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Der Polarstern

Zusammenkunft von Björkö, am 23. und 24. Juli 1905.

Zwischen Granitklippen und Schären hat, im Finnischen Meerbusen, der Deutsche Kaiser den Herrn aller Reußen besucht. In heller Nordlandsommernacht stieg Wilhelm die Fallreeptreppe zum »Polarstern« hinauf, wo Nicolai ihn in den üblichen Formen empfing. (Der Zweite den Zweiten; und beide dem Ahnen, der als Erster auf einem Kaiserthron ihren Namen trug, in keinem Wesenszug ähnlich.) Gemeinsam ging's nach elf dann auf die »Hohenzollern«, deren Lichtbereich der Zar erst nach Monduntergang verließ. Am nächsten Tag wurde auf der russischen Yacht zweimal getafelt und nachmittags gab der »Polarstern« der »Hohenzollern« das Ehrengeleit. Als die erste zuverlässige Meldung von der Abrede solchen Besuches in die Zeitungen kam, war er schon Ereignis geworden. Hundert Fragen wurden gestellt und mindestens neunzig davon wurde flink auch die Antwort gefunden. Mit gar nicht bedächtiger Schnelle der zunächst interessierenden: wessen Wunsch die Zusammenkunft bewirkt habe. Ehe noch Zeit zu der Frage gewesen war, schrie schon das Berliner Offiziösengesinde: »Die Anregung ist vom Kaiser Nikolaus ausgegangen«. Einstimmig; wie auf Kommando. Und die Behauptung wurde morgens und abends mit steigender Heftigkeit wiederholt; sicher auf Kommando. Schreiber, die besonders schlau sein wollten und das Mißtrauen ihrer Leserschar fürchteten, ließen sich die Tatsache der »Anregung« aus Petersburg melden; Montag schon; »aus gut unterrichteten Kreisen« (die es natürlich nicht gibt). Dieses Gelärm beweist nur, daß im Preßbureau des Auswärtigen Amtes, wo Journalistenhirne gratis erleuchtet werden, die Losung lautete: Der Zar hat den Kaiser gebeten, an die finnische Küste zu kommen. Engländer und Franzosen. Reuter und Havas, die besten Nachrichtenhöker Europas, widersprachen mit ruhiger Bestimmtheit. Wem soll man glauben? Die Lehren der Psychologie zeugen wider die deutsche Verkündung. Kein Unbefangener würde bezweifeln, daß dieser Plan im Kopf unseres Kaisers wuchs. Wilhelm liebt, Nikolai haßt jähe Überraschung. Da der kleine Nika jede irgend nichtige Sache mit seinen Leuten bespricht, hätten sie ihm geraten, für die Einladung nicht gerade die Zeit zu wählen, wo Witte in Paris mit Rotschild und Rouvier die Milliardenanleihe vorbereitet, die unpassendste Zeit, die ein Russe ersinnen konnte. Auch hatte Großfürst Michael Alexandrowitsch als Hochzeitsgast schon in Berlin erzählt, der Kaiser habe ihm den Wunsch ausgesprochen, den Zaren noch in diesem Sommer zu sehen. Und schließlich ist verdächtig, daß man bei uns so früh brüllen lies: »Wir waren's nicht!« Warum, wenn wir's wirklich nicht waren? Das Dunkel wird vielleicht nie ganz weichen, eine der offiziellen Wahrheiten vielleicht immer Silbenstecherei bleiben. Vor fünf Jahren sagte der Kaiser in Kassel, die Ernennung Waldersees zum Generalissimus (für Petschili) sei »der Anregung und dem Wunsch Seiner Majestät des Kaisers aller Reußen entsprungen« und diese Anregung sei mit besonderer Freude zu begrüßen, weil sie wieder zeige, »wie eng verbunden die alten Waffentraditionen der beiden Kaiserreiche sind«. Im russischen Reichsanzeiger aber wurde amtlich dem Erdkreis verkündet: »Kaiser Wilhelm wandte sich direkt in einem Telegramm an den Kaiser Nikolai, wie an alle interessierten Regierungen und stellte den Feldmarschall Grafen Waldersee zur Verfügung. Kaiser Nikolai antwortete, er sehe kein Hindernis, das sich der Annahme des vom Deutschen Kaiser gemachten Vorschlages entgegenstelle.« Weder offiziell noch auch nur offiziös wurde in Deutschland dieser Darstellung widersprochen. Auch damals war Witte in Paris (mit dem Auftrag, den Eindruck des Wortes von den »alten Waffentraditionen der beiden Kaiserreiche« wegzuwischen) und Nikolai schrieb an den Präsidenten der Französischen Republik einen beinahe zärtlich klingenden Brief. Was ist Wahrheit? Qui vivra verra. Mit unzweideutigen Worten wird es wohl nie gesagt; doch werden wir's, auch ohne Epistel an Louber, bald wittern.

siehe Bildunterschrift

Bülow

Die Frage ist nicht unwichtig. Der Besuch war ein Fehler, wenn Nikolai ihn nicht mit freundschaftlichem Drängen erbeten hatte. Und hatte er ihn erbeten, dann durfte man's nicht durch alle Gassen tuten. Anstand und Klugheiten rieten von einem Gerede ab, dessen Zweck nur sein konnte, den Gossudar in die Rolle eines Bittstellers zu erniedern. Die Leute in der Wilhelmstraße mußten zu ihrer Kundschaft sprechen: »Die beiden Kaiser wünschten schon lange ein Wiedersehen und freuten sich, als unser Herr in den schwedischen Gewässern kreuzte, den alten Wunsch leicht erfüllen zu können. Wir empfehlen Ihnen, sich bei der Frage der Vaterschaft nicht aufzuhalten. Keine der beiden möglichen Antworten liegt auf dem Weg unserer Interessen. Lassen wir's lieber bei der Generatio aequivoca. Und wenn die westmächtigen Kollegen zetern, fragen Sie nur mit höflich verhüllter Ironie, ob man drüben seiner Sache ganz sicher sei, und fügen hinzu, uns verbiete das natürlichste Taktgefühl die Erörterung dieser privaten Frage.« Das war nicht gar so schwer zu treffen.

Der Kaiser geht nach Schweden und ernennt den von den Norwegern höflich entthronten König Oskar zum Großadmiral der Deutschen Flotte; wäre sogar nach Stockholm gegangen, wenn Oskar nicht abgeraten hatte. Famos, lesen wir; der Empfangsjubel beweist ja auch, wie dankbar die Schweden sind. Doch was nützt uns, ihr Schreiberseelen, denn Schwedens Dankbarkeit? Unser Interesse weist nach Norwegen, dessen buchtenreiche Südwestküste uns im Fall eines Krieges gegen England sehr wichtig werden kann. Unsere Aufgabe mußte (und muß) sein, Norwegen an Deutschland zu ketten und das aus eigener Kraft mündig gewordene Volk nicht in eine uns gefährliche Intimität mit den Briten zu drängen, denen ein Deutschland verbündetes Norwegen sehr unbequem, ein den jetzt leider allgemein anerkannten Neutralitätspflichten (britischen Ursprungs) unterworfenes sehr nützlich wäre. Tut nichts. Die Reise des Kaisers, der offen, nach rascher Regung seines Monarchengefühles, für Oskar und wider die norwegischen Kryptorepublikaner Partei ergreift, wird dennoch prompt gelobt und keiner fragt, ob der Kanzler zu kurzsichtig oder zu schwachgemut sei, um solche Fehler zu hindern. So ist's jedesmal. Die bei uns öffentlich Meinenden sind stets (und nie ohne fettig glänzendes Sedanlächeln) auf der falschen Seite. Das wäre zu ertragen, wenn wir dem Instinkt unserer Staatsmänner vertrauen dürften. Daß wir's nicht dürfen, lehrt leidige Erfahrung; lehrt auch der Blick auf die Weisheit, die das kurze Gedärm der an der Amtskrippe Gefütterten produziert.

Unbegründete Klagen verhallen nutzlos. Ich will ein Beispiel anführen; ein einziges, das den ganzen Jammer zeigt: aus der Vossischen Zeitung. Der Zar ist in entsetzlicher Lage, hat keinen Menschen, der ihm guten Rat geben könnte, und »sieht sich nach einem Mann um, der die Sorgen und Pflichten eines Monarchen aus eigener Erfahrung kennt und sich auf Erfolge berufen kann«. Diesen Mann findet er in Wilhelm dem Zweiten. Wenns so wäre: wird ein wacher Politiker, ein nur mit Menschenverstand begabter sich nicht vor der Behauptung hüten, der Zar habe ratlos, ein einsamer Bettler ans Hohenzollernschloßtor gepocht, der Herr überhundertvierzig Millionen Menschen winselnd im Nachbarhaus Rettung gesucht? Müßte so gröblich kränkende Rede nicht das junge Vertrauen schnell morden? Weiter. Was der um Rat angebettelte Kaiser geantwortet hat, ist klar. Jeder weiß ja, was Rußland braucht. Wirklich? Jeder Liberalschreiber vielleicht. Der noch nicht ganz kleine Rest hat, Junker und Kaufmann, Offizier und Bankier, nachgerade die ungeheure, die in der Geschichte beispiellose Schwierigkeit des Problems erkannt, vor das der kleine Nika gestellt ist. Nach all dem Schwatz geht's dann über die englische Presse her, die, ganz verständig, annimmt, der Besuch des Kaisers solle dem Deutschen Reich politische und wirtschaftliche Vorteile sichern, unserer Großindustrie lohnende Aufträge verschaffen und sacht ein franko-russisch-deutsches Bündnis vorbereiten. »Wir geben diese Ausführungen nur wieder, um zu zeigen, was für Narreteien dem englischen Volk von seiner Presse aufgetischt werden.« Ward so kindisches Gekeif je in ernster Stunde gehört? Von den Nachrichten der englischen Presse lebt Ihr ja Tag für Tag. Und die Wirkung, die diese Presse von dem Besuch des Kaisers beim Zaren fürchtet, müßtet Ihr wünschen, mit jeder Fiber deutscher Herzen ersehnen; nur solche Wirkung könnte erweisen, daß der Besuch nicht wieder die Folge des alten, oft beseufzten Sehfehlers war.

Leicht wären hundert ähnliche Beispiele zu finden, tausend aus allen Phasen neudeutscher Geschichte. Lösung des Assekuranzvertrages mit Rußland, Opferung Sansibars, Philippinenkrieg, Burenkrieg, Boxerkrieg, Kiautschou, anglo-japanisches Bündnis, Marokko: immer dieselbe Torheit. Nur an der Spree kann sie gedeihen. Der Dreibund ist längst wertlos, ein europäischer Krieg Rußlands heute undenkbar, der Britenzorn gegen Deutschland kaum noch zu zähmen. Und Frankreich? Napoleon zog offene Feindschaft der Unzuverlässigkeit lauer Freunde vor. Frankreich muß sich entscheiden; die Beteuerung seiner Friedensliebe genügt uns nicht. Sieben Lustren lang hat es nun (platonisch, sagt in solchem Fall der gebildete Schmock) den Frieden innig geliebt; eben so lange aber Deutschland gezwungen, seine ganze Politik nach der Gewißheit zu richten, daß Frankreich jeden starken Feind des Germanenreiches mit wahrer Wonne unterstützen würde. Diesen Zwang, der, während ringsum die fettesten Bissen von der Schüssel verteilt wurden, das Reich hinderte, sich nach seinem Bedürfnis zu sättigen, müssen wir endlich abschütteln. Das unkluge Zanken im fruchtlosen Marokkostreit hat alte Wunden aufgerissen. Noch aber ist nicht jeder Weg zur Verständigung gesperrt. Schon ist der erste Rausch der franko-britischen Verbrüderung gewichen und rasch wieder die Erinnerung wach geworden, daß England nie für den Vorteil oder die Ehre eines anderen gekämpft hat. Ein schwüler Tag: und das Bretonenblut wallt noch einmal auf. Wir müssen den Franzosen sagen: »Allein wollt Ihr, könnt Ihr nicht bleiben. Die Hoffnung, Rußland oder Britannien werde Euch den Elsaß und die Provinz der Pucelle zurückerobern, habt Ihr selbst schon eingesargt. Wir haben Besseres zu bieten als das verlorene Grenzland. Die énergie nationale, deren Schwinden Eure Dichter, von Déroulède bis zu Barrès, betrauern, kann nur aus den Kolonien neue Kraft saugen. In Nordafrika keimt Eure Zukunft. Wir wollen ihr Bürge sein. Den algerischen und tunesischen Besitz garantieren und auf die Straße nach Marokko nicht nur kein Hindernis legen, sondern Euch im Sultanat ein gutes Stück Weges vorwärts helfen. Preis: Eintritt ins deutsch-russische Bündnis; ausdrücklichen Verzicht auf die Revanche ersparen wir Eurem Stolz. Bedenket, daß Ihr dann auch für Indochina und Madagaskar nicht mehr zu zittern braucht: Euer Heimatlandheer um mindestens die Hälfte (dieselbe Proportion würde Euch und uns binden) verkleinern könnt. Daß wir vereint dem neuen Rußland von morgen Herrenhirne, Geld und Industrieprodukte liefern und auf ein Menschenalter hinaus reichlich daran verdienen würden. Keiner kann uns überbieten. Keiner auch nur mit so vollwichtiger Münze zahlen. Könnt Ihr noch zaudern? Zwischen sicherem Riesengewinn und den Ammenliedern der Eitelkeit?« Der Versuch würde lohnen. Gelingt er, dann mögen Bülow und Radolin lächelnd künden, diesem Ziel habe ihr Trachten stets zugestrebt.

Deutschland, Rußland, Frankreich, die Habsburgermonarchie und Italien (die beide dann keinen Grund mehr hätten, sich aus dem Joch alter Verträge zu sehnen). Das wäre der Bund der Kontinentalmächte, der unübersteigbare Wall gegen britische Drohung; und die Zelle, in der eine Europäerwirtschaft entstehen könnte. Kleine Heere (wenn Deutsche und Franzosen sich vertragen, ist ein großer Landkrieg nicht mehr denkbar; das so ersparte Geld kann jeder Partner für die Flottenmehrung verwenden). Der ganze Südosten und im Südwesten Spanien wird schlecht regiert und noch schlechter bewirtschaftet; diese Länder müßten und könnten mehr bringen. Und die kleine Halbinsel Europa braucht jeden Fleck, muß die Ertragsfähigkeit jedes Bezirks mit allen Mitteln moderner Technik ausnutzen, wenn sie wagen will, mit dem amerikanischen Imperium, das über die Panamastraße verfügt, die Kräfte zu messen. Vielleicht sind solche Möglichkeiten auf dem »Polarstern« erörtert worden. Trotzdem kein Minister an Bord war und wir, wenn die Verfassung nicht zum Schemen werden soll, fordern dürfen, daß der erste deutsche Bundesfürst die Reichspolitik nicht in heimlicher Zwiesprache festlege. Vielleicht. Auch dann wäre der Besuch nicht rückhaltlos zu loben. Müssen denn immer die Blicke der bangenden Völker gen Deutschland gerichtet sein? Alle Staatsaktionen vor dem Beginn schon mit Trompetenstößen verkündet werden? Der Kaiser hat dem Zaren einen großen Dienst geleistet; hat der Welt bewiesen, daß er Rußlands Freundschaft in dunklen Tagen nicht geringer schätzt als in hellen. Das war anständig und klug, konnte aber leiser geschehen; und wäre dann noch wirksamer gewesen. Fanfare soll blasen, wer seiner Sache nicht ganz sicher ist, sonst scheucht das Signal die Nachbarschaft auf. Jetzt kann der Liebe Mühe wieder verloren sein. Nikolai Alexandrowitsch ist kein bequemer Lagergenosse. Schwach, doch nicht ohne Frauenzimmerschlauheit; und als Schwächling stets von der Angst beherrscht, das Werkzeug fremden Willens zu scheinen. Wenn er liest, seine Ratlosigkeit habe beim starken Fremdling, der Rossijas besondere Wesensart nicht kennt, flehentlich Rettung gesucht, wird er wüten. Sich vor dem Friedensschluß den Dienst zwar gefallen lassen, doch ohne dankbare Regung daran denken, und sobald er die ärgste Last vom Halse hat, zu beweisen suchen, daß er keinen Vormund braucht. Ein Kanzler, der vom Strand aus nicht nur das nächste Blinkfeuer sieht, hätte nach dem ersten Lärm deshalb ohne Säumen erklärt, der Zar habe keinen Rat erbeten und das Gespräch der Kaiser die innere Politik Rußlands nicht mit einem Wörtchen gestreift. Glaubt Fürst Bülow, daß man in London und Paris müßig bleiben, die Torheit unserer Presse nicht zinsbar machen wird? Noch schlimmer wäre freilich, wenn auf den Donner wieder kein Blitz folgte. In den »Times« wird schon gespöttelt, auch diesmal werde nichts Greifbares herauskommen. Das wäre verhängnisvoll. Nicht nur weil das Jahrhundert die versäumte Gelegenheit nicht wiederbrächte, sondern, weil der bloße dépit (in einem Berliner Botschafterhaus fiel das Wort) über so fruchtlose Beunruhigung am Ende eine Koalition schaffen könnte, deren Hauptprogrammpunkt hieße: Schutz gegen deutsche Alarmierungen, die unsere Kreise stören und einen stetigen Gang der Geschäfte hindern. Mit solchem Preis hätte das Deutsche Reich die Polarsternstunden ein bißchen teuer erkauft.

Polarissima … Der dem Weltsport nächste Stern kann als Meridianmarke dienen. Das Himmelsgewölbe rotiert, auch die Glanzzeit der Polarissima, die unkundigen Blicken ihren Standort nicht zu ändern scheint, ist begrenzt und der leuchtende Günstling rückt allmählich in die Ferne, in die lichte Schar unbegnadeter Gestirne. Wer sich am Himmel zurechtfinden will, muß zunächst immer wissen, wo sein Auge den Polarstern zu suchen hat.

Die Schwarzseher.

26. Oktober 1905: Enthüllung des Moltke-Denkmals, Rede Wilhelms II. bei der Festtafel.

Bei dem Narrenlärm unserer Tagesblätter schrieb Goethe einmal an Zelter, »geht es mir wie einem, der in der Mühle einschlafen lernt: ich höre und weiß nichts davon.« Der so sprach, war nicht, wie man oft so liest, ein im reinsten Element rein Lebender, der den Alltagsstaub scheute und vor den Mißgerüchen der Realität in seinem Poetenstübchen sorgsam das Fenster verriegelte. Zu höherem Vorteil, fand er, gereiche ihm und seinem Talent der Zwang, als Staatsdiener und Hofmann die Realität in sich aufzunehmen. Majoritäten, Öffentliche Meinungen und Freiheitphraseure hat er belächelt; auch als Beurteiler politischer Mächte manchmal menschlich geirrt (zum Beispiel: als er die Franzosen »auf einer höheren Stufe welthistorischer Ansicht als die Engländer« sah). Das Wesentliche aber, selbst die noch fernen Möglichkeiten gewandelten Menschen- und Völkerverkehrs hat er früher erkannt als irgendeiner, von dem wir aus deutscher Geschichte wissen. Daß in seinem Gutachten über das preußische Werberecht (in der Zeit des bayerischen Erbfolgekrieges) wohl zum ersten Mal der Gedanke eines deutschen Fürstenbundes auftauchte, soll man, weil die Idee in der Luft bedrängter Kleinstaaten lag, nicht allzu laut rühmen. Eher schon, daß der Faustdichter vor seines Geistes Auge die moderne Großstadt entstehen sah, deren erste Spur ihm wahrnehmbare Wirklichkeit doch nie gezeigt hatte. Und selbst diese Prophetie des Unermessenen erregt kaum noch Staunen, vergleicht man sie seinen Worten über den Panamakanal. »Gelänge ein Durchstich der Art, daß man mit Schiffen von jeder Ladung und jeder Größe durch solchen Kanal aus dem Mexikanischen Meerbusen in den Stillen Ozean fahren könnte, so würden daraus für die ganze zivilisierte und nicht zivilisierte Menschheit ganz unberechenbare Resultate hervorgehen. Wundern sollte mich aber, wenn die Vereinigten Staaten es sich sollten entgehen lassen, ein solches Werk in ihre Hände zu bekommen. Es ist vorauszusehen, daß dieser jugendliche Staat, bei seiner entschiedenen Tendenz nach Westen, in dreißig bis vierzig Jahren auch die großen Landstrecken jenseits der Felsengebirge in Besitz genommen und bevölkert haben wird. Es ist ferner vorauszusehen, daß an dieser ganzen Küste des Stillen Ozeans, wo die Natur bereits die geräumigsten und sichersten Häfen gebildet hat, nach und nach sehr bedeutende Handelsstädte entstehen werden, zur Vermittlung eines großen Verkehrs zwischen China nebst Ostindien und den Vereinigten Staaten. Es ist für die Vereinigten Staaten durchaus unerläßlich, daß sie sich eine Durchfahrt aus dem Mexikanischen Meerbusen in den Stillen Ozean schaffen; und ich bin gewiß, daß sie es erreichen.« Solche Wunder politischer Intuition ließ uns selbst Bismarck, den doch keine Nausikaa lockte, nicht schauen. Der Mann, der im Februar 1827 so zu Eckermann sprach, kann sich auch als Politiker sehen lassen. Trotzdem er von dem Narrenlärm der Tagesblätter nichts hören noch wissen wollte; von dem Lärm einer Zeit, der Fritzens Forderung, in Weimar Rekruten werben zu dürfen, eine Staatsaktion bedeutete und der von den großen Ereignissen, von dem Schicksal, das in der Gestalt des Korsen über die Erde schritt, nach Wochen erst spärliche Kunde kam. Was würde er heute sagen? Sein Panamakanal wird gebaut, wie er's voraussah, von den Amerikanern, und wird in den kommenden Kämpfen um die Weltmacht von vielleicht entscheidender Wichtigkeit werden. Nach dem Handel mit China und dessen Nachbarreichen drängen sich alle Großmächte. England, Frankreich und Belgien bauen in China eine Eisenbahn, deren Besitz bald wertvoller werden muß als das in sämtlichen Pachtverträgen Gewährte. Rußland ist, nach Englands Willen, von Japan geschwächt und dann, nur durch englischen Einfluß, auf die Bahn konstitutioneller Experimente getrieben worden und wird nun vor die Frage gestellt, ob es in den neuen Trust eintreten oder auf mindestens zwei Jahrzehnte in Asien zur Ohnmacht verdammt sein will. Australien rührt sich noch nicht, kann eines nahen Tages aber zwischen England und Amerika optieren, wenn es vorher nicht durch neue, den Körper seiner Wirtschaft festigende Bänder ans Mutterland geknüpft wird. Und Europa hat als Individualität zu leben aufgehört. Das schöne Konzert ist aus. Die alten Bündnisse sind zerfallen, nur als Kindertrost noch zu brauchen, die alten Kontinentalmächte von Lebensgefahr umlauert. Tag und Nacht klappert die Mühle. Portsmouth. Marokko. Deutsch-französischer oder deutsch-englischer Krieg? Franko-deutsch-russische oder franko-britisch-russische Triasformation? Ungarns Trennung von Österreich. Revolution. Konstitution. Streiks. Hofskandale. Hätte unser Dichter dabei nicht das Einschlafen verlernt? Oder auch jetzt, mit dem majestic common sense, der ihm, wie einst dem stärkeren Menschenschöpfer aus Britenland, von unbekannten Göttern verliehen ward, in all dem Geklapper das Wesentliche zu unterscheiden vermocht? … Deutschland läßt sich den Schlaf nicht stören. Freut sich morgens und abends am Echo ferner Gewitter und streckt sich mit dem Nachgeschmack der letzten Russengreuelmär auf der Zunge, behaglich zur Ruhe. Wenn der Dichter ins Philisterland wiederkehrte, fände er die wohlbekannten Bürger, die wohlbekannte Lust an Selbsttrug und Tand. »Mag alles durcheinander geh'n; doch nur zu Hause bleibt's beim Alten.«

Wenn's dabei nur bleiben kann. Das ist aber durchaus nicht gewiß; und deshalb sollten die paar ernsthaften Leute im Land dem Narrenhaufen endlich Schweigen gebieten und den Massensinn für das Wesentliche schärfen. Sollten sprechen: »Wir lassen uns die Lügen, offizielle, offiziöse und freiwillig geleistete, nicht länger mehr gefallen. Wir wissen, daß niemals, nicht unter Phokas noch unter Louis Napoleon, so dreist, so unaufhörlich gelogen, so systematisch jedes für die Nation wichtige Ereignis entstellt worden ist wie heute bei uns und haben's satt. Jahrelang ließen wir uns einlullen und wähnten, nur Grillenfänger und Klugschwätzer sähen den deutschen Himmel umdüstert. Aus diesem Wahn sind wir erwacht; und der Lärm, der uns aufrüttelte, hat uns erkennen gelehrt, wieviel schon vertan, unrettbar verloren ist. Nie war unsere Heimat in so gefährdeter Lage; auch der kleine Preußenstaat nicht, seit er gegen Bonaparte in Ost und West Bundesgenossen fand. Mit unserem Willen soll nicht noch mehr verloren werden. Euer Geschrei von der großen Zeit, von den herrlichen Errungenschaften und Persönlichkeiten, den Reden und Staatsmännertaten, denen die Welt andächtig lauscht, eure Reklamekniffe und Komödiantenmätzchen sind uns zum Ekel geworden. Auch eure niederträchtigen Versuche, durch Sensationen, die ihr aus aller Herren Ländern zusammenschleppt, das Volksgewissen zu betäuben, die Blicke der Nation von den Dingen abzulenken, die allein für sie wesentlich sind. Lasset die Russen ihren Nikolai verdauen, die Magyaren an ihrem Borstenspeck und Pußtadreck ersticken oder noch fetter werden. Not zwingt uns einstweilen zu so ernster, so unaufschiebbarer Arbeit, daß wir nicht Zeit haben, anderen Völkern in die Töpfe zu gucken. Pfeift uns auch nicht mehr das Lied von dem Frommen, der nicht still in Frieden leben kann, weil es dem bösen Nachbar nicht gefällt. Wir werben nicht um, rechnen nicht auf Liebe, sind selbst bereit, die Dummheit, das Irrelichtelieren des Nachbars zu unserem Vorteil zu nützen, und bezahlen die Wächterschar nicht, damit sie sich müßig übertölpeln läßt, sondern, damit sie uns früh vor Fährnis warnt. Vermag sie das nicht, dann müssen wir dafür sorgen, daß sie, ob heute die Gnadensonne sie noch so hell bescheint, morgen weggejagt wird. Da Tschechen vom Hause Habsburg den Sturz jeder Regierung ertrotzen, russische Juden, Studenten und Sektierer den Kaiser-Papst zur Wahl des ihm lästigsten Ministers zwingen konnten, wird das tüchtigste Volk Mitteleuropas wohl imstande sein, sich fähige Geschäftsführer zu verschaffen. Leicht; und ohne eine Sekunde nur die wirklichen Rechte des ersten deutschen Fürsten anzutasten. Daß es bisher nicht gelang, ist eure Schuld, eurer pfiffigen Schelmenkunst oder eures fahrlässigen Leichtsinns. Jetzt seid ihr gewarnt; und steht, wenn ihr das Trügerhandwerk weitertreibt, als Landesverräter am Pranger.« Spräche ein Fähnlein Aufrechter so, unermüdlich morgens und abends, dann bekämen wir Ruhe, brauchten nicht mit dem Geklapper im Ohr einzuschlafen und könnten uns, leis und ernst, wie es Mündigen ziemt, mit den Dingen beschäftigen, die dem Reich an die Haut gehen.

Die bringt jetzt jede Woche; und wir hätten an den schon vorhandenen doch für Monde genug. Die letzte Dekade hat uns sogar Erfreuliches beschert. Erstens den Reichsgerichtsspruch, der das Recht der Biesterfelder Grafen auf das Fürstentum Lippe endgültig sichert. Wurde nun gefragt, was in diesem langen Hader, der den Grafen Ernst Casimir ins Grab ärgerte und dem alten Albert von Sachsen die letzten Lebenstage vergällte, aufs Spiel gesetzt ward? Warum deutsche Fürstensprossen, deren Rechtsanspruch keiner Instanz je zweifelhaft schien, unglimpflich behandelt, an Grüften brüskiert, von einem Schwager des Kaisers aus ihrem Erbe verdrängt werden mußten? Offen gesagt, daß in diesem Fall der Kaiser in betrübender Weise geirrt habe und solcher Fehler (dessen Nachwirkung an allen Fürstenhöfen noch fühlbar ist) sich nie wiederholen dürfe, auch wenn eines Tages die Rechtslage, etwa in Hessen oder in Oldenburg, noch so günstig schiene? Kein Sterbenswörtchen davon. An vielen Stellen aber die glatte Lüge, der Kaiser habe, als einer der ersten Gratulanten, dem jungen Fürsten Leopold zur Lippe ein »ungemein herzliches« Telegramm geschickt. Eine unverschämte Lüge: der Fürst hat dem Reichsoberhaupt ehrerbietig den Antritt der Regierung gemeldet und der Kaiser hat höflich, doch so kühl geantwortet, wie er's nie tat, wenn Herr Ballin ihm die Taufe oder Rekordfahrt eines Schiffes angezeigt hatte. Zweite Freude: Auflösung der ostasiatischen Brigade. Ein verständiger Anfang; den gerade jetzt erst wirksam gewordenen Motiven zu dem Entschluß, die Truppen aus Tschili und der Chinesenstadt von Kiautschau zurückzuziehen, brauchte man öffentlich nicht nachzuforschen. Hatte aber wieder eine Gelegenheit zu ernster Rückschau. Was ist bei dem ganzen Abenteuer für Deutschland herausgekommen? Fünf Jahre lang hat die Brigade uns je zwölf Millionen gekostet; die Rechnung des eigentlichen Feldzuges war natürlich noch um ein sehr Beträchtliches höher. Alles pro nihilo. Um uns in China verhaßt zu machen und bei dem Rennen um Bahnbauten und Marktplätze distanziert zu werden. War der Ruf zu dem Kreuzzug nicht wirklich, wie ich ihn genannt hatte, ein Dysangelium? Nicht eine Silbe darüber. Lohnt's denn, über so alte Geschichten zu reden? Zu Haus wird von Regierung und Parlament unwürdig geknickert; in Asien und Afrika darf eine Milliarde nutzlos verpulvert werden. Daß die Brigade hingeschickt wurde und so lange blieb, war gut; daß sie nun aufgelöst wird, ist auch wieder gut. Amen. Und schnell die nächste Schüssel.

Ein Feiertagsgericht. Dem Marschall Moltke ist von dem in seiner Schule erwachsenen Heer in Berlin ein Denkmal errichtet worden; eins im Marmor vergeudenden Stil modischen Puppenstandes, von dem Parthenos und die Musen das Antlitz wenden. Die Inschrift hat, wie wir lasen, der Kaiser verfaßt: »Dem rechten Volk zur rechten Zeit der rechte Mann im rechten Streit. Gottes Würfel fallen, wie sie auch fallen, immer auf die rechte Seite.« Der erste Satz ist nett und volkstümlich gereimt; im zweiten werden Bild und Gedanke nicht jedem gefallen. Wenn ein Herrgott die rechte Entscheidung auswürfelt, ist das Mühen des weisesten Strategen im Grunde ja eitel; auch dem von einem Hofgeneral geführten Deutschenheer hätte ein allgerecht in den Wolken Thronender den Sieg nicht versagt. Einerlei. Aus der guten, feinen Zeit wehte am Tag der Enthüllung doch ein Hauch zu uns her. Die Truppen feldmarschmäßig oder im Dienstanzug (Helmbusch und Schärpe sind wohl für die Weihetage der Monarchendenkmale reserviert): nichts, was an Paradeputz erinnern konnte; das richtige Kriegerkleid für eine Moltkefeier. Die in der Armee für diesen Tag vielfach gefürchtete Beförderung Hellmuts des Neffen blieb aus; schien ein paar Wochen nach der Manöverleistung, vielleicht nicht angebracht. Und der Generalstabschef Graf Schlieffen hielt eine Festrede, deren Inhalt und Tonfarbe sich sehr angenehm von allem unterschied, was wir sonst bei solchem Anlaß zu hören gewöhnt sind. Kein Spalierpathos, keine Übertreibung; ein von zärtlicher, doch nicht blinder Liebe entworfenes Bild des Römers aus Parchim. »Die Worte ›selbst‹ und ›ich‹ kannte dieser hohe Geist nicht.« Graf Schlieffen ist für den Abschied längst vorgemerkt. Immer wieder habe ich den Eindruck, daß unsere stärksten Charaktere und Intelligenzen heute im Heer zu suchen und zu finden sind. Wie hätte ein »Vertreter des unabhängigen Bürgertumes in Stadt und Land« vor solchem Denkmal, solchen Hörern gewedelt! Und dieser Redner hat nicht einmal gesagt, Moltkes wahrer Erbe sei der Kriegsherr, der die Schlachten zu denken und zu lenken vermöge.

An der Paradetafel im Weißen Saal sprach dann der Kaiser. Er hatte am Tage zuvor von der »schweren Arbeit dieses Sommers« gesprochen, den Reichskanzler gelobt (dem, in Norderney und Baden-Baden, die Arbeit hoffentlich nicht allzu schwer geworden ist) und gesagt: »Wir leben in einer Zeit, in der jeder wehrhafte junge Deutsche bereit sein muß, für das Vaterland einzutreten.« Was er nach der Enthüllung des Moltkedenkmals den kommandierenden Generalen gesagt hat, darf nie ans Licht kommen. Beim Prunkmahl waren's nur ein paar kurze Sätze. »In aufrichtigem Dank gegen die Vorsehung ein stilles Glas, welches dem Andenken gewidmet ist des Kaisers Wilhelms Majestät größten Generals.« (So stand's im offiziellen Bericht.) »Das zweite Glas gilt der Zukunft und der Gegenwart. Wie es in der Welt steht mit uns, haben die Herren gesehen. Darum das Pulver trocken, das Schwert geschliffen, das Ziel erkannt, die Kräfte gespannt und die Schwarzseher verbannt. Mein Glas gilt unserem Volk in Waffen. Das deutsche Heer und sein Generalstab: Hurra! Hurra! Hurra!« In diesen Worten schwingt kein Fanfarenton; auch in den Dresdener Reden nicht. Der wehrhafte Deutsche muß immer, nicht jetzt nur, bereit sein, fürs Vaterland einzutreten; und nie gab es eine Stunde, in der das Pulver feucht, das Schwert stumpf, die Kraft lahm, das Ziel verkannt werden durfte. Die Reden haben auch nirgends alarmierend gewirkt. Da am nächsten Morgen arge Berichte aus Rußland kamen, gab es an der Berliner Börse einen Kurssturz. Leute, die seit Monaten weit über Vermögen und Kreditfähigkeit spekuliert hatten, wurden durch die übertreibenden Meldungen nervös, sahen den oft angesagten dies irae dämmern und suchten schnell noch möglichst viel loszuschlagen. Die Furcht, die russische Anleihe, mit deren in Deutschland zu häufenden Beträgen man sich ein Weilchen aus der Geldklemme zu helfen hoffte, könne scheitern, schreckte auch ernstere Leute. Und wohlerzogene Reporter schrieben aufs Blockblättchen: »Die Börse stand ausschließlich unter dem Eindruck der Kaiserreden.« Herr von Mendelssohn wußte es besser. In London und Paris blieb alles ruhig. Die Herren Clemenceau und Jaurès wurden recht grob, Temps, Figaro und die Britenpresse recht kränkend ironisch; und in Deutschland klapperten die Mühlen. Vierundzwanzig Stunden danach war nur noch von der glorreichen Revolution die Rede. Wir sind ja für alle Fälle gerüstet. Eigentlich hat nur der gemeine Delcassé das Unheil angestiftet. Und schließlich war die Sache auch gar nicht so schlimm.

Ein Kanzler von zulänglichem Format hätte dem Kaiser geraten, die Tatsache, daß Deutschland in eine üble Lage geraten ist, nicht durch offizielle Erwähnung zu beglaubigen. Sollte das Mißgeschick aber bescheinigt werden, dann konnte der Kaiser kaum anders sprechen, als er gesprochen hat. Herausfordernd klang's nicht; eher enttäuscht und resigniert. Nur gegen Angriffe sollen die Waffen dienen; und niemand denkt daran, uns anzugreifen, wenn wir uns, wie der Bülow (Oriolus L.) so oft mit voller Stimmkraft gepfiffen hat, mit dem Errungenen bescheiden. Niemand hat je daran gedacht. Eine Komödie der Irrungen nannte ich's. Die Franzosen, denen Bismarck gesagt hatte, Deutschland habe in und an Marokko keinerlei Interesse, die aus Bülows erster Rede über ihren Kolonialvertrag mit England ungefähr dasselbe herausgehört und anno Kreta erfahren hatten, das Deutsche Reich wolle den Auseinandersetzungen der Mittelmeermächte fern bleiben, glaubten, seit der Wind anders blies, Marokko sei nur ein Vorwand, hinter dem sich die Absicht verberge, sie sanft oder gewaltsam zu knechten. An grotesken Fehlern, die sie in diesem Glauben stärken mußten, ließen es unsere Staatsweisen ja nicht fehlen. Der Senator Clemenceau hat in der Neuen Freien Presse erzählt, Guido Henckel Fürst von Donnersmarck sei nach Paris geschickt worden, um den Würdenträgern der Republik zu sagen, wenn sie die Wünsche des Kaisers nicht erfüllten, werde das Germanenheer morgen gegen sie marschieren. »Die Tatsache kann nicht geleugnet werden. Ich könnte die Regierenden nennen, mit denen Fürst Donnersmarck gesprochen hat, und sofort seine Drohreden wörtlich zitieren.« Diese Behauptung ist veröffentlicht und nicht bestritten worden; kann's auch nicht werden. Ist ein ärgerer Mißgriff denkbar? Der Bote, den man in Paris als Seladon der Paiva kannte und nie zu den ernsthaften Politikern zählte, war so falsch gewählt wie die Adresse der Botschaft. Ein Knabe, der den Cid und den Cinna durchstöhnt hat, könnte wissen, daß Franzosen Drohungen, auf die kein Streich folgte, noch schwerer vergessen als auf blutigem Feld erlittene Niederlagen. Ist's Wunder oder Sünde, daß sie nach Helfern ausschauten, die schon vorher angebotene Hilfe wenigstens nicht länger ablehnten? Ruchlose Todsünde, daß die Briten nicht ruhig zusehen wollten, wenn Frankreich geschwächt, von ihrer Seite gerissen, zu einem Vasallenstaat gemacht würde? The comedy of errors. Alles hat sich aufgeklärt. Fürst Guido hat sich mit den Parisern ein Späßchen gemacht. Deutschland wollte nichts, will nichts, wird in alle Ewigkeit nichts wollen als Frieden und Freundschaft. Hat also auch keinen Angriff zu fürchten.

So lange es ohne expansive Politik auskommen kann. Den Weg dazu hat es sich in drei Lustren hastiger Arbeit nach allen Regeln der Kunst verbaut; unter stetem Triumphgeschrei. Das ist der Punkt, auf den es ankommt. Der muß erkannt sein, ehe die Frage, »wie es mit uns in der Welt steht«, aufrichtig und ausreichend beantwortet werden kann. Kein Wort des Kaisers ist mir je so unbegreiflich gewesen wie die Aufforderung, »die Schwarzseher zu verbannen.« Ahnt er nicht, wie viele Schwarzseher täglich vor seinen Blick treten? Daß ihre Zahl in den höheren Kommandostellen des Heeres besonders groß ist? Daß Bismarcks Prognose für die Wirkungen der neowilhelminischen Reichspolitik viel düsterer lautete als die irgendeines Jüngeren? Und wer darf heute leugnen, mit gutem Gewissen heute noch, daß alle sichtbaren Tatsachen für das richtige Augenmaß dieser Pessimisten zeugen? Nur ein auf steiler Höhe Einsamer, dem man die Wahrheit verbirgt. Denn auch heute tout dépend de la manière dont on fait envisager les choses au roi.

siehe Bildunterschrift

Eulenburg

Dem Erztruchseß, der am Tisch der Majestät die Wahrheit zu servieren hätte, fehlt wohl nicht der gute Wille, doch sicher die Gabe, Werden und Vergehen früh wahrzunehmen, die also, die erst den Staatsmann macht. Er gilt nie für unklug, weil er nie, nach Rivarols hübschem Wort, vierundzwanzig Stunden früher als die Durchschnittsmeinung recht hat. Vor anderthalb Jahren war ihm zumut wie Vossens Mädchen im Mai: »Seht den Himmel, wie heiter!« Sicheres Bundesverhältnis mit zwei Großmächten; freundschaftliche Beziehungen zu fünf anderen Mächten; mancherlei Kombinationen möglich und an Isolierung gar nicht zu denken. Damals war ich so unfreundlich, an Bismarcks Vergleich zwischen Duncans Kämmerlingen und den in großen Reichen zum Wächteramt Berufenen zu erinnern; aus Bosheit, versteht sich, und ohne eine Ahnung von der wirklichen, uns märchenhaft günstigen Weltkonstellation. Im April 1904 schrieb ich: »Das franko-russische Bündnis soll zu einem großen antideutschen Trust erweitert werden. Das ist der Zweck des franko-britischen Vertrages. Er soll Rußland zum Beitritt nötigen. Großbritannien fühlt, daß die Stunde gekommen ist, in der es sich mit Rußland für fünfzig, vielleicht für hundert Jahre über die asiatischen Fragen mit Vorteil verständigen kann. Alle drei Mächte haben gemeinsam das dringende politische und wirtschaftliche Interesse, Deutschland zu schwächen; das wirtschaftliche, weil es auf den Weltmärkten ein unbequemer Konkurrent, das politische, weil es ein Element der Unruhe ist. Deshalb möchten sie sich gegen das Deutsche Reich syndizieren … Sie denken: Die Deutschen merken's wohl nicht, wenn wir ihren Kaiser nur überall mit dem gehörigen Pomp und Glanz empfangen und immer sagen, daß wir sie um ihn beneiden. Wenn der antideutsche Trust zustande kommt, wird er dem Deutschen Reich nicht den Krieg erklären, nicht den Frankfurter Friedensvertrag zu zerreißen, sondern den Deutschen ganz sacht die Möglichkeit lohnender Expansion abzuschneiden versuchen. Wie es die Industriellen machen, wenn sie einen Pool oder eine Fusion beschließen, um einer unruhigen Konkurrentin, die das Geschäft stört oder verdirbt, die Kundschaft abzujagen. Dann säßen wir mit unserer rasch steigenden Bevölkerungsziffer, unserer stolzen Exportindustrie fest und fänden nirgends einen offenen Markt, der unserem Bedürfnis genügt, nirgends eine Kolonie, aus deren Boden neuer Reichtum keimen könnte.« Das war am dreiundzwanzigsten April 1904 gedruckt. Und natürlich ganz falsch. Zwei Verbündete, fünf treue Freunde, mancherlei Kombinationen möglich. Mit Delcassés Frankreich standen wir auf bestem Fuß und Onkel Eduard war bald danach in Kiel der Held der Regattatage. Überlegte vor all den auf der Förde vereinten Panzern vielleicht, ob Britannia, die, wenn Amerika den Panamakanal gebaut hat und auf zwei Ozeanen mit einer Schlachtflotte operieren kann, der gefährlichste Gegner bedroht, die Deutschen nicht schnell an der Stärkung ihrer Marine hindern müsse; und wie Frankreich wohl für solchen Plan einzufangen sei. Ein Jahr danach war ihm von uns der Sozius geworben.

Soll's wirklich so weitergehen? Erwiesen ist, daß nicht fremde Satanskunst, sondern eigene Schuld uns das Mißgeschick heraufbeschworen hat. Erwiesen, daß der Narrenlärm, der längst bekannte, längst öffentlich erörterte Geschichten wie neuen, nun erst enthüllten Graus umgellte, kommandiert war, weil die Schlappen einer schlechten, über alle Vorstellung törichten Politik verborgen werden sollten. Mancher Deutsche wird finden, es sei genug. Und keiner so schwarzsichtig sein, daß er zu glauben vermag, Männer, die sich selbst achten wollen, könnten durch Kindermären und Meßbudenzerstreuung die Nation ferner noch hindern, sich um ihre wesentlichen Angelegenheiten zu kümmern.


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