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Korypho

Von Venedig nach Korfu brauchen die Dampfer der Navigazione Generale Italiana ungefähr neunzig Stunden. Zeit genug, unterm Sonnensegel den Lehren alter Geschichte nachzuträumen. Diesen Weg fuhren vor neunhundert Jahren die Schiffe des Herzogs von Venetien und Dalmatien; als sie dem von den Normannen bedrängten Basileus Hilfe gebracht hatten, durfte Vitale Falieri sich gar Herrn von Istrien nennen. Ein Dandolo zog als Sieger in die Stadt Konstantins, nahm Kandia, stärkte im Ägäischen und im Jonischen Meer die Macht der Republik. Ein anderer Dandolo befahl den Galeeren, die von den Genuesen geschlagen wurden. Achtzig Jahre danach erst ward die Rache möglich: die Veneter siegten über Genuas Flotte und Heer und konnten in Turin der Handelsrivalin den Frieden diktieren. Um diese Zeit wurde Korfu zum zweitenmal die Beute des geflügelten Markuslöwen. Dalmatien aber war im Kriege gegen Ungarn verloren worden. Und je weiter die Osmanen vordrangen, desto schmaler wurde das Herrschaftgebiet des Dogen. Die Laune Fortunens wechselte; doch zur Vormacht des Ostens konnte Venedig nie wieder werden, seit die Türken am Bosporus saßen und der Seeweg nach Ostindien gefunden war. In Dalmatien hat Morosinis Feldherrnleistung der Republik noch einmal zu Ansehen geholfen; Zypern und Kreta konnte auch er ihr nicht retten. Seit dem Frieden von Poscharewatz hat sie auf weltpolitisches Handeln verzichtet und heute gehört das Compartimento Veneto nicht zu den blühenden Provinzen. Die Macht der Republik ruhte, wie ihre Hauptstadt, auf einem Pfahlgerüst und konnte nur dauern, solange der allen Toten trotzende Wille einer Kriegerrasse das hölzerne Fundament gegen Sturmflut und Wogenprall schirmte. Diese Rasse hat dem Oströmischen Reich gefehlt; drum war es verloren, als mutlose Schwächlinge den Sitz Konstantins erklettert hatten. Auch daran sollte auf diesem Seeweg der Reisende denken. Nikephoros Phokas, dem, nach den Siegen auf Kreta, bei Hierapolis und Aleppo, mit dem schönen Leib der Schänkendirne Theophano auch deren Witwengut, das Erbe der Armenierdynastie, zugefallen ist, lebt noch in seinem Heer und hält es in Atem. Kein Jahr ohne Krieg; kein Krieg ohne Lorbeer. Johannes Zimiskes, der im cubiculum die brünstige Theophano umarmt und den schlafenden Kaiser tötet, schreitet als gekrönter Feldherr in noch helleren Glanz: wehrt dem Romäerreich die Slawengefahr ab und sichert ihm für zwei Jahrhunderte das Leben. »Vor dem Grimm des Zimiskes erbebten die Völker. Vor ihm flohen die Sarazenen und die Armenier. Die Perser baten ihn um Gnade. Bis nach Edessa zog er und bis an den Euphrat. Die Rosse seines Heeres zerstampften die Saat der Syrer und Phöniker. Wo in Feindesland etwas wuchs, da mähte, gleich der Sichel, das Schwert der Christen.« So hat der Mönch Georgios das Lebenswerk dieses Basileus geschildert. Zwei Helden folgt ein dritter: unter dem starken, tollkühnen Barbaren Basileios erreicht Byzanz den Gipfel der Macht. Dann geht es bergab. Der achte Konstantin ist kein Soldat und überläßt das Heer den Hofleuten. Der neunte vergeudet sein Geld an Luxusbauten und Wissenschaftspielerei und läßt die Armee darben. Die Normannen dringen vor und entreißen Ostrom, was Justinian ihm gewonnen hat. Die in ihrem Selbstgefühl beleidigten Generale empören sich und rufen den (einem Höfling geopferten) Feldherrn Isaak Komnenos zum Kaiser aus; einen schweigsamen Greis, der mit einem Wink zu befehlen versteht, die Bürde des Amtes aber nicht lange trägt. Redner und Rechner, Schreiber und Träumer folgen. Frieden um jeden Preis: so lautet bald die Losung. Das Reich verbürgerlicht sich und die herrschende Bürokratie blickt mit verächtlichem Lächeln auf die Tage des »rohen Militarismus« zurück. Auch nach dem Schicksalstag von Mantzikert, nach dem Verlust von Armenien und Kappadokien wird die Phrase nicht entthront. Ringsum Feinde; und früh und spät dennoch der Ruf nach Frieden. Noch einmal rettet die Armee das Reich: sie krönt in der Sophienkirche den kriegerischen Komnenen Alexios. Der befreit das Land von den Normannen, schlägt bei Korfu, im Bunde mit den Venetern, ihre Flotte und erobert den Westen Kleinasiens zurück. Doch der Glanz währt nicht mehr lange. Der Militarismus ist bekämpft, der Byzantinismus gezüchtet worden. In Ost und West lauert die Feindschaft. Germanen, Slawen, Islam: für das Reich der schwatzenden Memmen ist's zu viel. Selbst die tüchtigen Regenten können nur für kurze Zeit noch das Unheil aufhalten. Unter dem Kalimafkon, dem prächtig wallenden Trauerschleier verwest der Leib des von großen Kriegern und Organisatoren geschaffenen Staates. Noch jauchzt das betörte Volk dem Kaiser zu, der in pomphaftem Zug durch die Straßen schreitet. Jauchzt noch, als Mohammeds Janitscharen schon zum Sturmlauf vorrücken. Das Kreuz auf der Sophienkirche schützt sicher selbst in schlimmster Wettersgefahr. Sicher. Da fällt das Kreuz; muß dem Halbmond weichen. Der Gaukelglanz der Großmacht ist längst fahl geworden. Nun versinkt Ostrom; das Griechenreich war einmal. Und von dem Basileus erbt der Zar der Moskowiter, der die Palaeologentochter freit, den Stirnreif des Konstantinos Monomachos. So welken Weltreiche, die das Schwert schuf, das Schwert nur erhalten konnte … Otranto, das der zehnte Konstantin, der Rechenmeister, verlor. Korypho, das Isaak Angelos zurückgewann. Bis hierher flogen einst die Adler von Byzanz. Schon rasselt die Ankerkette.

Im Hafen läßt der Zugereiste sich den Aufruf des Bürgermeisters von Korfu übersetzen. »Auf den Deutschen Kaiser lauscht und schaut die Welt. Er ist die größte Gestalt des Jahrhunderts.« Da steht's. Und doch ist ein Halbjahrtausend verstrichen, seit die Byzantiner hier herrschten. »Der Deutsche Kaiser ist an glänzenden Empfang gewöhnt; zeigt ihm, daß die Empfindung echt ist, die Euch aufjubeln läßt.« Ihr kennt ihn zwar nicht, doch er bringt Geld ins Eiland. Ackerbau, Fischerei, Viehzucht, Gewerbe: alles ziemlich dürftig. Wenn der Kaiser oft herkommt, hebt sich die Fremdenindustrie. Zeigt also flink, daß eure Empfindung echt ist. Das Material, das bei Gasturi für den Aufputz des Achilleion und für das neue Hofherrenhaus verwandt wird, ist nicht echt. Der Kaiser will, daß alles fertig sei. Rabitzwände und Kulissen müssen aushelfen. (Ein Hausminister ist der eiligen und kostspieligen Pflicht entflohen; fand die Last einer neuen Hofhaltungsstätte zu schwer. Aus dem Munde des Oberhofmarschalls, der sie jetzt trägt, hörtet ihr keinen Seufzer. Die Zivilliste wird nächstens ja doch erhöht.) Dennoch mußte die Ankunft verzögert werden. Hundert Menschen, allerhöchste, höchste und hohe Herrschaften, wollen standesgemäß untergebracht sein. Die Insulaner können's kaum erwarten. Solche Ernte ward der Eparchie Kerkyra niemals. Hundert aus Berlin; zwei deutsche Kriegsschiffe und ein Depeschenboot. Aus Athen kommt der König mit Frau und Kindern. Und King Edward schickt (zur Aufsicht?) zwei Panzerschiffe.

Der Versuch, den Balkanfragen während der Zeit russischer Schwäche die Antwort zu finden, wird einstweilen nicht gelingen. Nicht, wenn Okzident und Orient getrennt bleiben. Die Westmächte vermögen ohne Hilfe nicht viel; die Welt sieht anders aus als in den Krimkriegstagen. Wie Rußland sich stellen wird: that is the question. Die Politik Iswolskijs dünkt manchen Kollegen zu britisch. Doch Benkendorf wäre nicht minder anglophil (vielleicht noch mehr). Eduard soll ernstlich an eine Reise nach Petersburg denken. Die Firma Baring Brothers, das konservativste Bankhaus Englands, hat eine Moskauer Anleihe übernommen. Zeichen und Wunder. Daß den russischen Schiffen die Meerengen geöffnet werden, ist gewiß. England hat viel zu bieten (auch französisches Geld) und wird den Russen, die in Ruhe was Gutes schmausen möchten, nicht zumuten, auch in Europa pour le roi d'Angleterre zu arbeiten. Vorn sieht man und hört nur das Europäische Konzert; hinten wird geschäftig verhandelt und keiner kann genau voraussagen, welche Gruppierung wir übermorgen erblicken werden. Ist Österreich mit Italien ganz einig? Trotzdem Aehrenthal jusqu'au delà de Mitrowitza vorangegangen ist und Üsküb nun nicht mehr in die italienische Einflußsphäre fallen kann? Zu Nachgiebigkeit wird Franz Ferdinand (mit Conrad von Hötzendorf als militärischer Berater) nicht zu haben sein. Herr Tittoni hat schon am 10. März in der Kammer recht sanft geredet. Die Hoffnung, das Europäische Konzert werde sich zur selben Zeit und mit derselben Kraft für den Bau aller geplanten Balkanbahnen beim Sultan einsetzen, hegt er wohl kaum noch. Hat aber in London und Petersburg gute Freunde. Unser Platz ist nicht schlecht gewählt. Was uns unangenehm werden konnte (Änderung des Balkanstatus ohne Mitwirkung Rußlands), ist für's erste nicht zu fürchten. Und geht Rußland mit den Westmächten, dann sitzen wir nicht allein in der Kälte und sind assekuriert.

Die Rede des Kanzlers zwang also nicht zu Tadel noch Hohn. Sie ging über Geschehenes mit bescheidenem Anstand hinweg und suchte in einem wichtigen Bereich neue Möglichkeiten zu sichern. Auch von einem zu stolzerem Selbstbewußtsein erwachenden, zur Wahrung seiner Wirtschaftzukunft entschlossenen Österreich weichen wir nicht; vergessen niemals, daß Italien zum franko-britischen Konzern gehört; und lassen uns weder von der monegassischen Hoheit noch von ubiquitären Versöhnungsfestgästen zu Umwerbung Frankreichs verleiten. Bleibt's dabei? Dann braucht der Deutsche nicht mehr bitter zu lächeln, wenn er den Kanzler von der Festigkeit, Stetigkeit, Einheitlichkeit der Reichspolitik reden hört. Darf er kaum noch über den Mangel an schöpferischen Gedanken klagen. Nützliches ist jetzt ja nicht zu tun; die einstweilen letzte Gelegenheit verpaßt. Still sein und warten: eine andere Losung kann es heute nicht geben. Bleibt's wirklich dabei? Zweifel sind erlaubt. Der für das Ohr eines Thronerben bestimmte Hauptteil der Rede klang gut; der Rest hatte den alten Ton, der Beifall sucht, doch nirgends Glauben findet. Fürst Bülow weiß, daß die Behauptung, der deutsche Flottenbau (der England zunächst mindestens zu unbequemen Geldopfern zwingt) brauche das Inselreich Eduards nicht zu bekümmern, keinen Briten überzeugen wird. Dennoch wiederholt er sie, so oft er über die internationale Politik zu sprechen beginnt. Er weiß auch, daß der von Wilhelm an Lord Tweedmouth geschriebene Brief drüben noch nicht vergessen ist: und redet, als handle sich's um die harmloseste, alltäglichste Sache von der Welt. »Ein Privatbrief, meine Herren.« Der Deutsche Kaiser schreibt an den Ersten Lord der Admiralität über die englische und die deutsche Flotte: ein Privatbrief. »Ein Betätigungsrecht, das von allen Souverainen beansprucht wird und das niemand unserem Kaiser beschränken darf.« Daß Eduard mit Iswolskij, Franz Joseph mit Tittoni Briefe ähnlichen Inhalts wechselt, wird nicht leicht einer glauben. Und mancher wünschen, der Kanzler möge seinem Herrn von solcher Betätigung dringend abraten. Als Bismarck in Petersburg beglaubigt war, sagte ihm Gortschakow in einer Angststunde: »Nur zwei Menschen kennen die Politik des Kabinetts: der Kaiser, der sie macht, und ich, der sie vorbereite und ausführe; Seine Majestät ist sehr verschwiegen und ich sage nur, was ich will.« Der kleine Kanzler schlotterte bei dem Gedanken, Alexander könne hinter seinem Rücken mit Hugo Münster (der am russischen Hof Militärbevollmächtigter gewesen war) als mit dem Berliner Vertrauensmann unterhandeln. »Münster hatte hier unter dem hochseligen Herrn eine Stellung, die für einen Ausländer, wenn er auch dem befreundetsten Hof angehört, in den Augen jedes Russen unmöglich ist. Sie, Herr Gesandter, haben den Takt gehabt, alle Nebenwege zu vermeiden, die Ihnen offenstehen konnten.« So dachte der Berater des Selbstherrschers. Im Deutschen Reich hat der kaiserliche Minister an dem Geheimverkehr seines Herrn mit den Ressortchefs fremder Mächte nichts auszusetzen.

Darf drum auch nicht klagen, wenn von dem »Betätigungsrecht« fortan noch öfter Gebrauch gemacht wird. Präsident Krüger, General De Lacroix, Graf Goluchowski: nach diesen berühmtesten Proben persönlicher Politik hatten wir eine Pause. Auf den Fall Tweedmouth folgte sogleich der Fall Hill. Im November war gemeldet worden, Herr Tower, der die Vereinigten Staaten von Amerika in Berlin vertritt, werde im Lenz Herrn Hill den Platz räumen. Alles in bester Ordnung. Herr David J. Hill wird willkommen sein. Nach fünf Monaten heißt's plötzlich, das agrément sei zurückgenommen. Die amerikanische Presse wütet. Daß eine Kandidatur höflich abgelehnt wird, ist nicht selten (auch einem deutschen Diplomaten drohte jüngst diese Gefahr); neu aber nach der Annahme ein Stimmungswechsel. »Weiß Roosevelt, weiß der Staatssekretär Root etwa nicht, wer nach Berlin paßt?« Trotzdem unsere Offiziösen erklären, Hill sei noch immer persona grata, währt der Lärm fort. »Deutsche Anmaßung! Wenn unser Kandidat ihnen nicht mehr gefällt, mag der Erste Sekretär die Geschäfte führen und Towers Posten unbesetzt bleiben.« Der Kundige ahnt schon, was geschehen ist. Und liest am vorletzten Märztag im Lokalanzeiger: »Der Kaiser hat die Beanstandung des von Roosevelt gewählten Botschafters bedingungslos zurückgenommen. Aus Rücksicht auf die Öffentliche Meinung Amerikas. Er hat seine Ansicht schnell geändert, als ihm mitgeteilt wurde, die deutsch-amerikanische Freundschaft sei gefährdet.« Das war aus der Wilhelmstraße recta nach London berichtet worden und von dort nach Berlin zurückgelangt. Baron Speck von Sternburg muß im Weißen Haus einen Entschuldigungszettel überreichen und froh sein, wenn Uncle Sam die Stirn entrunzelt. Was war geschehen? Wilhelm hatte an Roosevelt geschrieben (oder schreiben lassen), er fürchte, der auf den Botschaftersold angewiesene Herr Hill werde das Sternenbannerreich nicht so würdig repräsentieren wie der Millionär Charlemagne Tower. Und Amerika heischte öffentlichen Widerruf. Der Kaiser, der sich für die Akademie der Künste als Barock-Imperator, den Lorbeer auf der Allongeperücke, den rechten Fuß auf der Weltkugel, modellieren läßt, mußte nachgeben. Eine böse Geschichte. Hat der Kanzler sie im Entstehen gekannt? Sonst ist mit der Festigkeit, Stetigkeit, Einheitlichkeit deutscher Politik kein Staat zu machen. »Il ne veut pas s'excuser? Un mauvais Allemand«: das stand im Gaulois. Wir Friedlichen haben's weit gebracht. Bis auf die Klippe von Korypho.


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