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Krieg und Friede

Gestern

Herbert Bismarck ist seit drei Monaten Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt und in Paris packt Chlodwig Hohenlohe just die Koffer, um als Statthalter nach Straßburg zu gehen (weil, notiert er, die Stellung in Paris »auf die Dauer den jungen Elementen des Amtes gegenüber nicht haltbar gewesen wäre; ein alter Mann kann nicht jungen Leuten gegenüber, die er als Buben gekannt hat, in einer abhängigen Stellung sein«). Da schickt Fürst Bismarck (Caprivi ist Chef der Admiralität) das Kanonenboot »Iltis« in den Karolinen-Archipel des Stillen Ozeans und läßt die Mannschaft auf der Insel Yap die deutsche Flagge hissen. Die Karolinen sind von Portugiesen und Spaniern entdeckt, doch bald wieder aufgegeben worden und in den Jahren 1876 und 1877 hat Spanien englische und deutsche Fragen mit der Erklärung beantwortet, daß es keinen Anspruch auf die Inseln habe. Doch der Verzicht soll nun, nach der deutschen Flaggenhissung, nicht mehr gelten. Trotzdem fast nur deutsche Firmen (Hernsheim, Handels- und Plantagengesellschaft der Südsee) dort beträchtliche Interessen zu wahren haben, darf Deutschlands Einfluß die Korallenriffe der Mikronesier niemals bespülen. So will es die Regierung Ihrer Huldreichen Majestät von Großbritannien und Irland; und hat Tränke bereit, die im Hochsommer Spanierhirne schnell erhitzen. Die Karolinen gehören uns, heißt's in Madrid; und schon wagt die Pöbelwut sich an das Haus der Deutschen Gesandtschaft. Soll der Kanzler dem Kaiser einen Krieg gegen Spanien empfehlen? Der Gegenstand ist allzu winzig (das auf einen Jahresertrag von ungefähr hunderttausend Mark bezifferte Geschäftsinteresse zweier Firmen), England müßte den Leitern seiner westlichen Mittelmeerfiliale helfen und das Schauspiel anglo-spanischer Kampfgenossenschaft könnte hinter den Pyrenäen die glimmende Franzosenhoffnung zu gefährlicher Glut anfachen. Die Gewinnmöglichkeit klein, das Risiko groß; solche Geschäfte macht der Erfahrene nicht. Und daß ohne Krieg, ohne die auf unbeugsamen Entschluß gestützte Kriegsdrohung Ansehnliches nicht zu erreichen ist, weiß der Staatsmann, der Olmütz erlebt und Benedetti an der Arbeit gesehen hat. Eine für's erste verlorene Sache, aus der sich höchstens noch für die inneren Verhältnisse ein Profitchen ziehen läßt. Die Spanier haben keine Lust zu einem den Deutschen annehmbaren Handelsvertrag. Für Posen wird ein neuer, ein deutscher Erzbischof gesucht und mit dem Vatikan, dem der Nachfolger Ledochowskis genehm sein müßte, über die vierte kirchenpolitische Novelle verhandelt, die den Römerwünschen (Vorbildung des Klerus, geistliche Gerichtsbarkeit) bis an die Grenze des dem Staat Erträglichen entgegenkommen soll. Das Zentrum ist noch schwierig, Windthorst der Stratege und Führer eines bunten, nur vom Groll gegen das Bestehende geeinten Heeres: eine dem Papst erwiesene, weithin sichtbare Huldigung kann nützlich werden. »Weil Spanien die Sache aus einem sehr viel höheren Ton nahm, als wir voraussetzen konnten, und uns durch Verletzungen und Beleidigungen das Erhalten des Friedens sehr erschwerte (nach französischen Traditionen hätte man vielleicht einen vollen Kriegsanlaß daraus genommen), haben wir uns an die Weisheit und Friedensliebe Seiner Heiligkeit des Papstes gewendet und er hat uns vertragen und auseinandergesetzt. Dadurch sind wir die Lumperei der Karolinen allerdings wieder losgeworden; aber wir sind dadurch der sehr wichtigen Frage der Möglichkeit eines Krieges mit Spanien, in dem wir nichts weiter zu gewinnen hatten als die Interessen der Firma Hernsheim und irgendeiner anderen, aus dem Wege gegangen.« Das hat Bismarck im Reichstag gesagt; war jedesmal aber ärgerlich, wenn »die Sache wieder aufgewärmt wurde«, die ihm ein Handschreiben Leos des Dreizehnten und den Christusorden in Brillanten, doch auch die einzige unverfallbare Schlappe seines Diplomatenlebens eingebracht hatte. (Der Schiedsspruch Leos gab den Spaniern die souveräne Herrschaft über den Archipel, dem Deutschen Reich das Recht zu freiem Handel und Plantagenbau, freier Schiffahrt und Fischerei und den Anspruch auf eine Flotten- und Kohlenstation, auf den es verzichtete. Als der Wunsch, das von Bismarck nicht Erlangte als leicht erlangbar zu erweisen, die Wendungen deutscher Politik bestimmte, haben wir den Spaniern die Inselgruppe für fünfundzwanzig Millionen Pesetas und das Recht auf eine Kohlenstation abgekauft; und laut uns des Handels gerühmt). Herbert, der Fehl und Schwachheit nicht gern zugab, pflegte zu sagen, der Zweck des Karolinenstreites sei nur gewesen, Spanien für einen uns günstigen Handeisvertrag zu kirren. Den Vater hat der ziemlich fruchtlose Hader Dreierlei gelehrt. Erstens: daß der Kanzler den Ressorts nicht erlauben dürfe, irgendwo ein Feuerchen anzuzünden, dessen Fernwirkung und Ansteckungsgefahr sie nicht ermessen können. Zweitens: daß er noch enger als zuvor sich in die Gewohnheit schnüren müsse, vor dem Entschluß jede Möglichkeit, selbst die vom Glauben abgewehrte, der Entwickelung und ihrer Folgen bis ans Ende durchzudenken. Drittens: daß auch die klügste Diplomatie ohne den Willen zur Machtanwendung nichts zu erreichen vermöge.

Jetzt, spricht Windthorst, nennt der Herr Reichskanzler die Karolinensache eine Lumperei; wir alle wissen aber, welche Wichtigkeit ihr gegeben wurde. »Hat man damals übertrieben? Oder hat man gestern übertrieben?« Der Abgeordnete Payer meint, die Anrufung des Papstes sei in Deutschland nicht verstanden worden und die Nation schenke dem Leiter der internationalen Reichspolitik nicht mehr volles Vertrauen. Das läßt sich ertragen. Auch draußen aber scheint man zu glauben, der siebenzigjährige Kanzler eines fast neunzigjährigen Kaisers wolle um jeden Preis die Kriegsprobe meiden. So gefährlicher (dem Frieden gefährlicher) Glaube darf sich nicht fest einwurzeln. Siebenzehn Monate vor dem Ablauf des Septennates wird eine neue Erhöhung der Friedenspräsenzstärke vom Reichstag gefordert. Moltke spricht: »Man hat uns den Rat gegeben, uns mit Frankreich zu verständigen. Ja, das wäre gewiß sehr vernünftig; es wäre ein Segen für beide Nationen und eine Bürgschaft für den Frieden in Europa. Wenn es nun aber nicht geschieht: à qui la faute? So lange die öffentliche Meinung in Frankreich ungestüm die Zurückgabe zweier wesentlich deutschen Provinzen fordert, während wir fest entschlossen sind, sie niemals herauszugeben, wird eine Verständigung mit Frankreich kaum möglich sein. Man hat auch auf unser Verhältnis zu Österreich hingewiesen. Dieses Bündnis ist sehr wertvoll; aber es ist schon im gewöhnlichen Leben nicht gut, sich auf fremde Hilfe zu verlassen, und ein großer Staat existiert nur durch seine eigene Kraft. Starke Regierungen sind eine Bürgschaft für den Frieden. Wird die Forderung der Regierung abgelehnt, dann, glaube ich, haben wir den Krieg ganz sicher.« Der Papst, in dessen Sinn die Tatsache, daß die Vormacht des Protestantismus ihn ins Schiedsrichteramt rief, tiefe Spur eingedrückt hat, läßt seinen Staatssekretär Jacobini an den Münchener Nuntius Di Pietro schreiben, er wünsche, daß die Militärvorlage von der Zentrumspartei, die sich dadurch um Deutschland, Europa und die Humanität ein Verdienst erwerben würde, in jeder ihr möglichen Weise gefördert werde. (Diesen von Schloezer und Galimberti gegen den Widerstand Jacobinis und des französischen Botschafters Grafen Lefèbvre de Béhaine erwirkten Brief zeigten Windthorst und Franckenstein nicht der Fraktion, sondern nur deren in die Militärkommission gewählten Mitgliedern. Auch Jacobinis zweite Note, die, nach dankbarster Anerkennung der Zentrumsleistung, Leos Wunsch unterstrich und den Freiherrn von Franckenstein »beauftragte, die Abgeordneten davon in Kenntnis zu setzen,« wurde der Fraktion verschwiegen. Wer, fragte Windthorst später im Kölner Gürzenich, hat ein Recht, zu wissen, was ich unter Diskretion erfahren habe? »Ein Recht, sich zu beklagen, hätten nur die, von denen die Mitteilung kam: der Heilige Vater und seine Räte. Wir wollen abwarten, ob sie uns angreifen.«) Bismarck spricht: »Wir haben alles getan, um die Franzosen zum Vergessen des Geschehenen zu bewegen. Frankreich hat unsere Unterstützung und Förderung in jedem seiner Wünsche gehabt, nur nicht in dem, der sich auf eine mehr oder weniger lange Strecke von Rheingrenze richten konnte. Wenn die Franzosen mit uns so lange Frieden halten wollen, bis wir sie angreifen, dann wäre der Friede ja für immer gesichert. Wer aber die französische Geschichte kennt, wird meiner Behauptung Recht geben, daß die Entschlüsse Frankreichs in schweren Momenten immer durch energische Minoritäten und nicht durch Majoritäten oder durch das ganze Volk bewirkt worden sind. Das fortwährende Unterhalten und Schüren des feu sacré de la revanche ist mir im höchsten Grade bedenklich. Wir haben den französischen Angriff zu fürchten; ob in zehn Tagen oder in zehn Jahren: diese Frage kann ich nicht beantworten. Jeden Tag kann eine französische Regierung ans Ruder kommen, deren ganze Politik darauf berechnet ist, von dem feu sacré zu leben, das jetzt so sorgsam unter der Asche erhalten wird. Frankreich wird uns angreifen, wenn es irgendeinen Grund hat, zu glauben, daß es uns überlegen sei. Diese Überzeugung kann auf Bündnissen Frankreichs beruhen. Unsere Diplomatie hat die Aufgabe, solche Bündnisse zu verhindern oder für Gegenbündnisse zu sorgen. Aber sobald die Franzosen glauben, siegen zu können, fangen sie den Krieg an. Das ist meine feste, unumstößliche Überzeugung. Und Frankreich ist heute schon unendlich viel stärker, als es 1870 gewesen ist. Nachdem wir sechzehn Jahre lang uns vergeblich bemüht haben, das Revanchestreben zu beruhigen, nachdem wir so lange abgewartet haben, ob nicht endlich eine Regierung sich finde, die den Mut und die Kraft habe, den Status quo, wie er ist, als einen dauernden zu akzeptieren, mußten wir uns schließlich doch sagen, daß es love's labour's lost wäre, daß unser Werben um Liebe vergeblich war.« Am 14. Januar 1887 verliest Bismarck die Kaiserliche Verordnung, die den Reichstag auflöst, weil er nur ein Triennat bewilligt hat. Am 21. Februar soll ein neuer Reichstag gewählt werden.

siehe Bildunterschrift

Lord Grey

Frankreich hat längst aufgehorcht. Kein wacher Franzose glaubt noch, daß Bismarcks Deutschland der Herausforderung zum Kampf ausbiegen werde. Und in diesem Kampf sieht eine an Zahl und Kraft täglich wachsende Schar die unvermeidliche Notwendigkeit französischen Schicksals. Fast vergessen ist schon die Zeit, da Jules Grévy, als Präsident der Nationalversammlung, den nach Rache dürstenden Elsässer Scheurer-Kestner in seiner heiligsten Hoffnung durch die Sätze enttäuschte: »Frankreich darf nicht an Krieg denken; muß das Gewordene anerkennen und auf den Elsaß verzichten. Glaubt nicht den Narren, die anderes sagen; sie sind schuld daran, daß unser Unglück, nach der aussichtlosen Fortsetzung des Kampfes, uns noch schwerere Last aufgebürdet hat.« Jetzt ist Herr Goblet Ministerpräsident, General Boulanger Kriegsminister und Herr Floquet sitzt der Kammer vor. Noch zittert der Zorn des Streites um die Entgeistlichung der Elementarschule in allen Nerven; noch keuchen die Parteien, die einander gestern hitzig bekämpften, in nachhallendem Haß; und die Hoffnung, in dieser zerklüfteten, von Geiferschlünden gespaltenen Kammer eine Gefühlseinheit zu schaffen, schiene Nüchternen törichter Kinderwahn. Da bringt, am achten Februarmittag, der Ministerpräsident eine Vorlage ins Haus, die, weil die Wehrmacht der Republik gestärkt und die Herstellung des Lebelgewehres beschleunigt werden müsse, für die Heeresverwaltung neue Summen fordert. Kein unnötiges Wort; die Vorlage wird der Budgetkommission zugewiesen. Und in derselben Stunde ist aller innerer Hader, ist jede Parteifeindschaft vergessen. Rechte, Linke und Zentrum, Gemäßigte und Radikale, Katholiken und Freidenker: Alle, sagt Graf Albert de Mun, beherrscht derselbe Gedanke; ein einziger. Herr Goblet wird im Vorsaal, während die Budgetkommission berät, von Fragern umringt. In ruhiger und knapper Rede antwortet der sonst so Ungestüme, er dürfe die düstere Färbung der Umstände nicht hehlen und hoffe nur, daß der Patriotismus der Kammer das Geforderte ohne Debatte bewilligen werde. Von der Lippe der Nächsten fliegt das Wort rasch bis ins Ohr der Fernsten. Die Kommission ist mit ihrer Beratung schon fertig; die Plenarsitzung kann, nach kurzer Pause, weiterwähren. Im Saal und auf den Tribünen sind alle Plätze besetzt und alle Häupter des Diplomatenkorps blicken auf das Gewimmel herab. Tiefe Stille; als müsse über das Schicksal einer Nation nun die Entscheidung fallen. Der Präsident steht auf, hält das Heft mit dem Wortlaut der Vorlage in leise bebender Hand, verliest, mit dunkel umschleierter Stimme, den ersten Absatz und fragt dann: »Wird das Wort verlangt?« Schweigen ringsum. »Ich bitte die Herren Abgeordneten, die für die Annahme des ersten Absatzes sind, die Hand zu heben.« Fünfhundert Hände recken sich in die Luft. (Bischof Freppel, der später Leo den Dreizehnten angefleht hat, von Wilhelm dem Zweiten die Rückgabe der Reichslande gegen zulängliche Entschädigung zu erwirken, reckt den Arm, wie eine Waffe, himmelan; er hat gestern mit frommer Wut wider die Laienschule der Goblet und Genossen gefochten, hat jetzt aber den seinem Nachbar De Mun sichtbaren Widerschein des feu sacré de la revanche im feuchten Gewölb des Auges.) Nicht eine Meldung zum Wort; nicht eine Stimme gegen die Vorlage. Stumm wird, mit einem Gestus, der zur Weihehandlung geworden scheint, ein Kapitel nach dem anderen erledigt. Nach der Gesamtabstimmung nicht das schüchternste Beifallszeichen. Den Zuschauern stockt der Atem; und staunend schweift der Blick des Fremdlings über diesen Saal hin, durch den eines Landes, eines Volkes Seele zu schreiten scheint. Die Spannung löst sich erst, als der Präsident den sakramentalen Satz ausgesprochen hat: »Der Gesetzentwurf ist angenommen.« Fünfhundert sind aufrecht; wie ein Mann, ein Heer.

Die Tage deutscher Wahl und Stichwahl sichern dem Septennat eine stattliche Mehrheit. Die Thronrede, die des neuen Reichstages zweite Session eröffnet, fordert abermals »eine wesentliche Erhöhung der Wehrkraft« (durch die Stärkung der Landwehr und des Landsturmes) und spricht den Entschluß aus, »in der Abwehr willkürlicher Angriffe und in der Verteidigung unserer Unabhängigkeit so stark zu werden, daß wir jeder Gefahr ruhig entgegensehen können.« Am 6. Februar 1888 sagt Bismarck im Reichstag: »Ich glaube, konstatieren zu können, daß die Aspekten nach Frankreich hin friedlicher, viel weniger explosiv aussehen als vor einem Jahr.« Er hat in den Fällen Schnaebele und Brignon (Verhaftung des vom Reichsgericht der Spionage bezichtigten französischen Polizeikommissars, Erschießung des Waldhüters Brignon wegen Grenzübertretung), nach kräftiger Wahrung des deutschen Rechtsanspruches, den Mut zu weiser Nachgiebigkeit gezeigt: und dem Volk Frankreichs dennoch die Überzeugung aufgezwungen, daß Deutschlands Schwert jede Kränkung, jeden Versuch zur Machtminderung ohne Zaudern ahnden werde. Lesseps hat in Berlin versichert, daß die Republik nicht an nahen Rachekrieg denke. Boulanger ist nicht mehr Minister. Die Kabinettschef Rouvier, Tirard, Floquet beteuern friedliche Absicht. Und Sadi Carnot, den die Patriotenwut als unkriegerischen Schwächling bekämpft, hat in der Präsidentenwahl über zwei Generale gesiegt. Am Rhein und im Wasgenwald, an der Meurthe und Meuse, Marne und Seine ist Friede geblieben, weil Frankreich, nach einer Stunde gefährlichen Zweifels, erkannt hat, daß Deutschland in Ehrennot nicht den Krieg scheuen werde.

Heute

Der von Caprivis Blindheit ausgeführte Befehl Wilhelms des Zweiten, die Verlängerung des deutsch-russischen Assekuranzvertrages abzulehnen, hat der dritten Französischen Republik den Bundesgenossen gesellt, der sich, durch den Mund des Zars Nikolai Pawlowitsch, der Zweiten als Helfer gegen deutsche Einheitmacht angeboten hatte. Der unsteten, doch immer schwachgemuten Torheit deutscher Politik hat sie andere wichtige Bündnisse zu danken. Rußland, England, Italien, Spanien, die Vereinigten Staaten und Japan sind ihr durch Verträge assoziiert. Gegenbündnisse hat uns die deutsche Diplomatie nicht zu schaffen vermocht. Wird der vor neun Monaten entworfene deutsch-russische Vertrag jetzt endlich, weil die Leute der Wilhelmstraße dem Mob öffentlich Meinender etwas bieten wollen, in Petersburg unterzeichnet, so ist es nicht etwa einer, der uns irgendwie Beträchtliches bringt; der Verzicht auf Nordpersien wird uns mit Freundlichkeiten bezahlt, die der Bagdadbahn, dem unseligen Drehpunkt deutscher Staatsstrategie, nützen sollen.

Wie Rußland unser Handeln beurteilt, lehrt ein Artikel der Politischen Korrespondenz, in dem, höchst offiziös, gesagt wird: »Die überraschende Sendung eines deutschen Kriegsschiffes nach Agadir ist überall als ein Fehler oder mindestens als ein ungehöriges Verfahren aufgefaßt worden; ihre schnelle Folge war der Entschluß, die Lebenskraft des franko-russischen Bündnisses und der franko-britischen entente cordiale vor Europa als ungeschwächt zu erweisen. Im ganzen Reussenreich haben, ohne Unterschied der Parteistellung, alle Stimmen der öffentlichen Meinung eine Intervention empfohlen, die der gerechten Sache Frankreichs zum Sieg über Deutschlands unehrlichen Eigennutz helfen könne. Noch ist, was in der Wilhelmstraße gesagt wird, allzu ungewiß und schwankend; aber Rußland läßt sich von Tag zu Tag über den Gang der Verhandlungen berichten und wird nicht zaudern, wenn die Stunde zu wirksamem Eingriff gekommen ist. Der Botschafter Louis weiß aus vielen Gesprächen mit Herrn Neratow, daß seine Heimat auf den Beistand unseres Auswärtigen Amtes mit voller Zuversicht rechnen darf«. Frankreich hat Grund zu dem Glauben, daß es, mit seinen Bundesgenossen und Freunden, mindestens eben so stark ist wie das Deutsche Reich; daß die Gefährten ihm, um des eigenen Vorteils willen, gegen den Feind helfen müssen; und daß es unklug wäre, den Baum deutscher Macht in den Himmel wachsen zu lassen.

Mancher Deutsche hatte gehofft, die Verständigung mit Frankreich werde möglich sein, wenn die Zahl der aus dem Kriegsjahr Überlebenden sich verringert habe. Dieses Hoffen trog. In Frankreichs Jugend lebt ein ernsteres, ein heißeres Sehnen nach Rache als je in ihren Vätern. »Nur für kurze Zeit hat die Idee des Rachekrieges die Geister unseres Volkes geeint und beherrscht; ist sie Frankreichs wahre Königin gewesen.« Das sagt Charles Maurras in seinem (von meisterlicher Stilkunst geschaffenen) Buch »Kiel et Tanger«, dessen Zweck ist, der entthronten Königin wieder auf den höchsten Sitz zu helfen. Lest es; lest das von Barrès, Pigny, Dutrait-Crozon, Léon Daudet und anderen Männern der Action Française Geschriebene: und Ihr werdet, deutsche Diplomaten, ahnen lernen, was in Frankreichs Seele wird. Die Gegenrevolution. Der gebildeten Jugend ist die Jakobinerrepublik, die sich (selbst Anatole France hat es, der Sozialist, zugegeben) als internationale Macht nicht durchsetzen kann, zum Greuel geworden; den von Georges Sorel geführten Syndikalisten wie den ernsthaften Monarchisten, denen Maurras voranschreitet. Schuld der Nation? Die hat sich, nicht ohne eitles Wohlgefallen, eine Weile für unrettbar décadente gehalten; für ein gerade in seinem Verfall ungemein interessantes Volk. Das ist vorbei, seit Frankreichs Flieger auf allen Feldern Europas gesiegt haben. Vom Aeroplan hat der Glaube an Frankreichs Wiedergeburt sich in die Seelen gesenkt. »Wir haben vor allen anderen Schnellfeuergeschütze und Gewehre kleinen Kalibers, Torpedos und Unterseebote gehabt und haben jetzt die besten Flugmaschinen und die tapfersten Luftpiloten; geschickte, oft genialisch findige Techniker und einen Schwarm kühner, tollkühner Männer, die an einen Wettflug ihr Leben wagen. Sieht so ein Volk aus, dem morgen die Sterbeglocke läuten wird?« Was Sport war, ist zur nationalen Sache geworden. Nach jedem Flug der Blériot, Beaumont, Védrines wird öffentlich errechnet, wie rasch sie über dem Rheinufer sein und welche Sprengstoffmenge sie auf diesen Weg mitnehmen könnten. »Im Kriegsfall kann Frankreich fast vierhundert Aeroplane mobil machen«: am 14. August stands im »Journal«. Nur die Leitung fehlt dem Lande, die Organisation, die eine wirksame Ausnützung aller Kräfte verbürgt. Noch ist der Mann nicht gefunden, der in das Maß des Staatsretters paßt. Aber das Volkssehnen sucht ihn; und wird ihn desto hastiger suchen, je näher die Gefahr neuer Demütigung dem Vaterland rückt. Vielleicht bringt erst der Krieg ihn ins Licht. Diesen Krieg will der wichtigste und morgen wohl auch mächtigste Teil des Volkes führen, sobald die Gunst der Stunde es irgend erlaubt; einen Krieg, der dem Reich die Rheingrenze zurückgibt und die Nötigung abnimmt, von Russen oder Briten sich die Willensrichtung vorschreiben zu lassen. Deutschland? Sicher ist es sehr stark; aber zu reich geworden und mit dem Gepäck seiner Exportindustrie zu schwerfällig, um sich in Abenteuer zu wagen. Wie viele Püffe und Stöße hat es, welche Schwaden von Hohn und Schimpf in zwei Jahrzehnten hingenommen; wie emsig Frankreich zu versöhnen gestrebt; wie oft unter jedem Mond sich laut der Friedenswacht verlobt. Deutschland ist froh, wenn es, unter Spott und Speichelregen, noch mit heiler Haut der Kriegsgefahr ausbiegen kann: sonst hätte es 1905 losgeschlagen, als dem Heer der Republik das Unentbehrliche fehlte.

So ist die Stimmung in Frankreich. Papagenos, der sich schämt, weil er sich von Monostatos schrecken ließ; der Schwarze schlottert ja in ärgerer Bangnis noch als der Vogelfänger. Der Zweifler mag sich vorstellen, was in der Republik geschehen wäre, wenn anno 1887 das Deutsche Reich einen Kreuzer nach Tongking geschickt hätte. Jetzt? Sie ist ganz ruhig geblieben.

Frankreich muß wieder glauben lernen, daß Deutschland, wenn die Ehre oder das Interesse ihn fordert, den Entschluß zum Krieg nicht um einen Nachmittag vertrödeln wird. Erst dann sind wir unserer Zukunft sicher. Die öffentliche Meinung (stand am 9. August im »Temps«) wandelt sich; die Politik des Friedens um jeden Preis behagt ihr nicht mehr. Wird ihr aber rasch wieder behagen, wenn sie merkt, daß es nicht die Politik des Nachbars ist; daß dieser Nachbar noch die Kraft kündende Willensfarbe seiner Jugendzeit hat. Wir können den Franzosen mehr bieten als irgendeine andere Macht. Die Bürgschaft für ein großes afrikanisches Reich; die Möglichkeit, den Aufwand für das Landheer zu kürzen und das Ersparte dem Flottenbau zuzuwenden; sicherere und reichlicher lohnende Anlage ihres Kapitals, als die Staatsrenten Osteuropas sie gewähren; Organisatoren der Industrie und Agenten des Handels. Doch wir können ihnen auch viel nehmen; Unwiederbringliches. Die Republik kann einen Freund haben, der ihr allen Glanz der Sonnentage zurückbringt und dessen Same im Schoß ihres Garten eine neue Blüte europäischer Menschheit zeigt. Oder einen Feind, der, seit er sie besiegen lernte, nicht entmannt worden ist. Sie muß zur Wahl gezwungen werden; und bis sie gewählt hat, darf nichts geschehen, was sie, durch den Anblick deutscher Schwachheit, ermutigen, nichts, was ihr Mißtrauen mehren, sie nutzlos demütigen könnte.

Morgen

Herr von Bethmann weiß wieder nicht, welcher Gegenstand umstritten wird. Er läßt sein Gesinde in jämmerlichem Zeterton einen Zeitungschreiber schimpfen, der, mit allzu grobem Wort freilich, den Glauben angedeutet hat, die Scheu vor dem Krieg stamme aus dem schwindeligen Gewissen Wilhelms des Zweiten. Glaubt der chancelier introuvable, weil ein Offiziöser das Maul weit aufreißt, werde auch nur ein deutsches Hosenmätzchen eingeschüchtert? Und ist sein Hirn blind genug, nicht zu ahnen, daß die ewige Beteuerung, an »höchster Stelle gebe es keinen schwachen Punkt«, im Ausland die Meinung erwirken muß, das werde nur gesagt und illuminiert, um mit dem Strahl so überhitzter Rede die Schwachheit wegzubrennen? Ein paar ruhige, höflich ironische Sätze konnten nützen; die kommandierte Tobsucht weckt den Glauben, der Kanzler wolle das Ziel des Angriffes recht sichtbar machen und den Angegriffenen dadurch an seine Seite schrecken. Er will es nicht; hat nur keinen Blutstropfen eines Staatsmannes in seinen Adern und wittert niemals die Folgen seines Tuns. Franzosen und Briten sagen: »Wenn ein Minister so oft und mit so gellendem Gekreisch seinen Herrn gegen den Verdacht allzu duldsamer Friedfertigkeit verteidigt, kann er es nur tun, um auf den Herrn zu wirken; um ihn, durch die Übertreibung der Vorwurfswucht, aus der Friedensruhe zu scheuchen. Also stimmt drüben irgend was nicht und unsere Rechnung war richtig.« Muß der ernste Zwist in den Kinderstubenstaub eines Gouvernantenzankes niedergezerrt werden? »König Friedrich Wilhelm der Vierte war zu kriegerischen Unternehmungen nicht geneigt«, sprach, nach einem Rückblick auf die Olmützer Demütigung Preußens, Bismarck einst im Reichstag; und fügte, weil ihm einfiel, daß sich es um den Bruder seines Herrn handle, den Notsatz hinzu: »Und sein Volk kann ihm dafür nur dankbar sein.« Der von der Amtspflicht Freie hat geschrieben: »Dem geistreichen König fehlte es an Entschluß. Der Grundirrtum preußischer Politik war der, daß man glaubte, Erfolge, die nur durch Kampf oder durch Bereitschaft dazu gewonnen werden konnten, würden sich durch publizistische, parlamentarische und diplomatische Heucheleien in der Gestalt erreichen lassen, daß sie als unserer tugendhaften Bescheidenheit zum Lohn oratorischer Betätigung ›deutscher Gesinnung‹ aufgezwungen erschienen. Man nannte das später ›moralische‹ Eroberungen; es war die Hoffnung, daß andere für uns tun würden, was wir selbst nicht wagten.« Wer hat zuerst von moralischen Eroberungen gesprochen? Wilhelm, Prinz-Regent von Preußen, der in drei Kriege gedrängt werden mußte, in dreien, nach der Entschüchterung, furchtlos ausharrte und als Greis Deutscher Kaiser wurde. Wird sein Enkel durch die Vermutung herabgesetzt, daß er des Krieges Plage und Greuel ebenso scheue, wie Großohm und Großvater sie scheuten?

Nicht Deutsche haben den Glauben aufgebracht, sondern Ausländer, die Wilhelm oft seiner Friedensliebe versichert hatte; nicht Schmäher, sondern Bewunderer (Jules Simon, der Fürst von Monaco, Waldeck – Rousseau, Lecomte, Etienne, Menier, Huret); nicht Feinde, sondern nah Verwandte und Hausgenossen (Mutter und Onkel, Graf Seckendorff). Jetzt hatten die Warner nur zu zeigen, daß Deutschlands Feinde auf den Deutschen Kaiser hoffen: als auf den milden Mann, der um jeden Preis den Frieden erhalten werde. Das ist als wahr erweislich; als wahr erwiesen worden. (In den letzten Tagen hat Drumont den Kaiser dem Prinzen Hamlet verglichen: »Das unfaßbare Grauen, das ihn vor jedem Handeln ergreift, beweist, daß er nicht zum Handeln bestimmt ward; er kann über eine große materielle Macht verfügen und weiß nicht, was er damit anfangen soll«; hat General Bonnal gesagt: »Der Kriegsherr des deutschen Heeres zweifelt wohl selbst an seiner Zulänglichkeit zu solchem Amt. Ich habe oft den großen Manövern drüben zugesehen; wenn der Kaiser eine Aufgabe gestellt und die dazu nötigen Operationen geleitet hatte, kam alles in eine wahrhaft imperatorische Klemme. Aus diesem Bewußtsein stammt des Kaisers unzweifelbare Friedfertigkeit, gegen die keines Kanzlers Tatendrang aufkommen kann.«) Droht daher nicht ernstere Gefahr als aus einem turnväterlich groben Artikel?

Jeder Tag pfercht den Politiker in die Pflicht, aus der Summe des Möglichen das Notwendige zu errechnen. Weder notwendig noch nützlich ist der von dem kleinen Herzen des Kanzlers unternommene Versuch, die Mitschuld an einem schlechten Geschäft dem Kaiser aufzubürden und über den Erdball zu heulen: »In jeder Stunde hat er mit uns übereingestimmt!« Das glaubt draußen ja keiner; und daß keiner es glaubt, bahnt uns jetzt einen schmalen Pfad aus dem Dickicht. Ein Volk, das, ohne Schwertstreich, nur durch den sichtbaren Beweis unbeugsamen Willens zur schwersten Machtprobe ungefähr alles erreichen könnte, läßt sich von denen, die vor ihm zittern müßten, zum Ambos machen: und konnte gestern, könnte morgen doch Welthammer sein.


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