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Barbarossa

Zwischen der goldenen Aue und dem nordthüringischen Bergland, auf dem von dichtem Sagengebüsch umwaldeten Kyffhäusergebirge, ist in diesen Tagen ein Denkmal enthüllt worden, das deutsche Krieger ihrem toten Heerkönig Wilhelm errichtet haben, dem ersten Deutschen Kaiser im neuen Reich. Als ein zärtlich geweihtes Werk liebender Mannentreue ragt es in reine Lüfte empor, aber zugleich auch als ein weithin sichtbares Zeichen moderner Geschwätzigkeit, die stolz und selig ist, wenn sie in altes Legendengelände ihre allegorisch verschnörkelten Schriftzüge kritzeln darf. Wie der Wanderer, der schwer zugängliche Höhen nur erklettert, um nachher sagen zu können, daß er oben gewesen ist, seinen Namen in Rinden und Krusten kratzt, so liebt auch unser schlaffes Geschlecht, seine Gedenkhäufchen auf hohe Weistümer zu setzen: sind alle Gedächtnisstätten erst mit Denkmalen geschmückt, dann, meint es wohl, hat es seinen Zusammenhang mit der Vergangenheit einer großen Geschichte deutlich bewiesen. Die Bergfexerei tobt nie hitziger als in Zeiten, denen der wahre, der innerlich ehrfürchtige Natursinn fehlt; und in den Tagen ruhmsüchtig kränkelnder Epigonie wird stets besonders laut auf das Schaugetäfel des historischen Empfindens gepocht. Als ein steinernes Symbol solcher Stimmung wollen wir das Denkmal betrachten, das den alten, geheimnisvoll trauten Sagensitz nun in eine schrecklich moderne Sehenswürdigkeit wandelt. Es schweißt zusammen, was organisch nicht zu einander gehört: das verwitterte Bergschloß des Rotbartes und das frische Eichenlaub der neuen Kaiserkrone, die Stauferherrlichkeit und den einfachen Hohenzollernschild; und es will uns im Sinnbild bedeuten, daß der alte Wilhelm, den man mit einem falsch klingenden Ton jetzt gern den Großen nennt, der Erbe und Erfüller des Barbarossatraumes ward. Mußte der unheilvolle Versuch, zwischen dem neuen Deutschen Reich und dem eingeurnten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation die Verbindung zu finden, wirklich auch diesmal wieder unternommen und in einem dauernden Denkmal verewigt werden? Nur der Parvenu sucht sich geschäftig Ahnen; der mächtige Psychagoge aus Korsika pflegte, als er an die fernen Unterleutnantstage nicht mehr erinnert sein mochte, die angestammten Franzosenkönige gern seine gekrönten Vorgänger zu nennen und sein Neffe bestand eifersüchtig darauf, daß die echtbürtigen Monarchen Europas ihn als Monsieur Mon Frère ansprechen mußten. Rechtmäßig gezeugte Reiche und Herrscher, sollte man meinen, können solche Künste entbehren; ihr historischer Sinn kann sich darin zeigen, daß sie aus ihrer wirklichen, nicht aus einer rechtlos errafften Geschichte zu lernen und die organisch erwachsene Pflicht und Aufgabe der Volkheit zu erkennen suchen, der sie den lebendigen, dem wechselnden Anspruch der Stunde gemäßen Ausdruck geben sollen. Das deutsche Kaisertum von heute hat mit der verschollenen Sacra Caesarea Majestas nicht das allergeringste gemein, nichts mit dem römischen Imperatorenwahn und nichts mit den schwärmenden Universalträumen der Ottonen und Staufer. Die Zeit theokratischer Vorstellungen ist für den Weltwesten unwiederbringlich dahin; und wenn Deutsche jetzt noch in Kyffhäusererinnerungen schwelgen wollen, dann tun sie gut, nicht an den ersten Friedrich zu denken, der im Wasser des Salef ertrank, sondern an seinen Enkel Friedrich den Zweiten, dessen rastlos bewegter Geist über die deutschen Grenzen hinaus irrlichtelierte, der sich als Herrn der Welt fühlte, Rotrußland an die thüringischen Landgrafen verlieh, auf die Bitte eines französischen Dichters das römische Recht in einer Summa Iuris Romani wieder erstehen lassen wollte und, nach Lamprechts klugem Wort, lieber mit arabischen Philosophen über die Unsterblichkeit der Seele korrespondierte, als daß er sich der Sterblichkeit der deutschen Königsgewalt rechtzeitig erinnert hätte. Der ausschweifende Universalismus dieses begabten Mannes hat zum Zerfall des Reiches nicht wenig beigetragen; er hat ihn und die staufischen Stammesgenossen der Heimat entfremdet und die deutschen Fürsten, deren freies Entschließungsrecht sich widerwillig dem lastenden Joch der Ministerialität beugen mußte, aus dem festen Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Kaisermacht aufgescheucht. Aber von so lästig mahnenden Gedanken mögen die feierlustigen Leute bei uns nichts hören; sie klammern sich an Barbarossas verschlissenen Purpurmantel, an den Plunderkram einer toten Vergangenheit, sie verkünden, daß die Märchenpracht des Kyffhäusers sich dem geblendeten Blick endlich wieder aufgetan hat, und umnebeln die deutschen Hirne geschwind mit dem hohlen Pathos lärmender Rabenprologe.

Die Stunde stimmt nicht recht zu dem Feiergepräge. Wenn der Sagenkaiser das blonde Haupt hebt und nach draußen lauscht, um zu erkunden, ob die Rabenschar noch den Bergfrieden umflattert oder ob für sein deutsches Land endlich das Goldene Zeitalter tagt, wird er ein schrilles Krächzen hören, das vom Morgen zum Abend und vom Norden zum Süden durch die heimischen Lüfte tönt; und wenn auf dem Kaiserberge der alte Wilhelm, der stille, schlichte, bescheidene und gewissenhafte Walter und Wahrer des Reiches, plötzlich zum Leben erwachte, dann würde er in der Tiefe des halbkreisförmigen Postamentes, das sein ruhig schreitendes Roß trägt, erschreckt ein verdächtiges Knacken und Knistern vernehmen. Dem deutschen Reich, das schon lange in jedem Monat dreißigmal seinen Geburtstag zu feiern scheint, hat das Jubeljahr das Sturmsignal gebracht, das Wetterkundige längst voraussahen. Seit manchem Jahr hatte ich warnend auf das rasche Wachsen der Unzufriedenheit hingewiesen, der wühlenden Unzufriedenheit bei Völkern und Fürsten; immer wieder mit starker Betonung gesagt, man solle sich nicht durch die feige Streberwillfährigkeit der Parlamente und die nichtswürdige Verlogenheit der sogenannten Öffentlichen Meinung über den wahren Sachverhalt täuschen lassen; wie ein lebensvoll wirkendes Bild nicht nur aus Leinwand und Ölfarbe bestehe, so, hieß es, seien auch Presse und Parlament allein nicht der wahre, unverfälschte Ausdruck der im Schoß des Volksbewußtseins webenden Kräfte. Die Warnung verhallte ins Leere; sie war gewiß dem frevlen Wunsch entsprungen, Lärm zu machen, den Neunmalweisen zu spielen und im getrübten Wasser fette Bissen zu fischen. Selbst der Größte, Germaniens greiser Erzieher, mahnte vergebens oft genug an die Vergänglichkeit irdischen Glanzes, bis er, ein müder, persönlich verpflichteter Mann, mit dessen stolzem Namen ein kleiner, altmodischer Durchschnittsdiplomat seine kargen Geschäftchen putzte, allgemach den Kampf aufgab, sich zur verdientesten Rast niederließ und nur selten noch einen die Richtung weisenden Ruf in die veränderte Heimatwelt hinaussandte. Ihn plagte gewiß der Neid, der unbefriedigte Ehrgeiz, die Sehnsucht nach wärmender Sonne. Ging denn im jungen Reich nicht alles ganz vortrefflich? Fand nicht jedes wichtige Gesetz, mochte es noch so hastig durch heiße Sommertage gepeitscht werden, seine sichere Mehrheit? Schallte nicht ohne Ermatten Jubelgebrüll und Hurrageplärr durch das Land? Und waren die Bundesfürsten nicht stets pünktlich und froh zur Stelle, wenn sie irgendein festlich geschmücktes Gelände als erlauchte Statisten mit buntem Gewimmel bevölkern sollten? So klang die Botschaft während der Zeit der Segnungen des Caprivismus, der wenigstens Ziele hatte und den man deshalb offen bekämpfen konnte; so klang sie weiter, in dem viel schlimmeren, tödlich trägen Altweibersommer der Chlodwigei: und der Oberflächenbetrachter konnte glauben, daß in der deutschen Welt alles jetzt viel besser bestellt sei als einst, da der Gewaltige mit dem Pelidenschritt noch um die Mauern der Dummheit und Gemeinheit tobte. Daß Deutschland auf allen Gebieten schwere Verluste erlitt, Verluste an Macht und Ansehen, daß von dem unstet geleiteten Reich die Freunde scheu seitab wichen und ringsum nach neuen Stützpunkten suchten, daß mählich das Vormachtgewicht nach Osten hinüberglitt und der Slaventraum von der Weltherrschaft ohne Schwertstreich die Erfüllung fand: davon ward nie gesprochen. Allen üblen Instinkten, die ein Volk und ein Herrscher als Menschenerbteil bewahren könnten, wurde so hündisch wedelnd geschmeichelt, daß man bang fragen mußte, ob die Sitten der sinkenden Prunkherrlichkeit von Rom und Byzanz im deutschen Lande nicht schon überholt worden seien; und wer nach ernster Gewissensprüfung die Feierchöre mit warnendem Ruf unterbrach, der wurde als Störenfried und Skandalmacher von bezahlten Lümmeln mit tintiger Jauche bespritzt. Nur lauter noch ertönte nach solcher Unterbrechung der Jubelchor, nur noch toller wurde der Taumelrausch, als gälte es, die Warner zu überheulen und den nagenden Wurm geschwind zu ertränken. Jetzt hat jäh ein gellender Ton die Tafelnden aufgeschreckt; ein Feuerzeichen ist aufgestiegen, das heller ist als alle Wunder der illuminierten Politik … Und jetzt müssen alle, denen die Zukunft des Reiches am Herzen liegt, dafür sorgen, daß es feiger Niedertracht und bequemer Erbärmlichkeit nicht wieder gelingt, den Weckruf unwirksam zu machen.

Bei einem Festmahl (es ist charakteristisch, daß fast alle wichtigen Wendungen der neudeutschen Politik sich zuerst an festlichen Tafeln ankünden), bei einem Festmahl, das die deutsche Kolonie in Moskau den zur Zarenkrönung versammelten deutschen Fürsten anbot, hat Herr Camesa-Sasca, der aus Hessen gebürtige Präsident des Hilfsvereins, die Bundesfürsten das »Gefolge« des Prinzen Heinrich von Preußen genannt, dem sein Trinkspruch galt. Bisher galt die Sitte, daß der Text der Reden, die an Fürsten gerichtet werden, vorher dem höchsten Vertreter der Regierung, im Ausland also dem Botschafter oder Gesandten, vorgelegt wird; nur so ist Irrtum, Taktlosigkeit und Ärgernis zu vermeiden. In Moskau war es nicht geschehen. Herr Camesa-Sasca sprach zweimal; und erst als sich von den Berufensten keiner zu einem höflichen, aber entschiedenen Protest gegen das schlimme Wort bereit gefunden hatte, erhob sich der Vertreter des zweitgrößten deutschen Bundesstaates, Prinz Ludwig von Bayern, und wies die entwürdigende Bezeichnung fest und nachdrücklich zurück. Prinz Ludwig ist kein hitziger Jüngling; er ist ein gesetzter, schon alternder Mann und wird nach menschlicher Voraussicht in ein paar Jahren die Wittelsbacher Krone tragen. Es ist nicht anzunehmen, daß ihn, mochte auch der Streit um die Rangordnung ihn verstimmt haben, der vor der Reise nach Moskau ausbrach und durch einen Machtspruch entschieden wurde, ein unbedachtes Wort zu einer so auffälligen Kundgebung veranlaßt hätte; er fühlte wohl (und fühlte ganz richtig), daß dieses Wort einer allmählich eingewurzelten Anschauung entsprach, und; er hätte seine Pflicht als Vertreter eines souverainen Fürsten verletzt, wenn er den Ausdruck dieser Anschauung schweigend hingenommen hätte. Man hat gewispert, der Prinz hätte sich in einem fremden Lande mäßigen müssen; aber wirkt eine Verkürzung der Ehrenrechte etwa weniger empfindlich, wenn sie uns in der Fremde trifft? Und sind deutsche Fürsten, sind reife, im Frieden und Krieg als Führer bewährte Männer gezwungen, sich im Ausland als das Gefolge eines jungen Preußenprinzen begrüßen zu lassen, dem das Schicksal die Gelegenheit zu bedeutenden Taten noch nicht gegönnt hat? Sollen sie jede Ungebühr, der die Nächsten nicht wehren, schweigend tragen, nur um nicht irgendwo anzustoßen? Der traurige Zwischenfall wäre bei größerer Geschicklichkeit des Prinzen oder des Botschafters vielleicht vermieden worden; aber es ist kein Unglück, daß er nun ins hellste Licht gerückt worden ist. Wir haben genug Leisetreter und Tuschler im Lande und können uns freuen, daß endlich einmal ein Mann, den keine ungnädige Regung zerschmettern kann, inmitten der ehrsamen Wedlerzunft mit starker Hand auf den Tisch geschlagen hat, daß ringsum die zierlichen Kelchgläser klirrten. Flink sprangen gleich die Schranzen herbei, wischten und zischten geschäftig und wollten die Zuschauer überreden, eigentlich sei gar nichts geschehen: ein Mißverständnis, eine üble Laune, ein hastig hervorsprudelndes Wort; sonst sei alles in schönster Ordnung. Aber der Eindruck ist nicht mehr zu überpflastern; mag man die Spur noch so behend verkleben, mag der leise Zwist, der zwischen den drei Generationen des Hauses Wittelsbach das Erdreich zerwühlt, da oder dort ein paar Sandschollen aufwerfen, die den Riß im Boden verbergen: die Erinnerung an das Sturmsignal ist nicht wieder aus dem Gedächtnis zu reißen. Auch die schönen Worte, die um die Kyffhäusertage erklangen, können sie nicht übertönen; sie wecken ihr in Sage und Geschichte nur alte Gefährten und mahnen laut an den ewig währenden Wechsel der Zeit. Als der Rotbart am 18. Juli 1155 von dem Papst Hadrian die Kaiserkrone empfangen hatte und hoch über der brausenden Etsch auf gefährlicher Heerstraße ins deutsche Heimatland zurückkehrte, da rettete ihm und seinem Mannengefolge, denen die Veronesen tückisch den Weg abschneiden wollten, der Wagemut Ottos von Wittelsbach Leben und Macht. Jetzt, kurz vor dem Barbarossatage, hat ein Sproß des Wittelsbacherstammes sich mit stolzem, weithin sichtbarem Ruck in die eigene Krone gereckt. Die Staufer sind längst bestattet; der späte Enkel Ottos aber fürchtet (und mit ihm fürchtets im deutschen Süden die überwiegende Menge des Volkes), der Hohenzollernkaiser, der vor einem Vierteljahrhundert freiwillig gekürte, könne mit herrischem Griff das Staufererbe umklammern.

Darin liegt die Bedeutung des Moskauer Vorganges, der nur ein Symptom einer mählich entstandenen Stimmung ist. Es ist gleichgültig, wann der Zufall dieses Symptom an die Oberfläche trieb, und es ziemt uns im Norden Wohnenden, aus deren Land manches rasche Wort über den Main drang, nicht, den bayerischen Prinzen mit Vorwurf und Schimpf bellend anzufallen, wie es leider schon geschehen ist. Er hat als ein guter deutscher Mann von erprobter Reichstreue gesprochen, nicht als ein selbstsüchtiger Partikularist von weißblauer Färbung, sondern als ein selbstbewußter, aber dem Reichsgedanken ergebener Fürst, der gewöhnt ist, Rechte und Pflichten gewissenhaft abzuwägen; und in seiner Rede kann auch der Argwohn kein Wort entdecken, das fremden Lauschern um jeden Preis verborgen bleiben müßte. Er mag an den alten Ludwig den Bayer gedacht haben, der einst auf dem Stuhl der Deutschen Kaiser saß und mit offenem Wort zunächst den Frieden und, als der ihm geweigert wurde, den Kampf mit dem Papsttum suchte und dessen Charakterbild erst später durch häßliche Heuchlerzüge beeinträchtigt wurde. Schätzt man im Lande Siegfrieds, Luthers und Bismarcks etwa nur zum Schein die Germanengeradheit, da man doch an jeder kraftvollen Männerregung ein Ärgernis nimmt? Und hofft man, nach schlechter Pfuschärzte Art, mit der Beseitigung des sichtbaren Symptoms auch die erkrankte Wurzel des Organismus geheilt zu haben? Wenn Prinz Ludwig in zager Rücksicht geschwiegen hätte, wäre dennoch alles genau so, wie es jetzt ist; es wäre sogar noch schlimmer, denn das gefährliche Übel bliebe dem flüchtig nur die Außenseite der Dinge betrachtenden Blick verborgen. Nicht eine Laune, nicht die Ungeschicklichkeit eines tüchtigen, aber in seinem Urteil verwirrten Mannes hat dem Prinzen der Mund geöffnet: eine lange angesammelte Stimmung brach bei der rauhen Berührung einer plumpen Hand gewaltsam hervor und weckte auch da, wo man es offen nicht eingestehen mag, froh jubelnden Widerhall. Das nur ist wichtig; wir brauchen uns bei den Beschwichtigungsversuchen, die sicher mit verstärktem Eifer noch eine Weile fortgesetzt werden, nicht lange aufzuhalten und können der Hauptfrage die Antwort suchen: Ist die Stimmung, die im ganzen Süden und auch in manchem nördlicher gelegenen Bundesstaate jetzt die Herzen und Hirne gewonnen hat und der Ludwig der Bayer die Zunge löste, berechtigt oder entspringt sie, wie beflissene Dienstboten versichern, einem täuschenden Wahn?

Insgeheim zaudert niemand vor der Wahl der Antwort; in der Öffentlichkeit aber herrscht tyrannisch die Heuchelei und lähmt das Bewußtsein, daß uns alberne Lügen nicht vorwärts helfen. Als Bismarck noch mächtig war, trat er überall auf morastigen Boden und es war nicht seine Schuld, daß er auf seinem schweren Wege mitunter bis an die Knöchel in schlimme Sumpflöcher sank. Jetzt hat der Kaiser mit demselben Eunuchenunfug zu kämpfen, der den Erfahreneren allzu oft in die Irre lockte. Wenn Wilhelm der Zweite, dem, wie vor ihm keinem modernen Monarchen, winselnd geschmeichelt wird, die Menschen verachten lernt, dürfen wir uns nicht wundern, nicht den Kaiser anklagen; er braucht Männer, die ihm wunschlos Wahrheit geben, Männer mit selbstgedachten Gedanken und eigenem innerem Wert, den keine höfische Würde erhöhen kann: und er findet Lakaien, die ihm gezuckerte Schlummertränke kredenzen und deren lechzender Blick seine Herrschergröße brünstig anzubeten scheint.

Die Geburt des Reiches war ohne den Kaiserschnitt nicht möglich, der dem Kind ans belebende Licht half. Aber die Operation war nur mit äußerster Vorsicht zu wagen; sie forderte eine leichte Hand, geduldig wägende Ruhe und ein sicheres Augenmaß. Der hitzige Wunsch des Kronprinzen, der die Geburt mit Zangen erzwingen wollte, hätte die Wundöffnung vielleicht unheilbar geweitet und einen unreifen Foetus hervorgebracht. Daß die gefahrvolle Sectio Caesarea so glücklich gelang, war das Verdienst Bismarcks und seines alten Herrn. Die beiden Männer hatten noch Preußens schwarze Tage gesehen, sie kannten die Gegensätze der Stämme, die in den Landsmannschaften der Hochschulen fortlebten, und wußten, welches Opfer dem Selbstgefühl der Fürsten zugemutet wurde, die wichtige Teile ihrer ererbten Rechte dem Vertreter eines aus unscheinbaren Anfängen erwachsenen Geschlechtes ausliefern sollten. Bismarck, dem selbst sein Gegner Prokesch das Zeugnis gibt, daß er »für den Umguß Deutschlands in die neue Form« der providentielle Mann war, vermochte, als es nötig ward, den Preußen in sich zurückzudrängen, und verstand, ohne in der Sache auch nur um Haaresbreite von seinem Anspruch zu weichen, doch jede gerechte Empfindlichkeit sorgsam und scheu zu schonen; der Recke, der mit den Hünenschultern den alten Bund gesprengt und erbarmungslos Throne umgestürzt hatte, streichelte jetzt mit feinen Diplomatenfingern beinah zärtlich die Falten und Furchen hinweg, die sein von der historischen Notwendigkeit geforderter Plan auf Monarchenstirnen gezogen hatte. Und der alte König nahm in seiner tiefen und schlichten Bescheidenheit die neue Würde als ein wider Wunsch und Willen ihm anvertrautes Pfand hin, das er ängstlich bis zu dem Tage bewahren müsse, wo es ihm wieder abverlangt werden könnte; so peinlich hütete er sich selbst vor dem Schein einer Überhebung, daß er bei der Krönung im Versailler Spiegelsaal nicht um eine einzige Stufe höher als die anderen Bundesfürsten stehen wollte. Beide Männer wußten sich weislich mit dem im Augenblick Erreichbaren zu bescheiden; und wenn das Werk, das ihnen gelang, auch, wie alle menschlichen Dinge, unvollkommen war und manche Anfechtung erfuhr, so sieht man doch gerade heute, daß Umfang und Grenzen der Macht, die zwischen Kaiser und Fürsten gerecht verteilt werden sollte, aus sicherer Erkenntnis der wirklichen Verhältnisse richtig berechnet waren. Die Verfassung des Deutschen Reiches, die Lagarde allzu republikanisch fand und die den roten Radikalen allzu aristokratisch schien, kann die schwerste Belastungsprobe bestehen: sie würde dann sogar die Ruhe und das Gleichgewicht des Reiches verbürgen, wenn das Verhängnis einem schlechten Kaiser die Zollernkrone aufs Haupt setzen sollte.

Deutschen Lesern braucht nicht gesagt zu werden, daß diese Verfassung in keinem Punkt offen verletzt worden ist. Dennoch muß jeder, wenn er nicht absichtlich die Augen schließt, klar erkennen, daß in den Machtverhältnissen sich manches verändert hat; nicht zu gunsten der Fürsten, die mit dem König von Preußen unter dem von der Sage geheiligten Kaiserzeichen nach freier Wahl einen ewigen Bund begründeten. Der Kaisergedanke war damals mehr als ein die Wölbung krönendes Ornament gedacht worden, als ein legendären Wünschen gewährtes Zugeständnis. Nur der gekürte Kaiser könne Deutschland, die verlassene Braut, heimführen, hatte man schon während der Korsenkriege gesungen und Welcker, Görres und ihre hoch gestimmten Genossen hatten von einem Kaiser die Heilung aller Gebresten des Vaterlandes erhofft. Diese nie ganz erloschene Sehnsucht leistete bei der Geburt des Reiches wichtige Hebammendienste; doch war es eine schweigend getroffene Vereinbarung, daß der Kaisergedanke nur für besonders festliche Gelegenheiten aufgespart werden sollte. An diese Vorstellung waren die Bundesfürsten gewöhnt (man darf vielleicht sagen: Sie waren durch die freiwillige Zurückhaltung des alten Kaisers verwöhnt) und ein unbehagliches Gefühl mußte sich einstellen, sobald es anders wurde. Es wurde anders. Der Enkel des ersten Kaisers bestieg als ein reicher Erbe den fest gegründeten Thron; er hatte in den Tagen strahlenden Glanzes, in der hellen Jugendzeit des Reiches, die Prägung empfangen und kein Erinnerungsschatten verdüsterte seine in Kraftgefühlen schwärmende Seele. Er nahm nicht nur seine Pflichten, sondern namentlich auch seine Rechte ernst; und daß er ausnahmslos, alles ernst nahm, was mehr ornamental gedacht war und nicht für den täglichen Gebrauch: das gerade hat die Schwierigkeit der Lage geschaffen. Wenn wir umherhorchen: nur von dem Kaiser wird überall gesprochen; nur den kaiserlichen Vogel erblicken wir, wie in Dantes Traum von der Universalmonarchie, an jeder Lichtung des Weges hoch in den Lüften; und alle politischen Erörterungen, auch die nüchternsten, müssen bald stets in die enge Gasse einmünden, deren Ausgang das ragende Kaiserschloß krönt. Das hat das Interesse und die Arbeit an der Politik erschwert, weil es auf Schritt und Tritt zu Prüfungen und Urteilen zwang, die manchem monarchischen Gemüt lästig und unheimlich sind. Das hat auch bei den Fürsten eine trübsinnige Stimmung bewirkt, die sich schon früher nicht selten recht bitter aussprach. Diese Männer, deren Geschlechter manchmal tiefer in der Geschichte wurzeln als die Hohenzollern, sehen sich nun von der leuchtenden Kaiserglorie völlig verdunkelt. Niemand spricht von ihnen, niemand traut ihnen auf die Geschicke des Landes, dem sie doch gemeinsam die Einheit schufen, entscheidenden oder auch nur mitbestimmenden Einfluß zu; sie scheinen nur noch vorhanden zu sein, um bei festlichen Anlässen sich um den Thron des Einen zu scharen, der mit seinen Worten und Willensregungen die Welt erfüllt, und sie merken, wie das Ausland mehr und mehr dahin kommt, das Deutsche Reich für einen selbstherrlich und höchst persönlich regierten Zentralstaat zu halten. Mit den Äußerlichkeiten würden sie sich allenfalls noch abfinden und es gern tragen, daß sie an nationalen Feiertagen stumm den Hintergrund füllen und bei Kanalfahrten der stolzen Bahn des Kaiserschiffes folgen müssen. Aber sie müssen auch sehen, wie unermüdlich der pietätvolle Sinn des Erben alles daran setzt, seinem Hause, dem Hause der Hohenzollern, mit rascher Hand die Schätze des geschichtlichen Ruhmes zu häufen, und die bange Frage kann ihnen entstehen, was in einem Lande, wo fast alle Fürstengeschlechter miteinander einmal in Fehde lagen, wohl werden solle, wenn jeder von ihnen mit ähnlichem Eifer auf die Verherrlichung seines Hauses bedacht sein wollte. Sie müssen erleben, wie ihre Erwägungen oft durch jähe, die Entscheidung vorwegnehmende Entschlüsse gehemmt und unwirksam gemacht werden, und sie bedenken dann wohl, wie sie vor dem fragenden Auge ihrer Völker bestehen sollen, wenn ein solcher Entschluß eines Tages zu unheilvollen Verwickelungen führt. Die Fürsten empfinden sehr deutlich, daß sie in der Anschauung der Masse nur noch das Gefolge eines Allmächtigen sind, und sie zittern vielleicht vor der Stunde, wo man von ihnen, den angestammten Herrschern, Rechenschaft für Taten verlangt, an deren Planen sie gar nicht mitgewirkt haben. Das deutsche Volk und sein Kaiser sollten dem Bayernprinzen aufrichtig dankbar sein; der Enkel Ottos von Wittelsbach hat für den Hohenzollernkaiser kaum weniger getan als einst der ferne Ahn für den blonden Staufer: er hat ihn auf gefährlicher Straße vor wilden Wassern und tückischen Feinden bewahrt.

Wenn der Sagenkaiser am Unterharz jetzt den Rotbart schüttelt und nach draußen lauscht, um zu erkunden, ob die Rabenschar noch den Bergfrieden umflattert oder ob für sein deutsches Land endlich das Goldene Zeitalter tagt, wird er ein schrilles Krächzen hören, das vom Morgen zum Abend und vom Norden zum Süden durch die heimischen Lüfte tönt. Der spukfreie Deutsche aber, der sich von dem hohlen Pathos lärmender Rabenprologe das Hirn nicht umnebeln läßt, wird von Barbarossas verschlissenem Purpurmantel den Blick abwenden, von dem Plunderkram einer toten Vergangenheit sich herzhaft lösen und des alten Kaisers im neuen Reich gedenken, der nicht, wie weiland der Staufer Friedrich, die Fürsten beugen und benutzen, sondern, mit den Fürsten vereint, als Erster unter Gleichen in stiller Arbeit für die Wohlfahrt des Volkes schaffen und wirken wollte.


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