Johann Gottfried Herder
Der Cid
Johann Gottfried Herder

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6

    Mit zerrißnem Trauerschleier
Sprach Ximene jetzt zum König;
Tränen schwollen ihre Augen,
Wie war sie in Tränen schön!

    Schön wie die betaute Rose
Glänzte sie in ihren Tränen;
Schöner blühten ihre Wangen,
Glühend in gerechtem Schmerz.

    Ihre Worte singt der Sänger,
Doch nicht ihre Blick und Seufzer.
»König«, sprach sie, »edler König,
Schaffe mir Gerechtigkeit!

    Er erstach mir meinen Vater,
Er erstach ihn, eine Schlange,
Meinen Vater, der, o König,
Denk es, dir dein Reich beschützt'!«

    Meinen Vater, der von Helden
Stammte, die mit ihren Fahnen
Einst Pelagius, dem ersten
Christenkönig, folgeten;

    Meinen Vater, der den Christen-
Glauben selbst mit Macht beschirmte,
Ihn, das Schrecken der Almanzors,
Ihn, der Ehre deines Reiches
Ersten Sproß, in deiner Krone
Ihn, den ersten Edelstein.

    Recht nur fleh ich, nicht Erbarmen;
Recht muß beistehn jedem Schwachen.
Unwert ist ein ungerechter
Fürst, daß ihm der Edle diene,
Daß die Königin ihn liebe,
Keines ihrer Küsse wert.

    Und du wildes Tier, Rodrigo,
Auf! Durchbohr auch diesen Busen,
Den ich hier in tiefster Trauer
Dir eröffne. Mord auch mich!

    Warum nicht die Tochter töten,
Der du ihren Vater raubtest?
Warum nicht die Feindin morden,
Die dir's jetzt und ewig sein wird?
Rache fodert sie des Himmels,
Und der ganzen Erde Rache,
Gegen dich!« – Rodrigo schwieg.

    Und des Rosses Zaum ergreifend,
Kehret langsam er den Rücken
Allen Feldherrn, allen Kriegern,
Wartend, ob ihm einer folge;
Aber keiner folget' ihm.

    Als Ximene dieses sahe,
Rief sie lauter noch und lauter:
»Rache, Krieger, blut'ge Rache!
Ich selbst bin des Rächers Preis!«


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