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Südwestafrika

Wieder wurde in Berlin eins der Denkmale enthüllt, die kultivierten Menschen die Tiergartengegend verleiden. Diesmal war Roon das Opfer. Der übliche Pomp; die übliche Phrasenparade. Von Roon hatte selbst Ranke, der doch kein mißvergnügter Frondeur war, gesagt: »Als ein großer Mann kann er überhaupt nicht gelten. Aber er war brauchbar und dem König sehr hilfreich, um seine Ideen durchzuführen; wacker im Streit, in der Konversation nicht ohne Geist.« Doch wer in Stein gemetzt ist, muß ein großer Mann sein; wenigstens am Tage der Denkmalsenthüllung. Herr von Einem, der, als Kriegsminister, die Feierrede hielt, wußte, was er der Weihestunde schuldig war. »Der große Kaiser«. Roon steht neben Scharnhorst und Boyen; »in der Reihe der Dritte, aber wahrlich nicht der Letzte.« Trotzdem er nur »die für die Armee gehegten Pläne seines Königs ausgeführt hat«. Sein größtes Verdienst: daß er Bismarck fand und den verzweifelnden König überredete, den gehaßten Junker an die Spitze der Regierung zu stellen, wurde natürlich nicht erwähnt. Paßt auch nicht in die herrschende Handlangerlegende. »Kaum eine andere Nation hat eine Stätte so glorreicher Erinnerungen aufzuweisen.« Und so weiter. Der Grundgedanke: Roons sorgliche Voraussicht hat die stete Bereitschaft des Heeres gesichert, hat bis ins kleinste alles so unverrückbar fest organisiert, daß die preußische, die deutsche Armee immer gerüstet war, »für die Ehre, Würde und Unabhängigkeit des Vaterlandes die höchste Kraft einzusetzen«; und dieses heilige Vermächtnis … Das wurde mittags gesprochen; vom Kriegsminister vor den Ohren des Kanzlers, des Generalstabschefs, des Staatssekretärs im Reichsmarineamt. Am Abend desselben Tages lasen wir die offiziös verbreitete Botschaft: leider sei es unmöglich, die zur Niederwerfung des Aufstandes nötige Truppenzahl nach Südwestafrika zu schicken, denn die Landungsverhältnisse seien in Swakopmund so schlecht, daß die Soldaten nicht vor den letzten Januartagen an Land kommen könnten; ratsam sei deshalb, die beiden fürs Hereroland zu formierenden Bataillone erst im November und Dezember abgehen zu lassen. Von heiligen Vermächtnissen, von der Ehre, Würde und höchsten Kraft des Vaterlandes war in dieser Notiz nicht die Rede.

Wenn wir vernähmen, England, Rußland, Frankreich, irgendeine Großmacht könne ihre zur Besiedelung fernen Gebiete ausgewanderten Kinder nicht schützen, nicht die zum notdürftigsten Schutz ausreichende Truppenzahl landen: ein Hohngelächter würde der Kunde als Echo folgen. Und ein Dank an die Vorsehung, daß solche Lotterwirtschaft bei uns nicht möglich ist. Jetzt? Die liebe Öffentliche Meinung hat keine Zeit, sich um Südwestafrika zu kümmern. Wozu auch? Wir haben die beste Heeresorganisation der Welt, eine Flotte, vor deren Anblick John Bull das Herz in die Hosen fällt, und so glorreiche Erinnerungen wie kaum eine andere Nation. Daß in Swakopmund die Mole nichts taugt, ist ja unangenehm; aber die Firma Woermann hat für ihre auf Löschung wartenden Dampfer schon mehr als drei Millionen Mark Liegegelder gefordert und erhalten und es wäre unklug, durch übereilte Truppentransporte diese Summe noch zu erhöhen. Auch da drüben wird's wieder ruhig werden. Gegen Elementarereignisse ist nun einmal kein Kraut gewachsen, und niemand dafür verantwortlich zu machen, daß eine Mole unbrauchbar geworden ist.

Wirklich niemand? Ich bin anderer Meinung. Seit Jahren wird über die Landungsverhältnisse in Swakopmund geplagt. Schon in Kolonialschriften aus dem Jahr 1898 ist zu lesen, daß die kleinen Schiffe der Woermann-Linie zum Löschen der Ladung ungefähr vierzehn Tage brauchten. Dann hörten wir, nun werde ein brauchbarer, dauerhafter Hafendamm gebaut. Ist er nicht fertig geworden oder war die Anlage so jämmerlich, daß er nach drei Jahren schon wieder völlig versagt? Ich weiß es nicht, kann mich überhaupt, da ich nie in Deutsch-Südwestafrika war und von der Literatur nicht viel mehr als die Schriften von François, Bülow und Leutwein kenne, nicht für sachverständig ausgeben. Weiß aber, daß auch die Herren, die in der Wilhelmstraße das Geschick dieser glücklichen Kolonie bestimmen, das Land nicht kennen. Weiß, daß sie für Südwestafrika nichts getan haben, weil's ihnen nur darauf ankam, dem Reichstag Rentabilitätberechnungen vorzulegen, wie sie kein Bankdirektor ungestraft wagen dürfte. Und weiß, daß drüben seit fast einem Jahr Krieg geführt und die Lage für die deutschen Ansiedler und das deutsche Ansehen von Tag zu Tag gefährlicher wird, weil die Vorbereitung für den Kriegsfall in skandalöser Weise vernachlässigt war.

Herr von Trotha ist nicht schuldig. Er kam mit unzureichender Mannschaft und fand die schwierigste Situation. Vielleicht war's ein Fehler, dem Obersten Leutwein gerade in der Kriegszeit das Kommando zu nehmen. Die Sehweite seines Auges hat sich als unzulänglich erwiesen; aber er kennt das Gelände und hat über die unterworfenen Stämme eine persönliche Gewalt, die der beste Mann nicht in kurzen Wochen erwerben kann. Als Herr von Trotha ernannt war, schickte der Hauptmann a. D. Dannhauer an den Berliner Lokalanzeiger eine Depesche, die den Vermerk trug: »Dem Reichskanzler vorzulegen!« Darin war gesagt: unsere ältesten Afrikaner seien überzeugt, daß die bisher treu gebliebenen Stämme abfallen und zu den schlimmsten Mordtaten bereit sein würden, wenn Leutwein zurückträte. So ist's gekommen. Hendrik Witbooi selbst, der Treuste der Treuen, dessen Hottentottenbrust eine weise Regierung mit Medaillen und anderen Ehrenzeichen behängt hat, ist in offenem Krieg gegen Deutschland und hat einen Bezirkshauptmann ermordet.

Das war zu erwarten; ist, als mindestens wahrscheinlich, auch in Privatbriefen schon vor zwei Monaten vorausgesagt worden. Wußte man's in der Wilhelmstraße nicht? Konnten die Aktenstapler sich nicht an den fünf Fingern der vom Schreibkrampf verschonten Hand abzählen, daß 2 + 2 = 4 ist? Daß die Witboois eine günstigere Gelegenheit zum Kampfe für ihre Unabhängigkeit niemals zu finden, nie zu träumen vermochten? Der Burenkrieg hat sie den Hader der Weißen erkennen gelehrt. Jetzt sahen sie, daß die Deutschen in langen Monaten mit den Hereros nicht fertig wurden; daß Leutwein, der ihr Herrgott gewesen war, über Nacht die Kommandogewalt verlor und sich dem Befehl eines neuen Mannes fügen mußte; und daß Deutschland in absehbarer Zeit keine annähernd genügende Truppenzahl landen konnte. Dazu das Gerücht von Konflikten der militärischen und bürgerlichen Behörden, von der Unzufriedenheit der schlecht oder gar nicht entschädigten Ansiedler. Jetzt oder nie hatte die Stunde zum Krieg für die Freiheit geschlagen. Genesis und Umfang des Aufstandes sind dem sogar leicht zu erklären, der die just zwanzigjährige Geschichte dieser Kolonie nicht kennt und nicht weiß, welche Schwierigkeiten uns drüben die »stammverwandten« Kanalvettern schufen, von den Tagen Lüderitzens und Granvilles bis in die Zeit der Witbooikämpfe, wo der Engländer Lewis den Kamaherero gegen Deutschland hetzte. Ob nicht auch jetzt wieder britisches Geld und britische Schlauheit die Kampflust der Schwarzen geschürt hat? Noch ist's nicht nachzuweisen. Aber wir hören, es sei der Krieg zweier Rassen. Und dennoch ist keinem Engländer ein Haar gekrümmt worden. Uns aber ist das Schlimmste geschehen, was zu befürchten war: Hottentotten und Bantu, die jahrzehntelang Todfeindschaft getrennt hatte, sind zum Krieg gegen Deutschland vereint und die Kolonie ist in Lebensgefahr.

Selbst unter besserer Verwaltung wäre Deutsch-Südwestafrika keine Kolonie geworden, von der rascher Ertrag zu hoffen war; man mußte zufrieden sein, wenn sie deutschen Ansiedlern leidliche Lebensverhältnisse bot. Ein Hauptzweck der Erwerbung war: eine Stelle zu haben, wo Deutschland einer übermütigen Britenpolitik unbequem werden konnte. Für die militärische Organisation mußte hier also mehr noch als in anderen Kolonien getan werden. Und was sehen wir nun? Das Unzulängliche, hier wird's Ereignis. Alles versagt. Das Riesengebiet, ein fünfzehntausend Quadratmeilen großes, von wilden Hottentotten, Bantuleuten und Bastarden bewohntes Land, hat eine Schutztruppe, die für Wachtparaden ausreicht. Die verantwortlichen Beamten wissen nicht, was der nächste Tag bringen wird, und werden von jedem Vorgang überrascht. Der Vorrat an Waffen, Munition, Pferden genügt dem dringendsten Bedürfnis nicht. Die Mobilmachung vollzieht sich in solchem Schneckentempo, daß die Schwarzen die Möglichkeit haben, das gestern ausgeschiffte Häuflein wegzuschießen, ehe Ersatz sichtbar wird. Aus Berlin schickt man Freiwillige hinüber, denen die Einheit der Formation fehlt und die, weil sie die afrikanische Kriegführung nicht kennen, wochenlang zunächst untauglich sind. Am Ende muß man gestehen, daß ein halbwegs ansehnlicher Nachschub erst in drei Monaten landen kann. Die Mole ist schlecht. Alle paar Tage ist die telegraphische Verbindung mit der Heimat gestört. Mit den Engländern stehen wir, trotz aller Rednerei, so vortrefflich, daß sie gar nicht daran denken, den deutschen Truppen, die doch für europäische Zivilisation gegen Wilde in den Kampf ziehen, die Landung in der Walfischbai zu gestatten. Zu Notstandspreisen werden Schiffe gechartert, an Liegegeldern Unsummen bezahlt. Hundert Millionen sind schon verbraucht. Hundert andere, sagt man uns, werden bald nötig sein. Dabei wächst die Gefahr von Woche zu Woche. Jahre können vergehen, bis endlich wieder Ruhe einkehrt. Deutscher Besitz wird vernichtet. Deutsche Menschen verbluten. Und wenn sie tot sind …

Im Hamburger Fremdenblatt stand am neunten Oktober die Anzeige:

 

 

Nach einer uns vom Reichsmarineamt auf offener Postkarte zugegangenen Mitteilung ist unser lieber Sohn und Bruder, der Einjährig-Freiwillige Unteroffizier

Rudolf Dehning

vom Ersten Seebataillon in Okosongoho am Typhus gestorben.

       Kiel, am siebenten Oktober 1904.

Die tiefbetrübten Eltern und Geschwister.

 

 

Auf offener Postkarte. Die vielleicht erst stundenlang in der Küche lag, im Briefkasten steckte; und die ja auch nur meldete: Euer Sohn, Deine Hoffnung, gute Mutter, ist tot; ist fürs dankbare Vaterland gestorben. Ein Brief? Eine Depesche. Auftrag ans Kieler Bezirkskommando, mit humaner Schonung den Trauerfall zu melden? Überflüssig. Hunderttausende werden für zwecklose Depeschen Jahr für Jahr verschwendet. Der Tod eines deutschen Soldaten aber wird auf offener Postkarte mitgeteilt; als sei drüben ein Stück Vieh krepiert. Nicht vierundzwanzig Stunden könnte in einem kultivierten Land, in einem Staate, dessen Bürger sich nicht wie Knechte behandeln lassen, der Chef eines Amtes, wo solcher Verstoß gegen die einfachste Anstandspflicht möglich ist, auf seinem Posten bleiben. Bei uns? Du lieber Himmel: in ein paar Tagen bekommt die Familie Dehning ja das nach dem Entwurf des Kaisers von Doepler gezeichnete Gedenkblatt; kann sie noch mehr verlangen?

Der kleine Vorgang ist nur ein weithin sichtbares Symptom. Eine Viertelmilliarde wird auf Nimmerwiedersehen verschleudert, ein Jahr lang, ohne die Spur durchgreifenden Erfolges, ein gefährlicher Krieg geführt, die angeblich zuverlässigen Stämme hausen schlimmer als einst die chinesischen Boxer, gegen die Panzerschiffe mit einem Kreuzfahrerheer ausgeschickt wurden: und niemand interessiert sich dafür. Vor aller Augen zeigt sich, daß Deutschland seine Kolonien nicht schützen, wenigstens in Westafrika einen Kolonialkrieg nicht führen kann: und niemand kümmert sich darum. Der Kanzler, der den Aristoteles zitiert, kennt wohl das Wort: Ἀεὶ Λιβύη φέρει τι καινὸν κακὸν, hat aber nie gefragt, ob das Reich gegen das nächste Unheil, das aus Afrika gemeldet wird, auch gerüstet sei. Der Philister spottet über die militärische Schwäche der Russen. Und der Kriegsminister spricht vor Roons Steinbild von der heiligen Pflicht, im Dienst des Vaterlandes nie zu erlahmen, für die Ehre und Würde des Reiches immer bereit und gewaffnet sein.

Hohenzollern-Weltherrschaft

Die Osterwoche des Jahres 1904 brachte eine Überraschung. Am achten Apriltag wurde von der britischen und französischen Regierung ein Vertrag unterzeichnet, der den zwischen den beiden Großmächten schwebenden Kolonialfragen bündige Antwort gab. England erhielt in Ägypten volle Sicherheit gegen französischen Einspruch, in Siam die Westküste des Menam, die Anerkennung seiner Herrschaft über den Westen Neuseelands und übernahm dafür die Verpflichtung, die Neutralität des Suezkanals zu wahren. Frankreich erhielt einen Hafen am Gambia, die Los-Inseln bei Guinea, in Siam den Osten des Menam, zwischen dem Niger und dem Sudan einen nicht sehr breiten, doch fruchtbaren Landstreifen, der die Verbindung mit dem Tschadsee erleichtert; ferner wurde es als Vormacht in Marokko feierlich anerkannt und mit dem Privilegium bekleidet, mit Rat und Tat einzugreifen, wenn in dem seiner algerischen Provinz benachbarten Sultanat Unruhen entstünden. Die französische Regierung erklärte, dem Anspruch auf Vorrechte in der Neufundländer Fischerei zu entsagen; dafür durfte sie auf Madagaskar ungefährdet schalten und Marokko war fortan der Einflußsphäre Frankreichs zugewiesen. Trotzdem dieser Vertrag eine auf dreißig Jahre hinaus unbeschränkbare Handelsfreiheit in Marokko verbürgte, ärgerte er die Spanier, die auf das Sultanat ältere Rechte zu haben glaubten, und wurde am 6. Oktober 1904 deshalb durch den franko-spanischen Geheimvertrag ergänzt, dessen Bestimmungen erst nach drei Lustren in Kraft treten und, wie geflüstert wurde, Tanger und Tetuan als zur spanischen Interessensphäre gehörig anerkennen sollen. Herr Théophile Delcassé, einst Redakteur der République Française, seit 1898 Leiter der internationalen Politik Frankreichs, sah sein Werk an und fand, daß es gut sei. Er hatte wenig gewährt und viel eingeheimst. Mit Italien, der vierten Mittelmeermacht, war er seit der Verständigung über Tripolis sehr intim, hatte also auch aus Rom keinen Widerspruch zu fürchten. Und das Deutsche Reich, das immer so artig ist, dem Feind immer Kränze windet, macht uns sicher keine Schwierigkeit.

Die Zuversicht ward nicht enttäuscht. Wohl fragten in Deutschland die paar unbequemen Ernsthaften, denen das stete Triumphgeheul neuester Politik das Ohr noch nicht getäubt hat, unruhevoll, was nun wieder werden wolle. Unsere Bundesgenossen Österreich und Italien hatten schon zuvor Freundschaftverträge mit den beiden Mächten geschlossen, gegen die wir ihnen, sie uns Assekuranz bieten sollten und so lange geboten haben. Österreich hat sich mit Rußland, Italien mit Frankreich über die wichtigste Interessensphäre verständigt. Welchen Wert hat danach noch der Dreibund? Dazu jetzt die entente cordiale zwischen Großbritannien und Frankreich; ein Vertrag, zu dem die in Paris eingerichtete englische Handelskammer die erste Anregung gab und der, wider alle Britengewohnheit, dem anderen Kontrahenten den Löwenteil läßt: dieser Anblick weissagt verborgenen Sinn. Ob Frankreich den Status quo in Ägypten laut anerkennt oder still duldet, kann den Briten im Grunde gleichgültig sein. Wenn sie den Franzosen Marokko lassen, haben sie sicher eine bestimmte Absicht im Hinterhalt. Seit Abd ul Asis auf den Thron sitzt, kommt das Sultanat nicht zur Ruhe. Bu-Hamara, der neueste Prophet, der das Land Mohammeds von den Christen säubern wollte, hatte überall Anhang gefunden, Frankreich herrschte schon im Tuatgebiet, seit dem Sommer 1903 auch in der Oase Figig, die Macht der scherifischen Majestät schwand mehr und mehr; die Notwendigkeit, in Marokko Ordnung schaffen zu müssen, konnte England gerade in der Zeit des ostasiatischen Krieges und des Zuges nach Tibet nicht willkommen sein. Die nächste Folge wäre ein Konflikt mit Frankreich gewesen. Den aber wollte man in London nicht; wollte um jeden erschwinglichen Preis sogar ein innigeres Verhältnis. Frankreich mit Rußland, mit England, mit Italien verbündet, Österreich mit Rußland im Balkan versöhnt: was blieb da noch für Deutschland? Vielleicht kann auf der im Aprilvertrag gebahnten Straße der Zündstoff weggeschafft werden, der sich im Lauf des vorigen Jahrhunderts zwischen Großbritannien und Rußland in Asien so bedrohlich gehäuft hat. Frankreich wäre der berufene Vermittler; im Sultanat Oman, in der Gegend, wo England einen Schutzwall für Indien, Rußland einen Ausgang nach dem Persischen Golf braucht, mag es zunächst einmal sein Heil versuchen. Solcher Dienst wäre mit dem heißen Bissen Marokko nicht zu teuer bezahlt. Und die Deutschen würden wüten, wenn sie ihre alte Hoffnung auf einen Konflikt der Westmächte vereitelt sähen. Ein Rußland verbündetes, England verfeindetes Frankreich mußte die britische Politik allmählich in die Nachbarschaft des Dreibundes drängen; und je heftiger sich, wie in den Tagen nach Faschoda und in der Burenkriegszeit, das französische Nationalgefühl gegen England regt, um so rascher mindert sich die Gefahr, die der deutschen Westgrenze droht. Von diesen Träumen muß der Vetter, der uns seit Castlereaghs Tagen fast bis an die Schulter gewachsen ist, nun scheiden. Paris ist eine Messe wert; auch einen an sich nicht sehr profitlichen Vertrag, in dem man einst aber den ersten Schritt zur stillen britischen Mobilmachung gegen Deutschland erkennen wird.

So sprachen Einzelne. Andere wiesen auf greifbareren Schaden und rügten, daß Deutschlands nordwestafrikanischer Handel bei den Verbündeten Regierungen nicht den Schutz gefunden habe, der ihm gebühre. Marokkos Wirtschaft verheißt der Zukunft viel; weite Strecken des Landes sind so fruchtbar, daß sie schon jetzt riesige Viehherden ernähren und bei verständiger Kultur reiche Erträge liefern könnten. Lein und Schafwolle, Wachs und Felle, Korkholz und Straußenfedern, Mandeln und Datteln werden in großen Mengen exportiert und im Hamburger Hafen werden alljährlich marokkanische Waren im Wert von sechs Millionen Mark gelöscht. Der Import ist noch nicht sehr beträchtlich, würde aber schnell steigen, wenn eine europäische Verwaltung für bessere Verkehrsmittel sorgte und die Eingeborenen zu Geld kämen. Der Aprilvertrag sichert zwar dreißigjährige Handelsfreiheit. Erstens aber sind dreißig Jahre keine lange Frist und zweitens könnte Frankreich als anerkannte Vormacht sich schon früher zum Handelsmonopol helfen. Wie war es denn in Tunis? Ende 1882 siegte General Saussier über die Beduinenrebellen und 1897 war der letzte tunesische Handelsvertrag beseitigt und Frankreich schaltet seitdem in Tunis nach Belieben mit Handel und Wandel. In Marokko kommt es vielleicht noch rascher ans Ziel der Wünsche. Merkwürdig ist jedenfalls, daß über ein Land, an dessen Wirtschaft Deutschland so wesentlich interessiert ist, ohne Zustimmung der im Deutschen Reich Regierenden verfügt werden kann.

Der Reichskanzler spottete über die Unklugheit des Abgeordneten Bebel, der dreist behauptet hatte, der franko-britische Vertrag habe der deutschen Diplomatie eine schlimme Niederlage bereitet. »Dieser Vertrag hat keine Spitze gegen eine andere Macht. Die Kontrahenten wollen Differenzpunkte beseitigen. Das kann nur nützlich für den Weltfrieden sein, dessen Erhaltung wir dringend wünschen. Wir haben in Marokko nur wirtschaftliche Interessen, die ganz sicher niemand mißachten oder verletzen wird. Graf Reventlow scheint zu meinen, wir hätten selbst ein Stück von Marokko fordern sollen. Was würde er mir nun aber zu tun raten, wenn eine solche Forderung auf Widerstand stieße? Würde er mir dann raten, vom Leder zu ziehen? Ich glaube, daß gerade jetzt, wo im Fernen Osten ein Krieg entbrannt ist, dessen Rückwirkung noch unberechenbar ist, wo im näheren Orient noch vieles ungeklärt ist, für uns eine Politik besonnener Ruhe und selbst der Reserve die den Interessen des Reiches nützliche ist. Wir stehen mit zwei großen Mächten in einem sicheren Bundesverhältnis, zu fünf anderen Mächten in freundschaftlichen Beziehungen. Auch mit Frankreich werden wir, so weit es von mir abhängt, nach wie vor dem Vertrag in Ruhe und Frieden leben. Im übrigen glaube ich, daß wir uns vor der Isolierung, von der Herr Bebel sprach, gar nicht so sehr zu fürchten brauchen. Deutschland ist zu stark, um nicht bündnisfähig zu sein. Für uns sind mancherlei Kombinationen möglich; und wenn wir nur unser Schwert scharf erhalten, brauchen wir das Alleinsein nicht zu fürchten.« So sprach Graf Bülow. Er fand an dem Aprilvertrag nichts auszusetzen. Ließ den Fürsten Radolin in Paris nicht protestieren. Schien gar nicht zu begreifen, wie ein Deutscher sich dieses Vertrages, dieser Annäherung der Westmächte nicht freuen könne. Die Mehrheit des Reichstages stimmte ihm freudig zu und der alte Herr von Kardorff erklärte, »zu der auswärtigen Politik des Kanzlers habe das ganze Land Vertrauen.« Was noch zu tun übrig blieb, wurde von den Offizieren besorgt. In Nordafrika, schrieben sie, haben wir nicht politische, sondern nur wirtschaftliche Interessen; der Gedanke, dort einen maritimen Stützpunkt zu suchen, ist lächerlich. Die Franzosen werden sich freilich bemühen, den marokkanischen Handel an sich zu reißen; dieses Ziel ist im Gebiet eines kriegerischen Volkes aber nicht so schnell zu erreichen und wir haben Zeit genug, uns Ersatz zu suchen. Um so besser für uns, wenn die Franzosen ein neues Algier finden; dann starren sie nicht mehr früh und spät auf den Wasgenwald. Nur kurzsichtige Kleinkrämer können sich an dem Vertrag ärgern, der, bei Licht besehen, nur unsere Wünsche erfüllt.

Das lasen wir im April 1904. Jetzt, seit ungefähr vierzehn Tagen, hörten wir andere Töne. In der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung bewirteten die Inspirierten Frankreich mit kühlem Hohn und im wichtigeren Lokalanzeiger geberdeten die staatsmännischen Schreiber sich, als solle nun wirklich vom Leder gezogen werden. Wir mit den Franzosen verhandeln? Kindische Zumutung. Die kümmern uns gar nicht; ob sie zustimmen oder widersprechen: wir sind entschlossen, unsere Handelsinteressen in Marokko »für alle Zeiten« zu wahren. Den franko-britischen Vertrag kennen wir nicht, wollen ihn auch nicht kennen; wir fordern die uneingeschränkte Souverainetät des Sultans, die unantastbare Integrität seines Landes. Das klang, als müsse Frankreich schleunig die Oasen von Tuat und Figig räumen und die ungefähr zweitausend Mann starke colonne mobile zurückziehen, die seit Monaten auf dem (marokkanischen) Gebiete der Beni-Mattar, etwa hundert Kilometer weit von der algerischen Grenze, nicht sehr mobil, doch in Bereitschaft ist. Klang jedenfalls ganz anders als die Weise vom vorigen Jahr. Der Vertrag wurde nicht mehr als neue, dem Reichsinteresse nützliche Friedensbürgschaft gepriesen, sondern als Ausgeburt unerträglichen gallischen Größenwahnes verdammt. Und Graf Bülow hatte seine Leute fest im Zügel; dieselbe Presse, die ihn 1904 feierte, weil Marokko ihm Hekuba war, feiert ihn jetzt, weil er Deutschlands Recht auf Marokkos Freiheit verkündet. Was ist geschehen? Die Hamburger Großkaufleute, die als Kolonialhändler und Reeder an Marokko verdienen, haben Privatdrähte, die bis ins Berliner Kaiserschloß führen; ihnen, über die dort nicht so unfreundlich geurteilt wird wie über die Thyssen, Stinnes und Kirdorf, ist inzwischen vielleicht gelungen, den Kaiser über das wahre Wesen des Vertrages aufzuklären. Solche Zufälle bestimmen im neuen Deutschland oft die Wahl politischer Wege. Vielleicht hat der Kanzler auch selbst seinen Irrtum erkannt und will den Tadlern beweisen, daß er nicht jede Gelegenheit versäumt. Einerlei. Der Versuch, die Folgen eines Fehlers aus der Welt zu schaffen, ist löblich. Herr Delcassé wird nicht recht begreifen, warum heute unerträglich sein soll, was vor einem Jahr ohne den leisesten Widerspruch, mit Komplimenten sogar hingenommen wurde, und das Verfahren nicht ganz loyal finden. Mag er; im Bereich der Politik herrscht nicht Individualsittlichkeit, hämmert von jeher Macht sich das Recht. Frankreich hat einen Vertrag geschlossen, der uns schädigt. Frankreichs allié et ami hat weder Kraft noch Lust, helfend einzugreifen. Also benutzen wir die Gelegenheit und erklären, daß dieser lästige Vertrag unser Handeln nicht binden werde.

So lange auf solche Erklärung, eine leise und höfliche, zu rechnen war, wäre es unklug und unanständig gewesen, den Diplomaten ins Spiel zu reden. Fürst Radolin, mußte man annehmen, wird dem lieben Theophil einen Besuch machen und sagen, das Deutsche Reich könne den von ihm nie formell anerkannten Vertrag nicht als reine Rechtsquelle betrachten, denn es brauche auf dem Weg nach seinen Kolonien eine Kohlenstation und sehe auch keinen Grund, seinen Handel fremder Willkür auszuliefern. Herr Delcassé hätte nicht viel zu erwidern vermocht; Rußland ist einstweilen nicht für europäische Händel zu haben und Britannien denkt nicht daran, den Franzosen auf Panzerschiffen die Mandeln aus Marokko zu holen. Leider sind stille Wege bei uns nicht mehr beliebt. Schon durfte man hoffen, diesmal sei alles hübsch heimlich vorbereitet und ein geräuschloser, doch echter Erfolg werde die Mühe belohnen. Als der Kanzler im Reichstag nach Marokko gefragt wurde, sagte er, die Umstände verböten gerade jetzt eine Antwort. Sehr korrekt; wahrscheinlich ward der Topf just ans Feuer gerückt worden. Gleich danach schäumte der heiße Brei schon über den Rand.

Der Kaiser, vernahmen wir, wird im März auf seiner Vergnügungsreise in Marokko landen. Scherz oder Ernst? Jetzt, da das Verhältnis zwischen Frankreich und Marokko fast zu offener Feindschaft geworden ist und die französischen Kolonisten schon schwanken, ob sie nicht den Sultan seinem Schicksal überlassen und für Bu-Hamara, den Prätendenten, Partei ergreifen sollen? Gerade jetzt, während Deutschland die Vernichtung des Marokkovertrages fordert? Unmöglich. Aber wahr. Und da niemand an der Bedeutung des Planes zweifle, wurde sofort auch verkündet, nicht um einen Privatbesuch handle sich es, sondern um eine Haupt- und Staatsaktion, deren Folgen bald jeder merken werde. Ringsum horchte man auf. Und hörte mit gespitzten Ohren die Bremer Rede.

Diese Rede hat den Beifall der meisten deutschen Meinungsmacher gefunden; in der ganzen gesitteten Welt, rief, als Führerin des Jubelchores, Tante Voß, wird sie ein lebhaftes Echo wecken. Weckt es auch; nur klang das Echo Deutschen nicht lieblich und durfte deshalb nicht ins Holzpapierreich dringen. Dem Psychologen brachte die Rede nichts Neues. Sie rühmte ein von dem sehr begabten Bildhauer Tuaillon dem Kaiser Friedrich errichtetes Denkmal, rühmte seine »einzigartige Herrlichkeit« so laut, als habe die Spreerenaissance nicht mindestens ein Dutzend Buonarottis und Donatellos hervorgebracht, und sprach andächtig von der »erhabenen Siegfriedgestalt des zweiten Kaisers«, der das deutsche Heer zum Sieg geführt habe. Das ist Sohnesrecht. Der kritisch gestimmte Betrachter wird zwischen dem naiven Helden des Volksliedes und dem fürstlichen Pathetiker weder äußere noch innere Ähnlichkeit finden und sich erinnern, daß Friedrich, als er kaum auf den Thron gelangt war, Leonhard Blumenthal zum Feldmarschall ernannte, um dankbar in ihm den Mann zu ehren, der dem Kronprinzen Kriegerruhm erworben hatte. Dann kam ein dröhnendes und doch frommes Bekenntnis zu friedlicher Politik. Bajonette und Kanonen sollen ruhen, »aber scharf und tüchtig erhalten werden, damit Neid und Scheelsucht von außen uns an dem Ausbau unseres Gartens und unseres schönen Hauses im Innern nicht stören.« An dieser Stelle wird dem Diplomaten, der die überschwingende Rede las, schon nicht ganz behaglich zumute gewesen sein; daß draußen Scheelsucht und Neid wacht, pflegen Monarchen sonst nicht zu erwähnen. Wilhelm der Zweite will nicht Alexander, nicht Bonaparte sein (die Zeit wäre solchem Streben auch nicht günstig), deren »öde Weltherrschaft« ihn nicht reizt. Er träumt von einer »Hohenzollern-Weltherrschaft, die nicht auf Eroberungen durch das Schwert, sondern durch gegenseitiges Vertrauen der nach gleichen Zielen strebenden Nationen begründet sein soll.« Träumt noch einmal also den Traum aus Dantes Paradies, den Traum von einem in erhabener Gerechtigkeit alle menschlichen Geschäfte ordnenden Weltkaiserreich, auf dessen höchstem, von Adlern umkreistem Sitz ein Friedensrichter der Menschheit thront. Otto der Dritte hat ihn einst geträumt. Der wollte die Tugenden Trajans, Justinians und Konstantins vereinen. Der, genere Graecus, imperio Romanus, wie Gerbert von Aurillac ihn nannte, sah sich als Herrn eines Universalreiches, dessen Grenzen bis hinter das letzte Haus reichen sollten, in dem zum Gott der Christen gebetet wird; und hoffte, nach gerechter, weiser, friedlicher Herrschaft aus dem Zelt dieser Erde auf den Platz neben dem Heiland berufen zu werden. »Er hatte eine tief religiöse Vorstellung von der Pflicht des Kaisers gegen die Welt und verband dem Ehrgeiz eines Antiquars eine überschäumende Phantasie, deren Hitze von der steten Erinnerung an die ihm vererbte glorreiche Macht noch erhöht wurde.« So spricht James Bryce über den Imperator, der den universalen Gottesstaat gründen wollte; und Karl Lamprecht sagt in der deutschen Geschichte von ihm: »Das Unglück Ottos war, daß die geistigen Strömungen, deren Gewalt er an sich selbst erfuhr, in ihrem Kern keineswegs nationalen, deutschen Charakters waren. Indem er sie erfaßte, entfremdete er sich der Nation, der er angehörte und aus deren kriegerischer Kraft das Imperium bisher alle Bedingungen seines Bestandes hergeleitet hatte. So versagte diese Kraft im entscheidenden Augenblick, und Otto ging zugrunde.« Das war am Ende des ersten Jahrtausends; und das Paradies der romanischen Phantasie schien seitdem versunken. Im Traum Wilhelms des Zweiten blüht es noch einmal auf. »Wir Deutschen sind das Salz der Erde.« Das Wort, das Jesus in der Bergpredigt zu den Jüngern sprach: »Ihr seid das Salz der Erde. Wo nun das Salz dumm wird: womit soll man salzen? Es ist nichts hinfort nütz, denn daß man es hinausschütte und lasse es die Leute zertreten.« Doch dieses Salz wird nicht dumm werden. »Unser Herrgott hätte sich nicht so große Mühe mit unserem deutschen Vaterland und Volke gegeben, wenn er uns nicht noch Großes vorbehalten hätte.« Großes? Nicht Eroberruhm, nein: die viel höhere Aufgabe, das »deutsche Weltreich« zu gründen, das vom Vertrauen der Völker als ein Schiedsgerichtshof göttlicher Institution anerkannt wird. Wenn Deutschland seine Wehr stärkt, rüstet sich es für den Frieden. »Jedes deutsche Kriegsschiff, das den Stapel verläßt, ist eine Gewähr mehr für den Frieden auf der Erde.« Wer sollte solchem Reich nicht vertrauen?

siehe Bildunterschrift

Rückkehr vom Tempelhofer Feld.

Diese holden Vorstellungen sind uns längst nicht neu; seit, vor zwölf Jahren, der Kaiser gesagt hat, das deutsche Volk stehe, »wie einst der alte Götterheld Heimdall, wachend über den Frieden der Erde, am Tor des Tempels des Friedens, nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt,« haben wir ähnliche Töne recht oft gehört. Selten aber haben diese religiös-politischen Vorstellungen einen so unzweideutigen, so weithin vernehmbaren Ausdruck gefunden wie in der Bremer Rede. Ringsum horchte man auf; und erinnerte sich rasch nun anderer Verkündigungen. Der Dreizack gehört in unsere Faust. Deutschland in der Welt vornan. Ohne Mitwirkung des Deutschen Kaisers darf in der Welt keine Entscheidung fallen. Arbiter mundi? Die Deutschen sind das Salz der Erde. Mit ihnen hat der Herrgott sich besondere Mühe gegeben. Ihnen hat er noch Großes vorbehalten. Ein deutsches Weltreich, eine Weltherrschaft der Hohenzollern, die den Christentraum des großen Florentiners nach sechs Jahrhunderten in greifbare Wirklichkeit wandeln soll. Kann der Franzose, der Brite, kann irgendein Volk solche Worte gern hören? Muß nicht jedes unwillig fragen, warum gerade den Deutschen das Weiheamt der Jünger Christi zugefallen, die besondere Gnade Gottes und der erste Platz auf der Menschenerde gesichert sein soll? Haben nicht andere Völker eine Geschichte von viel ehrwürdigerem Alter, einen unendlich größeren Bodenbesitz, eine unvergleichlich höhere Menschenzahl? Welchen neuen Glauben, fragen sie, bringen diese kaum erst geeinten Stämme, daß sie mehr gelten sollen als wir, daß sie das Salz der Erde genannt und als auserwähltes Volk verherrlicht werden dürfen?

War eine ernste Aktion geplant, dann ist sie durch diese Rede fürs erste unmöglich geworden. Der Kaiser hat sicher den besten Willen, dem Reich zu nützen, muß diesen Willen haben, denn sein Interesse ist dem des Reiches unlösbar vermählt; der heftige Trieb, einer Stimmung Worte zu suchen, drängt ihn aber allzu oft auf gefährliche Bahn. Ob seine Vorstellungen von deutscher Zukunft richtig oder falsch sind, mag manchem noch zweifelhaft sein; auch die beste, weiseste Politik müßte scheitern, wenn ihr letztes Wort immer ausgesprochen würde, ehe ihr Ziel noch entwölkt ist. Nie hat ein König so, nie so ein Kaiser geredet. Und nie würden wir ruhig und mit theologischem Vertrauen die Ankündigung einer Staatspolitik hinnehmen, die in solchen Lauten zu uns spräche. Wir würden geheimes, vom Prachtmantel der Rhetorik verhülltes Trachten dahinter wittern und mit geschärftem Mißtrauen auf den nächsten Schritt dessen achten, der sich und die Seinen so hoch über unsere Häupter erhöht sieht. Und die anderen denken nicht anders. Sie wissen, daß Deutschland Raum auf der Erde braucht und nach einem neuen Germanien übers Weltmeer blickt. Sie glauben nicht, daß Deutschland von seinem bescheidenen Wohlstand nur für die Friedenswächterrolle Milliarden opfert, und halten den Kaiser, der seine Kriegsschiffe mit frommen Taufsprüchen weiht, für einen klugen Politiker, der seine Absicht im Busen birgt, oder für einen von rascher Aufwallung hingerissenen Rhetor. Das haben wir nach der Bremer Rede gehört. Wer diese Rede eine rühmenswerte Tat nennt, ist ein schmeichelnder Heuchler oder ahnt nichts von der schweren Kunst politischen Wägens und Handelns.

Und dieser Rede folgt nun die Fahrt nach Marokko. Soll Tanger die erste Station auf dem Weg ins neue Weltreich sein, ins unblutig erworbene, vom Vertrauen der Nationen gestützte? Auf diesem Boden hat Frankreich einst um jede Fußbreite gekämpft. Hier hatte vor einundsechzig Jahren Abd el Kader Hilfe gefunden. Die Flotte des Prinzen Joinville bombardierte die Küstenstädte Tanger und Mogador, Marschall Bugeaud schlug am Isly den Rebellen, der dann noch einmal aber den islamitischen Fanatismus gegen den Fremdling aufzurufen vermochte und 1847 erst, nach hartem Streit, zur Ergebung gezwungen wurde. Seitdem hat die Rivalität der Mittelmeermächte die Unabhängigkeit Marokkos geschützt und Frankreichs expansiven Drang gehemmt. Jetzt wähnte es sich am Ziel. England ist einverstanden, hat nur die Bedingung gestellt, daß die Strecke zwischen Melilla und dem Sebu nicht befestigt, Gibraltars fortifikatorische Macht nicht geschmälert wird; Italien ist in Tripolis abgefunden, Spanien zu schwach zu ernsthaftem Widerstand. Die Maske kann fallen. Was so lange der Wunsch »friedlicher Erschließung« hieß, wird offen die Forderung des Protektorates genannt. Schon bedrängt die französische Gesandtschaft den Sultan in Fez. Da hallt der Ruf übers Meer: Der deutsche Kaiser kommt, und wenn er die Hand reckt, muß der Franzose weichen, bleibt die Hoheit des Sultans, sein Reichsgebiet unangetastet! Ein Jauchzen steigt von der Lippe der Mohammedaner, denen der große Kaiser aus Norden all in seiner Pracht helfend naht. Frankreich muß die ärgste Demütigung fürchten, deren Folgen es in Algerien, überall, wo Mohammedaner ihm knirschend untertänig sind, fühlen würde. Der Vertrag, der Marokko den Franken ausliefert, wird zerrissen, das Deutsche Reich verbürgt Abd ul Asis die Kaisergewalt. Durch den ganzen Islam zittert schon die Bewegung; ein Wort noch: und das Volk des Propheten erhebt sich zum Heiligen Krieg. Doch so ernst war es nicht gemeint. Rasch wird Ruhe geboten. Wer hat denn gesagt, Deutschland wolle den Aprilvertrag zerreißen, lehne jede Verhandlung mit Frankreich ab und werde auch einem ihm günstigeren Vertrag die Anerkennung weigern? Karnevalsgerede. Deutschland, das doch bewiesen hat, wie fremd ihm Abenteuersucht ist, will nur die Sicherheit, daß sein Handel nicht in schlechtere Lebensbedingungen gezwungen wird als der anderer Nationen. Und der Kaiser benutzt die gute Gelegenheit, auf seiner Vergnügungsreise auch einmal die maurische Küste kennen zu lernen.

Wir müssen das Ende abwarten; vielleicht überrascht uns noch ein neuer Szenenwechsel. Einstweilen ist den Offiziösen der Maulkorb angelegt und befohlen, das Gebell, mit dem sie vor acht Tagen die lenzliche Welt erschreckten, winselnd zu verleugnen. Herr Theophil lächelt schon wieder. An höflichen Beteuerungen läßt er es sicher nicht fehlen, ist, wenn es sein muß, auch zu einem langsameren Tempo bereit. Und der »Empfang« wird gewiß noch viel großartiger als in Lissabon, wo, nach dem Lokalanzeiger, der Kaiser »als Heerführer, Diplomat, Kolonialpolitiker, Förderer der Landwirtschaft, der Industrie, des Handels und der Wissenschaft, als Künstler, Musiker, Redner und Sportsmann« gefeiert wurde. Ein Empfang, wie Marokko noch keinen sah. Die Franzosen werden mitflaggen, mitsalutieren, mitjubeln; und wissen, warum sie es tun. Nicht alle Deutschen aber werden mit dem Ertrag dieser Festtage eben so zufrieden sein. Mancher wird seufzend der fernen Zeit gedenken, die eine stillere Hohenzollern-Weltherrschaft sah. Und von dem unerträglichen goethischen Wort, das Wilhelm der Zweite in Bremen dem von ihm so geliebten Buch Chamberlains entnahm, wird mancher treue Wunsch sich nach der Anerkennung eines anderen Wortes sehnen, das unser Dichter als Greis in seine Spruchsammlung schrieb: »Was vonseiten der Monarchen in die Zeitungen gedruckt wird, nimmt sich nicht gut aus; denn die Macht soll handeln und nicht reden.«


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