Johann Gottfried Herder
Der Cid
Johann Gottfried Herder

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9

    Auf dem Throne saß Fernando,
Seiner Untertanen Klagen
Anzuhören und zu richten,
Strafend den und jenen lohnend –
Denn kein Volk tut seine Pflichten
Ohne Straf und ohne Lohn –,

    Als mit langer Trauerschleppe,
Von dreihundert edlen Knappen
Still begleitet, ehrerbietig
Vor den Thron Ximene trat.

    Auf des Thrones tiefste Stufe
Kniete sie demütig nieder,
Tochter sie des Grafen Gormaz,
Hub sie so zu klagen an:

    »Sechs Monate sind es heute,
Sechs Monate, großer König,
Seit von eines jungen Kriegers
Hand mein edler Vater fiel.

    Viermal kniet ich Euch zu Füßen,
Viermal gabt Ihr, großer König,
Euer Wort mir, mir zusagend
Rächende Gerechtigkeit.

    Noch ist sie mir nicht geworden;
Jung und frech und übermütig
Spottet Eurer Reichsgesetze
Don Rodrigo von Bivar.

    Und Ihr schützt ihn, edler König,
Ihr! Denn wer von Euren Männern
Seiner sich bemächtigt hätte,
Übel wär es ihm gelohnt.

    Gute Kön'ge sind auf Erden
Gottes Bild. Die ungerechten
Sind undankbar ihren treuen
Dienern, nähren Faktionen,
Haß, Verfolgung, ew'ge Feindschaft,
Seufzer und Verzweifelung.

    Denkt daran, o großer König,
Und verzeihet einer Waise,
Der die Klag auf ihren Lippen
Schmerzlich Euch ein Vorwurf wird.«

    »Was Ihr spracht, sei Euch verziehen«,
Sprach der König; »doch, Ximene,
Genug geredet und nicht weiter!
Euch erhalt ich den Rodrigo;
Wie um seinen Tod Ihr jetzo,
Werdet bald Ihr um sein Leben
Und um seine Wohlfahrt flehn.«


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