sie das, was sie tut, gegen ihren eigenen freien Willen tut, gerade deswegen verachtet man sie ja und nennt ihre Handlung einen Fall. Eine unfreie Handlung ist für den Menschen ein Fall, und davon hat jeder Mensch ein stärkeres oder schwächeres Gefühl; denn was die Menschen von den Tieren unterscheidet

»Darin hast du im Grunde genommen recht.«

»Freilich habe ich recht. – Stelle dir vor, wie ekelhaft das ist, wenn man ein Mädchen verführt hat – man löscht gern das erstemal die Lampe aus, wie du dir denken kannst ...«

»Ja, das läßt sich denken.«

»Ja, aber später nicht, denn später will man ja auch mit den Augen genießen. – Stelle dir nun, aber vor: man zündet also die Lampe wieder an, und dann sieht man das Mädchen mit niedergeschlagenen Augen vor einem stehen, und es fragt vielleicht gar, ob man es nicht verachtet! Ist das nicht ekelhaft? Stelle dir vor: sie ist nicht allein gefallen, sondern, gesteht noch offen und ehrlich ein, daß das Tier mit ihr durchgegangen ist! Nein, da will ich lieber ein Mädchen, das mir keck ins Gesicht blickt und sagt, sie habe es aus irgend einem anderen Grunde getan; ein Mädchen, das, trotzdem sie weiß, daß ich weiß, daß sie »gefallen« ist, dennoch erklärt: nein, ich habe es freiwillig getan; sie sei ein Mensch gewesen, als sie dort lag, und nicht ein Tier. – Aber natürlich, das Beste ist das Beste, und das Beste ist, daß sie, wenn die Lampe wieder angezündet ist, mit erhobener Stirn dasteht, mit dem vollen Bewußtsein, ganz freiwillig gehandelt zu haben. Dann erst fühlt man ganz, daß man mit einem Menschen zusammen ist, nicht bloß mit einem Individuum einer niedrigeren Tierart, das nur versucht, ein Mensch zu sein, es aber nicht fertig bringt. – Na, ein solches Weib ist jetzt schwer zu finden; umso größere Achtung aber« – ich blickte verstohlen auf sie herab – »muß man daher vor den wenigen haben, die man findet.«

»Ach – äh ...«, sagte sie darauf, »ich fange wirklich an, wie du zu glauben, daß nichts Schlimmes dabei ist; aber ... aber ... ich kann nicht das Gefühl los werden, daß es verkehrt ist, daß ich es verkehrt finde.«

»Das, meine Liebe, brauchst du mir gar nicht zu erzählen; das weiß ich schon lange. Denn jedesmal, wenn wir uns trennen, ist ja dein letztes Wort: ich getrau mich's nicht, zu sagen, daß ich mich so lange mit dir unterhalten habe. Und erinnere dich, wie du dich damals in der Konditorei benommen hast. Es war ganz ganz köstlich. Wir hatten uns lange Zeit wie zwei gute Kameraden unterhalten. Da stockt plötzlich das Gespräch, und ich sehe, daß du blutrot wirst, erst am Hals, dann im ganzen Gesicht, und dann sagtest du: ach Gott, wenn mein Papa das wüßte, daß wir hier über so etwas gesprochen haben.«

»Ja, ich kann nichts dafür. Jedesmal aber, wenn ich mich besinne und daran denke, daß ich wirklich so mit dir spreche, dann ... dann ... ja, dann finde ich's so merkwürdig, daß es vielleicht so ist, und dann muß ich daran denken, was Papa und Mama und alle anderen sagen würden, wenn sie es wüßten, und wie entsetzlich es ihnen vorkommen würde. Und dann ... ist es so schlimm ... ich meine gewissermaßen ... daß sie auch recht haben ... und dann ! ... ach, wenn ich nur von dem Ganzen nichts wüßte!«

»Ja, natürlich! Das heißt: Du möchtest wünschen, erst zwölf Jahre alt zu sein. Nicht wahr?« Sie dachte einen Augenblick nach.

Dann sagte sie: »Ach, ich habe schon vieles gewußt, als ich zwölf Jahre alt war.«

»So, so!? Na ja, hier in der Hauptstadt wird man ja natürlich frühzeitig über so was aufgeklärt. Ich wurde zwölf Jahre alt, ohne die geringste Ahnung zu haben, wie es sich eigentlich verhält. Und als ein Kamerad es mir erzählte, da ... ja, da zweifelte ich beileibe nicht daran, daß da etwas getan wurde, aber ... ich wollte nicht glauben, daß das dazu notwendig wäre, damit Eheleute Kinder bekämen: die Ehe wäre ja von Gott eingesetzt, sagte ich eifrig zu meinem Kameraden, und Gott könne doch nicht etwas so Häßliches verfügt haben.«

»Nein, daran habe ich denn doch niemals gezweifelt,« sagte sie lachend.

»Ich glaube, was mich tue Sache so abscheulich häßlich finden ließ, das war die unglaubliche Tatsache, daß es in dem alten Krähwinkel, in dem ich erzogen wurde, unter den Schuljungen für die größte Schande, die einem Jungen widerfahren konnte, angesehen wurde, wenn er zusammen mit einem Mädchen gesehen worden war. Sogar mit seiner eigenen Schwester konnte man nicht über die Straße gehen, wenn man sich nicht der tiefsten Verachtung seitens seiner Kameraden aussetzen wollte. Und ich, der ich selber die Mädchen fixierte, wie wir es nannten, mit der tiefsten Verachtung beehrte – du kannst dir vorstellen, wie unwürdig, wie wenig »keck« es mir erschien, dem andern Geschlecht gegenüber überhaupt etwas zu fühlen. Wenn ein solches Gefühl in mir aufkam, dann erstickte ich es als etwas, was eines »kecken« Jungen unwürdig wäre. Und Keckheit, das war für einen Jungen nun einmal das Höchste.« »Ach, muß das doch abscheulich sein, in einer Stadt wie Bergen aufzuwachsen. Nein, da ist es bei uns hier ganz anders zugegangen. Wie sehne ich mich in die Zeit zurück, da ich so zwölf, dreizehn, vierzehn Fahre alt war. Das war die lustigste Zeit meines Lebens. Und so lustig werde ich wohl nie wieder leben,« fügte sie seufzend hinzu.

»Erzähl mir doch etwas davon.«

»Nein, das läßt sich nicht erzählen.«

»Ach, das ist doch zu arg, daß du niemals etwas erzählen kannst; da soll ich nun die ganze Zeit erzählen und niemals etwas zu hören bekommen.«

»Ach, siehst du, es, war ja eigentlich nichts Besonderes; aber zu der Zeit brauchte man nicht viel um sich zu amüsieren.«

»Na, wenn es nichts Besonderes war, so kannst du es doch, meine ich, ruhig erzählen. Ihr Mädchen wart also oft mit Jungen zusammen – nicht wahr?«

»Ja,« sagte sie lebhaft, »wenn wir aus der Schule gekommen waren, nahmen wir uns kaum Zeit, das Essen zu verschlingen, um nur gleich wieder fortzukommen.«

»Was triebt Ihr denn aber mit den Jungen?«

»Ach ... ja ... das ist eigentlich nicht zu erzählen.«

»J wo ... erzähl nur drauf los!«

»Na, dann spielten wir erst eine Weile; wenn wir das aber satt hatten, dann ... trennten wir uns paarweise, und jedes Paar ging seine eigenen Wege.«

»So, so! Und dann wollte er dich natürlich küssen, sobald ihr allein wart?«

»Ja, dann rissen wir aber aus.«

»Du wurdest aber natürlich wieder eingeholt.«

»Ja. Dann taten wir aber alles, um uns loszureißen.« »Das gelang dir aber natürlich nicht.«

»Nein. Dann drehten und wandten wir uns aber nach allen Richtungen, damit es ihnen nicht gelingen sollte, uns zu küssen. Und das war eigentlich das Lustigste.«

»Ja,« sagte ich und lachte. »Denn inzwischen hielt er dich natürlich fest an sich gepreßt, so daß beinahe nur die Köpfe sich nicht berührten. Und dann ist es so herrlich, so erobert zu werden – nicht wahr? – Und dann zum Schluß bekam er natürlich seinen Kuß?«

»Ja, das versteht sich. Das heißt: sie nahmen ihn sich. Übrigens ging es nicht immer so. Konnten wir einen nicht leiden – ach Gott, wie liefen wir dann! Dann war fast nie die Rede davon, daß sie uns einholen konnten, und geschah es trotzdem, so waren wir ihnen gegenüber so ernst und langweilig, daß sie das Ganze aufgaben.«

»Ja, ja, ich begreife schon, wie du das getrieben hast. Sage mir aber: wenn es nun einer war, der dir gefiel – kam's da niemals weiter als bis zum Kuß?«

»Nein. Du bist wohl verrückt?! Was meinst du denn eigentlich?«

»Der Teufel mag das glauben.«

»Das kannst du dir doch denken.«

»Wer weiß! Na, ich verstehe, das willst du also auf keinen Fall sagen. Hattest du denn aber niemals ein Gefühl davon, daß es nicht richtig wäre, so mit den Jungen herumzulaufen?«

»O ja. Einigermaßen schon, aber nicht besonders heftig. Es war so lustig, daß wir daran nicht weiter dachten.«

»Und das wenige, was ihr dachtet, machte es natürlich nur noch lustiger: Verbotene Früchte usw. Du weißt schon.« »O ja, das glaube ich wirklich auch.«

»Ja, ja. So war es damals mit der Moral, damals diente sie nur als pikante Sauce; jetzt aber – ich bin überzeugt, du könntest das nicht wieder tun, was du damals getan hast.«

»Nein. Aber nicht deswegen, weil ich jetzt moralischer bin. Im Grunde genommen, bin ich jetzt gar nicht so moralisch. Wenn ich z. B. Student wäre ... ach, wenn ich's wäre, du solltest wissen, wie oft ich das wünsche ... dann solltest du bloß sehen, wie ich mich amüsieren wollte!«

»Ja, wenn – wenn. Es ist so leicht zu sagen: Unter den und den Umständen würde ich das und das tun. Aber, in den Verhältnissen, in denen du jetzt lebst, zeigt es sich ja tatsächlich, daß du Gewissensbisse hast, weil du dich mit mir unterhältst! Nein, ich hätte dich treffen sollen, als du so fünfzehn, sechzehn Jahre alt warst; da hätte ich dir vielleicht die verfluchte Moral aus dem Herzen ausrotten können. Jetzt habe ich dich ja nicht weiter bringen können, als zu dem Eingeständnis, daß die Moral dumm ist; praktisch das moralische Gefühl los zu werden, das wird dir beinahe unmöglich sein.«

»Ja, ich glaube wirklich auch nicht, daß ich es je werde los werden können.«

»Nein, das glaube ich auch nicht. Denn das kann nur auf eine Art geschehen, und ich glaube nicht, daß du den Mut dazu haben wirst.«

»Was meinst du damit?« fragte sie, etwas stutzig geworden.

»Ja – – das ist wirklich etwas schwierig zu sagen.«

»Ach was, sagen kannst du es doch.«

»Freilich kann ich's sagen. Es fragt sich nur, wie. – – Ja! Du erinnerst dich, daß ich gestern fluchte, als ich erfuhr, daß du diese Abendunterhaltung besuchen würdest.«

»Ja?«

»Ja, siehst du, ich hatte mir nämlich gestern etwas vorgenommen, und das ging dieser dummen Abendunterhaltung wegen in die Brüche.«

»Und was war das?«

»Gedulde dich nur eine Weile. Bevor ich dir das sage, will ich dir eine kleine Geschichte erzählen. – Du wirst dich jener Luise erinnern, von der ich dir neulich erzählt habe. Als sie kürzlich eines Abends bei mir war, erzählte sie, vor einigen Tagen seien zwei junge Leute bei ihr gewesen. Der eine, den sie schon kannte, sei nur gekommen, um einen Freund bei ihr einzuführen, und sei deshalb gleich wieder gegangen. Der andere, der also allein zurückblieb, habe eine Zeitlang hilflos und verlegen dagesessen und habe weder gewußt, was er tun, noch was er sagen sollte. Schließlich habe er aber gefragt, ob er bei ihr schlafen könne. »Der Esel,« sagte ich zu Luise, »du hast natürlich Nein geantwortet?« – »Das kannst du dir denken,« sagte sie lachend, »ich habe ihn ausgelacht. Hast du schon so was gehört: verlegen dazusitzen und dann zu fragen, ob er bei mir schlafen könne!«

Lily lachte.

»Da siehst du also,« fuhr ich fort, »daß es zuweilen lächerlich sein kann, ein Weib zu fragen, ob man bei ihr schlafen dürfe. Zuweilen kann es aber auch direkt idiotisch sein, ohne daß es gleichzeitig lächerlich zu sein braucht. Erinnerst du dich noch, wie wir gestern abend bei Euch im Speisezimmer uns unterhielten, während die anderen aufbrachen? Du sagtest, dir wäre Fräulein Holst mit ihren 40 Jahren widerlich, während ich sie hübsch fand und sagte, ich hätte nichts dagegen, einmal eine Nacht bei ihr zuzubringen. Da sagtest du denn zum Spaß: Dann geh' doch mit ihr und frag' sie, ob sie's erlaubt. Sieh, das wäre ja direkt idiotisch gewesen, sie zu fragen, weil, selbst wenn sie noch so gern gewollt hätte, es ihr doch niemals hätte einfallen können, sich einem ganz unbekannten Menschen hinzugeben, von dem sie nicht einmal genau wußte, ob er die Diskretion wahren würde. Zuweilen aber liegen die Verhältnisse so, daß es sich nicht auf andere Weise machen läßt, als indem man fragt. Und das ist z. B. der Fall, wenn man will, daß das betreffende Weib sich frei und unbeeinflußt von einer augenblicklichen Stimmung entschließen soll.«

Eine kurze Pause.

»Und deshalb hatte ich mir gestern vorgenommen, mit dir einen kleinen Spaziergang zu machen und – dich zu fragen ...«

Ich blickte auf sie herab. Sie richtete ihre Augen ganz offen auf mich mit einer Mischung von Verwunderung und Schrecken.

Ich lächelte matt. Dann wurde ihr Blick kalt und nahm einen beleidigten Ausdruck an. Und dieser Ausdruck nahm immer mehr zu. Schließlich war nur noch der Ausdruck des Beleidigtseins da.

Ich sah geradeaus und pfiff leise vor mich hin. Mehrere Minuten lang sagte niemand von uns ein Wort, bis endlich sie das Schweigen brach.

»Wie dumm das von dir war, Hermann!« sagte sie.

»Durchaus nicht. Du wirst doch begreifen, Lily, daß es mir nicht eingefallen wäre, ein ganzes Jahr lang mit dir herumzulaufen und dich zu erziehen, wenn ich nichts anderes hätte erreichen wollen, als mit dir spazieren zu gehen und schlüpfrige Gespräche zu führen.« Sie fuhr etwas zusammen. »Gott bewahre,« fuhr ich fort, »etwas verändert hast du dich ja. Wie du jetzt bist, bist du ja wesentlich anders als damals, als ich dich kennen lernte. Damals glaubtest du, die Männer wären im allgemeinen ganz anständige Geschöpfe, die die Frauen nur ansähen und sich vorstellten, wie es sein würde, wenn man mit einer von ihnen verheiratet wäre – und nur einige liederliche Burschen gingen, ohne verheiratet zu sein, zu Frauenzimmern. Nun weißt du, daß es nur einige Idioten von Männern sind, die nicht zu Frauenzimmer gehen, und du kannst es nicht begreifen, daß jemand so dumm sein kann – wenn er nicht etwa ein Heiliger ist; denn dann läßt sich ja alles begreifen. Du bist dir dessen bewußt geworden, daß jede Handlung, die aus freiem Willen geschieht, des Menschen durchaus würdig, während alles, was in Unfreiheit geschieht, verächtlich ist, und du begreifst daher, daß eine ganze Menge von Dingen, die die Leute im allgemeinen für häßlich und verächtlich ansehen, gar nicht so schlimm beurteilt zu werden braucht, und daß umgekehrt viele Dinge, die von den Leuten gemeiniglich für anständig und gut angesehen werden, recht verächtlich sind. Du verstehst z. B., daß, wenn ich mich dazu entschließe, mich im Schmutz zu wälzen – was ich wirklich tue, weil die Gesellschaft um eine angenehmere Art, meine freie Zeit anzuwenden, mich betrügt – dann nichts vom Schmutze an mir haften bleibt, wenn ich mich wieder erhebe, – wo Freiheit ist, gibt es ja keinen Fall. Und du begreifst auch, daß ein erwachsener Mensch, der noch nicht so weit gekommen ist, dies einzusehen und mich deshalb nach den Moralprinzipien beurteilt, die er zufällig, weil er sich nicht von ihnen frei zu machen vermocht hat, besitzt, – daß ein solcher Mensch ein elender Patron ist, der es nicht verdient, ein freier Mensch zu heißen. Du kannst also die Frage von ganz freien Gesichtspunkten aus betrachten, wenn du dir die Sache überlegst. Aber trotzdem – was bedeutet denn das? ...«

»Ich meine, das bedeutet viel; mir ist eine ganz neue Welt aufgegangen, seitdem ich diese Gespräche mit dir geführt habe.«

»Das mag schon sein. Was zum Teufel hilft aber das alles? Trotz alledem gehst du ja unfrei umher wie zuvor. Du nimmst genau dieselben Rücksichten als früher. Du hast ein schlechtes Gewissen, wenn du das tust, was du für vernünftig hältst – wenn du überhaupt wagst, es zu tun. – – Nein, mit Theorien kommt man nicht zur Freiheit, man muß danach leben.

Es nützt nichts, die Moral und die Theorie zu überwinden. Es ist freilich das erste, was man tun muß, wie man auch erst die Gespensterfurcht auch sein Denken überwinden muß. Ist aber das getan, dann muß man auch die Sache praktisch anfassen und sich in das hineinstürzen, wovor einem bange ist. Tut man das nicht, wird man niemals ein freier Mensch.«

»Dann ist es eben besser, unfrei zu sein.«

»Ja – dann bist du also verloren,« sagte ich müde und warf ihr einen mitleidigen Blick zu.

Das hatte sie freilich nicht erwartet. Sie hatte gewiß nur geglaubt, ich würde ärgerlich werden, weil alle meine Überredungskünste nichts nützten. Jetzt war es, als käme ihr das Gefühl, daß sie dies Spiel verloren habe, denn sie sah mich ganz ängstlich an und sagte: »Was meinst du damit?«

»Daß eine ganz neue Welt, die Welt der Freiheit die du niemals gekannt hast, dir verschlossen bleibt, wenn du nicht die Kraft hast, das zu wollen,« entgegnete ich in ernstem Tone. »Ich verstehe dich nicht.«

»Freilich, wie solltest du das auch verstehen können? Woher solltest du wissen, was die Freiheit wert ist? Das lernt man ja erst, wenn man frei geworden ist. Das Leben lehrt es einen.«

Ich ging einige Schritte weiter, sah nur geradeaus und sprach kein Wort; dann fuhr ich in mürrischem Tone fort: »Übrigens eine Art von Verständnis für den Wert der Freiheit kann man sich ja immer von vornherein erwerben. Wenn es dir recht ist, will ich gern versuchen, dir einen solchen vorläufigen Begriff davon zu geben.«

Sie antwortete nicht.

»Hast du vielleicht kein Interesse daran?«

»Doch,« antwortete sie furchtsam.

»Nun wohl. Stelle dir also vor, du sagtest ja und tätest es – was würde die Folge für dich sein? Erstens würdest du dich ganz unmittelbar wohl befinden – infolge des Freiheitsgefühls, das dich ergreift, wenn du mit dem Heer von Gefühlen brichst, das durch die Erziehung in dir angesammelt worden ist, um dich zu hindern, dich zu diesem hier zu entschließen. Wenn man das alte Ich, das man in seinem Innern findet, hinauswirft, wenn man zum Selbstbewußtsein erwacht ... wenn man fühlt, daß man sich von den durch seine Erziehung erworbenen Vorurteils freigemacht hat . . . dies – ja, dies ist nun einmal ein Genuß. Denn dann fühlt man sich erst ganz in Harmonie mit sich selber. Erst dann wirst du dieses Gefühl der Freiheit bekommen und dich dabei wohl befinden. Und dann – wenn wir eine Weile zusammen gelebt haben, dann ... wirst du anfangen, dich gesünder und stärker zu fühlen, Dein leibliches Wohlergehen wird sich steigern. Denn es ist nun einmal so, daß man sich wohler befindet, wenn man seine Triebe auf natürliche Weise befriedigt . . .«

Ich senkte ein wenig den Kopf und sah über den Klemmer auf sie herab. Sie schlug die Augen nieder und sagte nichts. Ich ging weiter im Text:

»Und dann ... wenn wir also eine Weile zusammen gelebt haben, dann ... dann kommt ein neues Moment hinzu, das ich in Rechnung ziehe: ich weiß, du liebst einen, und dieser eine bin nicht ich. Nun wohl, weshalb hat er, der dich doch ein wenig lieb hatte, dich nicht zur Freiheit erzogen? Weshalb hat er dich nicht dazu gebracht, den Schritt zu tun? Weshalb lebst du nicht mit ihm zusammen? Das wirst du dich selber fragen. Und dann wirst du voller Wut dir selber die Antwort geben müssen: weil er ein Idiot war. Aber, dann wirst du weiter fragen: er hatte doch einen guten Kopf, war ein gescheiter Mensch, wie in aller Welt konnte er da so idiotisch sein? Und du wirst dir selber die Antwort geben: die infamen unfreien Gesellschaftsverhältnisse haben ihn durch die Erziehung zu dem gemacht, was er ist, und er hat nun einmal nicht die Kraft des Bewußtseins gehabt, die dazu gehört, sich trotzdem zur Freiheit zu erheben. Unter anderen Gesellschaftsverhältnissen aber hätte auch er ein freier Mann werden und ihr hättet so lange zusammen leben und euch lieben können – so lange, bis ihr es satt bekommen hättet. – O, die infamen Gesellschaftsverhältnisse! – Dann wirst du anfangen, sie von ganzem Herzen zu hassen. Und was Gegenstand des Hasses ist, das zieht an: Du wirst anfangen, diesen Gesellschaftsverhältnissen auf die Nähte zu sehen, wirst sie Stück für Stück, in allen Details, verabscheuen lernen. Du wirst erkennen, wie die Menschen das Leben hundertmal ärmer gestalten als es ist; du wirst alle diese ehrbaren Gesellschaftsmenschen, mit denen du verkehrst, mit dem unheimlichen Gefühl ansehen, daß sie eine Schar Wahnwitziger sind, die an der fixen Idee leiden, es wäre ihre Pflicht, sich selber so viel Böses zuzufügen, wie sie nur imstande sind. Und du wirst sehen, daß die wenigen Vernünftigen, die unter all diesen Irrenhäuslern existieren, bis auf einige wenige Ausnahmen alle Leute sind, die Schiffbruch gelitten und alle Lebenslust und Energie verloren haben – nur dieser verfluchten Gesellschaftsverhältnisse wegen. Aber genug davon ... worüber sprach ich doch – hast du eigentlich von dem, was ich sagte, ein klares Bild bekommen?«

»Jawohl; doch glaube ich nicht, daß ich etwas würde tun können.«

»Es wäre auch wunderlich, wenn du das glaubtest. Denn du wirst nicht eher etwas tun können, als bis sich zu deiner Intelligenz der Haß als treibende Kraft gesellt. Und jetzt – wie in aller Welt solltest du gerade jetzt glauben können, daß du etwas ausrichten könntest? Hier habe ich dich aus Nacht und Finsternis hervorgeholt und dich in die Morgendämmerung geführt, und nun zeigt es sich, daß du zu alt und nervös bist, um »die frische Morgenluft der Entschlüsse« zu durchwandern, wie der Dichter sagt, und in das volle Tageslicht der Freiheit zu pilgern. Das ist klar: wirst du diese elende Nervosität nicht los und kommt nicht neuer Jugendmut über dich – dann bist du verloren, dann kann gar nicht davon die Rede sein, daß du dahin gelangen kannst, etwas zu tun. Zum Teufel, pack' doch dies alte kränkliche Ich und wirf es von dir –:

Neuen Lebenslauf
Beginne mit hellem Sinne,
Und neue Lieder
Tönen da auf.«

Während des letzten Teils der Unterhaltung waren wir vor der Tür ihres Hauses stehen geblieben. Sie kehrte sich hastig um und schritt in den Torweg hinein.

»Adieu,« sagte sie nervös. »Ich kann nicht ... ich getrau mich's nicht ... ich will nicht.«

»Das letzte ist Unsinn,« rief ich ihr nach. »Du willst; du kannst aber nicht, weil du dich's nicht getraust.«

Und dann ging ich nach Hause, kräftige Flüche im Herzen.


 << zurück weiter >>