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Topika

Im Juni 1900: Annahme eines neuen Flottengesetzes. Aufruhr der fremdfeindlichen »Boxer« in China.

Seit am achtzehnten Oktober 1899 der Kaiser im Hamburger Rathaus gesagt hatte, das Deutsche Reich brauche mehr Schlachtschiffe, konnte kein Verständiger, den politischen Zuständen seiner Heimat nicht völlig Entfremdeter zweifeln, daß der Reichstag die geforderten Schiffe bewilligen werde. Das war sicher; nicht etwa, weil im Volk, in den stummen Millionen, die auf dem Acker und in der Werkstatt die deutsche Zukunft bestellen, plötzlich das heiße Sehnen nach einer imperialistischen Expansion ins Weltenweite erwacht war, sondern, weil die Großindustrie und das sie beherrschende Kapital die Staatsaufträge brauchten, die der Bau einer Flotte nötig macht. Kluge Industriepolitiker wußten schon damals, daß die auf ihrem Gebiet wichtigsten Marktwerte viel zu hoch notiert waren, sie rechneten mit dem ungeheuren und ungeheuer schnellen Wachstum der amerikanischen Konkurrenz und sahen das Ende des Profitsommers nahen. Was sollte ohne den Flottenbau aus ihren Hoffnungen werden? Statt der Kachexie, die jetzt die Kunden vom Markt schreckt, hätten wir einen die Wurzel des Wohlstandes lockernden Krach erlebt, wenn Westfalen und Schlesien nicht für Jahre hinaus vom Staat mit einträglicher Arbeit versorgt wären. Und da die Industriegruppe heute politisch stärker ist als irgend eine andere, konnte selbst eine ungewöhnlich törichte Agitation ihr nicht der Mühe Preis rauben. Welche Partei sollte ihr ernsten Widerstand leisten? Das Zentrum, das in den Industriebezirken des Rheinlandes, Westfalens und Schlesiens seine Stammsitze hat? Oder die arg verrufenen Agrarier? Nur zwei waren tapfer genug, das Flottengesetz abzulehnen. Die übrigen haben, mit einem heimlichen Fluch über ihr schlimmes Geschick, für die »gräßliche Flotte« gestimmt und damit das Recht zur Klage über die Folgen ihres Tuns verwirkt. Das alles war vorauszusehen; man brauchte nur den ideologischen Überbau abzutragen, brauchte nur das Gewicht der wirtschaftlichen Interessen zu wägen. Im Zeitungsstil spricht man nach solchen Vorgängen von einem erhebenden Schauspiel nationaler Opferwilligkeit. Inzwischen hatte Frankreich, um mit seiner Seerüstung nicht hinter der deutschen zurückzubleiben, ohne Sang und Klang eine halbe Milliarde für neue Schiffe bewilligt; und England wird im nächsten Jahrzehnt seinen Werften mehr zu tun geben als jemals zuvor. Deutschland aber hat, nach einem Wort, das der Kaiser in Lübeck sprach, »Aussicht, einmal eine Flotte zu bekommen«. Das jetzt Erreichte war also nur ein bescheidener Anfang. Hoffentlich hat man nun eingesehen, daß die »Ordnungsparteien« stets bereit sind, ihren Mandanten riesige Staatsaufträge zu sichern, und spart künftig den großen Aufwand, die Reden, Flugschriften und Lichtbilder. Es geht wirklich auch so. Marinefragen sind Industriefragen. Und selbst der wildeste Fortschrittsmann wird sich hüten, dem Kapital in schwerer Zeit das Geschäft zu verderben.

Ob es im deutschen Vaterland Bürger gibt, die heute noch glauben, ein neuer, herrlicher Morgen sei angebrochen, heute noch, trotzdem das Kraftverhältnis der Großmächte durch die Flottenvermehrung nicht im geringsten verändert wird, von den Schlachtschiffen ihres Kaisers Wunder erwarten? Das wäre möglich; denn die sehr einfache Angelegenheit ist ins Reich der Mystik entrückt worden. Das gute Geschäft der letzten Jahre hat die Geister verwirrt. Ein Nüchterner würde sagen: Wir haben unsere Industrie künstlich großgepäppelt, sind jetzt auf den Massenexport angewiesen und brauchen für die dazu nötige imperialistische Politik Schutzschiffe und überseeische Stützpunkte. So hört man's auch oft im Privatgespräch; öffentlich aber klingt es aus einer anderen Tonart. Da müssen wir zivilisieren, Christentum und Gesittung in die Welt hinaustragen, einer gewaltigen Vitalität die entsprechende Seegeltung schaffen und die übers Meer verschlagenen Deutschen vor Fährlichkeit schirmen. Es ist die Weise, die schon Carlyle und Ruskin so unerfreulich ins horchende Ohr klang. Überhaupt handelt es sich bei der ganzen Geschichte ja nur um den etwas spät unternommenen Versuch, den englischen Imperialismus in unser geliebtes Deutsch zu übersetzen. Warum auch nicht? fragen die Lüsternen; wir müssen eben zur See so stark werden, daß wir England aus dem Rang der ersten Welthandelsmacht verdrängen können. Ein allerliebster Gedanke. England hat seinen alten Reichtum, seine blühenden Kolonien und eine Kapitalisten-Reserve, die in Notfällen niemals versagt. Und außer England gibt es noch Rußland mit seiner Fülle ungehobener Bodenschätze und seinen billigen Arbeitern und Nordamerika, das für die Kohle, das Getreide der Industriestaaten, ein Drittel des in Deutschland verlangten Preises bezahlt. Es ist immer schwer, dem Ursprung der Vorstellungen nachzuspüren, und eine transzendentale Topik nach kantischem Muster würde den Modernen recht rückständig scheinen. Soll es aber unmöglich sein, das Ziel zu erkennen, das den vom Zwang der Vorstellung Beherrschten vorschwebt? Die loci communes, auf denen die Wünsche wachsen, können dem suchenden Blick doch nicht entgehen. Was also soll die Weltwende bescheren, die uns verkündet ward? Welche Wunder bringt der neue Morgen auf goldenem Sonnenwagen aus der Meerestiefe herauf?

In einem der vielen Telegramme, die er in seiner Freude über die Annahme des Flottengesetzes abschickte, hat der Kaiser das Ziel seiner Sehnsucht bezeichnet. Er sagte, besonders dankbar sei er dafür, daß sein »Streben zum Besten des Vaterlandes anerkannt werde«, und fügte hinzu: »Nun aber unermüdlich weiter, daß die begonnene Arbeit bald vollendet wird; dann wollen wir auf dem Wasser Frieden gebieten.« Diese Worte gestatten nur eine Deutung: der Kaiser will, als höchster Vertreter des Reiches, der arbiter mundi sein, wie es in stillerer Zeit Bonaparte, ein Weilchen auch der russische Nikolaus war. Er wünscht sich eine Macht, die ihm gestattet, gegen jedes Abenteurergelüsten den Frieden zu wahren. Dazu scheint noch nicht die Seemacht, doch schon die deutsche Landmacht ihm ausreichend. Das ist ein Irrtum. Nicht das Verdienst eines friedfertigen Kaisers oder eines märchenhaften Michael, der im goldenen Küraß irgend einen Fabeltempel bewacht, ist es, daß in Europa seit Jahrzehnten kein großer Krieg geführt worden ist. Das einzige Land, das ein Interesse daran hatte, einen solchen Krieg zu führen, war und ist nicht stark genug, um ihn allein wagen zu dürfen, und hat bis heute noch keinen sicheren Bundesgenossen gefunden. Die anderen Mächte haben in Europa nichts mehr zu begehren und wären sehr unklug, wenn sie auf ihre Kunden und Kapitallieferanten schießen wollten. Nur den gefährlichen Konkurrenten möchten sie schwächen; diese Wirkung erreichen sie aber nur, wenn sie ihm einen beträchtlichen Teil seines Vermögens zusammenschießen: denn Menschen sind billig und leicht zu ersetzen. Die Schlachten der Zukunft werden mit dem Arsenal der kapitalistischen Zeit entnommenen Waffen geschlagen werden. Weh dem, der in edlem Drang als oberster Schiedsrichter solche Kriege verhindern wollte! Gegen ihn würden sich morgen die Feinde von gestern verbünden. Der sehnsüchtige Ruf Wilhelms des Zweiten weckt in Deutschland kein Echo. Die Masse wünscht, ruhig zu leben und den Welthändeln fern zu bleiben; jede Mehrung und Vergrößerung der Reibungsflächen beängstigt sie. Und von den Industriekapitänen sagt mancher: Nur ein Krieg kann uns helfen; wir haben uns zu hoch gebläht und werden bald vom Greater Britain und von den Vereinigten Staaten, vielleicht auch von Rußland wirtschaftlich bedrängt werden; im nächsten Frühjahr wird amerikanisches Eisen auf den deutschen Markt kommen, sobald die Russen Geld und geschulte Arbeiter haben, können sie unseren Gruben und Hütten furchtbare Konkurrenz machen; als Militärmacht sind wir noch jeder anderen überlegen: schlagen wir also los, ehe kostbare Zeit verstreicht und ehe die fortschreitende Industrialisierung uns um diesen sichersten Trumpf bringt. Früher rekrutierten die Kriegsparteien sich aus der Kamarilla und der Heerführerschar; jetzt liefern kühne Kapitalisten den Nachwuchs. Das lehrt die Erfahrung. Die meisten Britenkriege sind in der Londoner City ersehnt, ersonnen und vorbereitet worden.

Noch ist das Ziel nicht erkennbar. Der Kaiser möchte der stärkste Machtfaktor werden und der Welt mit gepanzerter Faust den Frieden gebieten. Die Mehrheit der Deutschen möchte in der Heimat reichlichen Gewinn finden und alle überflüssigen Händel meiden; sie würde sich gegen ein Weltarbitrium heftig wehren. Und kleine, aber mächtige Gruppen ersehnen den Krieg.

Die missionarische Meinung lautet: Nur eine Weltmacht, die über eine starke Flotte gebietet, kann die Christenpflicht erfüllen, der Heidenheit das Evangelium zu bringen. In den Thesen des Evangelisch-Sozialen Kongresses wurde neulich gesagt, Deutschlands Aufgabe sei, »an der Zivilisierung und Nutzbarmachung unentwickelter Länder mitzuwirken«. Dann hieß es weiter: »Die Erreichung dieses Zieles stellt an die geistige und sittliche Energie unseres Volkes Anforderungen, die nur von einer entschieden christlichen Gesinnung erreichbar sind.« Unnötig, daran zu erinnern, daß Männer, die vom Christentum nichts wußten und wissen wollten, oft das höchste Menschenmaß geistiger und sittlicher Energie erreicht haben. Wichtig ist hier nur die Andeutung eines Zieles. Das Deutsche Reich soll das Evangelium verkünden und es soll zugleich Länder »zivilisieren und nutzbar machen«. Wenn die Völker, denen dieses Glück zugedacht ist, nun aber finden, sie seien schon zivilisiert und ihre Kraft brauche den Europäern nicht Nutzen zu bringen? Dann müssen sie doch wohl mit Kanonen- und Flintenkugeln gezwungen werden, an den Heiland zu glauben und sich zivilisieren zu lassen. Da sind vierhundert Millionen Chinesen. Sie haben eine uralte Kultur und einen im Heimatboden gewachsenen Glauben. Eines Tags wird ihnen von Europäern gesagt: Eure Kultur paßt uns nicht. Wir bringen euch eine andere. Und damit ihr sie lernet, nehmen wir euch zunächst einmal euer Land weg und drillen euch zu Arbeiten, deren Ertrag uns zufließen wird. Das tun wir, weil wir die Stärkeren sind und Kunden mit Kulturbedürfnissen brauchen; und außerdem sind wir Christen. Was wird die Folge sein? Die Chinesen werden aus langem Dämmern zum Bewußtsein ihrer Kraft erwachen und sich gegen die Eindringlinge wehren, mit der barbarischen Grausamkeit, nach der jeder Bedrückte als nach dem letzten Notwehrmittel greift, mit der entzügelten Rachewut, die Heinrich Kleist Germania von ihren Kindern heischen ließ. Kleinkalibrige Gewehre und Maximkanonen werden den Aufstand niederzwingen, einmal, zehnmal vielleicht; in einem zoologischen Krieg, der einer Rasse den Untergang droht, muß endlich aber die Übermacht der Massenzahl siegen … Sieht so der Weg aus, auf dem der Galiläer die Welt erobern wollte? Und ist es christlich, ist's menschlich, die Asiaten Räuber und Mordbrenner zu nennen, weil sie handeln, wie jedes starke Europäervolk in ähnlicher Lage gehandelt hat? Sie sollen eine Kultur lernen, die ihnen niedrig und unheilig scheint, sollen sich in Sitten und Bräuche schicken, die ihnen zuwider sind, die Propaganda eines ihnen verhaßten Glaubens dulden und fremden Eroberern hörig werden. Sie wollen ihr altes Leben, ihr Land und ihren Glauben behalten. In diesem Streit der Interessen wird der Stärkere, nicht der an die feinere Geistesmacht Glaubende, die Herrschaft erraffen. Im Deutschen Reich aber leben wunderliche Heilige, die wähnen, nur der fromme Christ könne solchen Kampf siegreich bestehen und jedes christliche Volk müsse, weil diese Aufgabe ihm von der Vorsehung bestimmt sei, sich so schnell wie möglich eine starke Schlachtflotte schaffen.

Ein mildernder Umstand ist, daß diese Heiligen von der Welt und deren Bewohnern nicht allzu viel wissen. Sie urteilen nach der weithin sichtbaren Grimasse. Der alte Paul Krüger, der immer ein Bibelwort auf der Zunge hat und den Heliographen Psalmenverse in belagerte Städte rufen läßt, war ihnen eine Apostelgestalt von höchstem sittlichem Adel und jeder Versuch, den holländischen Schlaukopf menschlich zu sehen, erhielt von ihnen das Brandmal, das dem Frevler am Heiligsten gebührt. Nun kommt es heraus, daß der Erhabene sich mit barem Gelde bestechen ließ. Von den Baronen Oppenheim, die in Transvaal eine Eisenbahn bauten, nahm er 100 000 Franken, seine liebe Frau erhielt 25 000, sein Schwiegersohn 10 000 Franken. Der ganze Volksrat wurde bestochen und zu dem baren Gelde kamen noch wertvolle Geschenke. Herr Dr. Leyds, der europäische Vertreter der Transvaal-Regierung, mußte unter seinem Eid zugeben, daß die Volksratsmitglieder »kleinere« Geschenke annehmen. Und für das Wohl dieser sauberen Gesellschaft haben Hunderttausende, haben Millionen deutscher Menschen Monate lang gezittert, diesen tugendsamen Musterpräsidenten, der die Interessen seines Stammes verschachert, haben sie als den reinsten Helden verehrt … Das Urteil über die britische Heuchelpolitik kann durch solche Enthüllungen nicht verändert werden und auf die Haltung der uns Regierenden fällt kein günstigeres Licht, wenn Herr Krüger als Wicht entlarvt wird. War es aber nötig, die Buren als die Blüte der Menschheit, die Engländer als das gemeinste Gewürm der bewohnten Erde zu schildern und Liebe und Haß eines ganzen kräftigen Volkes zwecklos und sinnlos zu vergeuden? Und soll dieselbe Torheit, dieselbe Entstellung sich in dem Urteil über den Chinesenaufstand noch einmal wiederholen? In allen Punkten brauchen wir ja auf dem Wege zur Welthandelsmacht dem britischen Muster nicht nachzustreben. Aufrichtigkeit ist eine herrliche Tugend. Und aufrichtig wäre es, gerade heraus zu sagen, daß wir die Chinesen weder hienieden beglücken, noch ihnen die ewige Seligkeit sichern wollen. Unsere Kapitalisten suchen einen neuen Massenmarkt und hoffen, der Boden des Riesenreiches, in dem die »Hände« noch spottbillig sind, werde ihnen Schätze spenden, mit denen sie die verdorrende Heimaterde düngen können. Solche Hoffnung schändet nicht und man braucht sie nicht scheu in des Busens Tiefe zu bergen. Aber wo ist das weithin leuchtende Kulturideal, dem hinter der Großen Mauer deutsche Menschen als Opfer fallen?


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