Johann Gottfried Herder
Der Cid
Johann Gottfried Herder

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35

    Und mit Tränen in den Augen,
Unaussprechlich rührend flehte
Die Infantin Doña Uraca,
Den ungleichen Kampf zu meiden,
An den väterlichen Greis.
»Trätet Ihr dem Cid entgegen«,
Sprach sie, »ach, der edle Cid
Wüßte sein und unsre Ehre,
Beide rettend, zu verbinden;
Aber Lara, unversöhnlich
Dürstet er nach unserm Blut.
Und Ihr, in so hohen Jahren,
Nach so viel bestandnen Kämpfen,
Wollt Ihr Eurer mich berauben,
Edler Greis? Oh, so bedenkt,
Was Ihr meinem Vater schwuret:
Nie mich zu verlassen, nie!

    Ach, hätt es gewollt der Himmel,
Daß der Cid –«

                          »Wie dann, Infantin?
Daß der Cid –«

                          »Vom Undankbaren
Freilich sprechen wir zuviel.
Doch versprecht mir –«

                                      »Was versprechen?« –
»Wenigstens zuletzt zu kämpfen –«

    »Ich – zuletzt? Wie dann, Infantin?
Habe nicht ich auf der Mauer,
Ich den Schimpf empfangen, ich?« –
    »Unbiegsamer, lasset Eure
Jungen Söhne vor Euch streiten –«
    »Wenn sie fallen, denkt, Infantin,
So verlieret Ihr mit ihnen
Ihrer Dienste sechzig Jahr –«
    »Und wenn Ihr fallt?«
»Eine Stunde
                        Oder zwei von meinem Leben,
Die verlier ich und nicht mehr.
Und mein Tod, wenn er dem Kampfe
Meiner Söhne kühn vorangeht,
Ihnen schaffet er den Sieg.«

    Alle Damen, alle Krieger,
Arias' Söhne selbst, vor allen
Doña Uraca, alle flehen
An den väterlichen Greis,
Zuzuschauen erst dem Kampfe –

    Er, gezwungen von den Bitten,
nicht im mindsten überzeuget,
Wirft, ohn einig Wort zu sagen,
Wirft die Waffen weg im Zorn.


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